Risse in der Gesellschaft
Akihito geht, Naruhito kommt: Kann Japans neuer Kaiser die Nation einen?
Kaiser Akihito musste am Neujahrstag eine Extraschicht schieben. Traditionell wünschen der Tenno und seine Familie am 1. Januar vom Balkon des Palasts aus dem Volk alles Gute fürs neue Jahr. Dieses Jahr hatte das Hofamt fünf Wink-Sessions geplant, drei am Vormittag, zwei am Nachmittag. Doch es strömten 154 000 Menschen in den Palastgarten, mehr als je zuvor. Der Tenno musste am Nachmittag ein sechstes Mal auf den Balkon. Die Menschen waren gekommen, um ihn zu verabschieden, auch viele, die das Kaisertum kritisch sehen.
Am 30. April tritt mit Akihito erstmals seit 1817 ein Tenno zurück, ein Zeitalter geht zu Ende. Am 1. Mai besteigt sein Sohn Naruhito als 126. Kaiser den Thron. Damit endet die so genannte Heisei-Ära und es beginnt eine neue Epoche. Wie sie heißt, wird erst im April bekannt.
Der Generationenwechsel auf dem Thron geschieht angeblich nach Ritualen, die seit Urzeiten befolgt werden. Das stimmt zwar nicht, aber die Regierung hält diese Fiktion aufrecht. Einige Zeremonien wurden im 19. Jahrhundert erfunden – oder wiedererfunden. So das „Daijosai“, die „Vereinigung“ des neuen Kaisers mit der Sonnenkönigin Amaterasu. Dieses einst shintoistische Fruchtbarkeitsritual ist zwar fürs 4. Jahrhundert nachgewiesen, wurde dann aber vergessen, bis es zur Inthronisierung des Meiji-Kaisers 1868 reaktiviert wurde. Der frühere Financial Times-Korrespondent Patrick Smith hat das Daijosai einmal als Musterbeispiel dafür genannt, „wie ein moderner Staat die Vergangenheit manipuliert, um sich aus einer Tradition Macht und Autorität zu verschaffen“.
Ob Premier Abe sich mit der Manipulation von Traditionen mehr Autorität verschaffen kann, ist äußerst fraglich. In Japan diskutiert man nicht über das Kaiserhaus, in den Medien schon gar nicht. Doch privat bedeuten einem viele Japaner, sie sähen Akihito, diesen sanften Tenno, als sympathischen Gegenpol zu Abe. Von Naruhito erwarten sie, dass er die Rolle des Tenno ähnlich interpretieren werde.
Als Akihito 1989 den Thron bestieg, kostete das Daijosai 15 Millionen Euro. Prinz Akishino, Naruhitos jüngerer Bruder, der mit dessen Thronbesteigung automatisch zum Thronfolger wird, hat vorgeschlagen, die Zeremonie, für die eigens Hütten gebaut und ein spezieller Reis gezogen werden müssen, solle aus der Schatulle des Hofes bezahlt werden. Schließlich sei sie ein Shinto-Ritual, und die Verfassung schreibe die Trennung von Religion und Staat vor. Doch das Hofamt pfiff ihn zurück.
Eine Debatte hat auch das nicht ausgelöst. Viele Japaner schrecken davor zurück, kontroverse Meinungen zu äußern. Gleichwohl nahm man mit einem Schmunzeln zur Kenntnis, dass mit Akishino jemand es wagte, dem Hofamt zu widersprechen.
Meine älteren Nachbarinnen sind anderer Meinung. Sie fanden Akishino vorlaut. Sie klatschen derzeit über den Verlobten seiner Tochter, Prinzessin Mako. Das scheint erlaubt. Der junge Mann hat beim Ex-Freund seiner Mutter rund 35 000 Euro Schulden. Die Wochenblätter walzen diesen Streit mit Vergnügen aus. Meine Nachbarinnen finden, die Harmonie sei damit zu sehr gestört, die Verlobung müsse aufgelöst werden. Den jüngeren Japanern dagegen ist das egal, wie das Kaiserhaus überhaupt.
Statt die Nation zu einen, wird Naruhitos Thronbesteigung Risse in der Gesellschaft sichtbar machen, die man sonst ignoriert. Der Tenno ist nach der Verfassung das „Symbol des Staates und der Einheit des Volkes“. Ein Gott ist er seit 1945 nicht mehr, nicht einmal Staatsoberhaupt. Akihito hat diese abstrakt definierte Rolle mit Bescheidenheit, Wärme und Nähe zum Volk ausgefüllt. Er hat sich für die Versöhnung mit den Nachbarländern eingesetzt – soweit das Hofamt dies zuließ.
Die Nationalisten, zu denen Abe und viele Minister gehören, haben diesen Tenno nie gemocht, auch wenn sie das nicht sagen. Auf dem Thron wünschen sie sich einen Tenno mit Macht, keinen sanften Pazifisten.
Akihitos Vater Hirohito war als Staatsoberhaupt und Befehlshaber der Armee für die Aggressionen im Zweiten Weltkrieg mitverantwortlich. Nach dem Krieg hätte sich deshalb eine Mehrheit für die Abschaffung der Monarchie gefunden, wie sich ältere Japaner erinnern. Hirohito, der bis zu seinem Tod 1989 Tenno blieb, war für sie ein Anachronismus. Akihito dagegen hat das Kaisertum wieder populärer gemacht. Paradoxerweise hadern deshalb ausgerechnet jene, die unbedingt am Kaisertum festhalten wollen, mit dem abtretenden Tenno – und auch bereits mit seinem Sohn. Derweil mögen liberale Japaner Akihito, obwohl sie dem Kaisertum als Institution eigentlich kritisch gegenüberstehen.
Derzeit schreibt man auf amtlichen Formularen in Japan nicht 2019, sondern Heisei-31. „Nengo“ nennt man diese an die Regierungszeiten der Kaiser gebundene Zeitrechnung. Als Ausländer muss man da jedesmal umrechnen. 2019 wird also ein Jahr mit zwei Nengo-Namen – Heisei-31 dauert nur vier Monate, und am 1. Mai beginnt die neue Ära, deren erstes Jahr nur acht Monate haben wird. Das lässt sich nicht ändern, heißt es. Aber auch das ist eine erfundene Tradition.
Christoph Neidhart ist Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Tokio.
Internationale Politik 2, März-April 2019, S. 130-131