IP

28. Febr. 2011

Der schiitische Halbmond wird rund

Und der Westen verliert seine ehemaligen Verbündeten

Endlich findet Geschichte statt im Nahen Osten. Aber wer könnte zu den Gewinnern der Umbrüche in der arabischen Welt zählen? Die USA und ihre Verbündeten wohl nicht, denn gleich, welche Regierung in Ägypten an die Macht kommt: Das feste Bündnis mit dem Westen wird bröckeln. Die Gewichte verschieben sich in Richtung Teheran.

„Seit mehr als hundert Jahren hat im arabischen Nahen Osten keine Geschichte mehr stattgefunden“, behauptete noch vor kurzem Thomas Friedman, einer der wichtigsten politischen Kommentatoren der USA. Bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts wurde Arabien von feudalen Strukturen beherrscht, die jede gedankliche Neuerung im Keim erstickten. Spätestens seit den Revolutionen in Tunesien und Ägypten scheint dieses Manko behoben. Im Nahen Osten fand Anfang 2011 reichlich Geschichte statt. Noch ist unklar, ob die Selbstverbrennung, mit der ein 26 Jahre alter tunesischer Gemüsehändler die Revolte auslöste, zu einem allumfassenden Flächenbrand wird und wie tiefgreifend die Umwälzungen sein werden. Ebenso unsicher bleibt deswegen auch, wer aus dem Jahr 2011 als Gewinner hervorgehen wird. Mittelfristig jedoch stehen bereits ein paar Verlierer fest: die Supermacht USA und ihre Verbündeten im Westen und im Nahen Osten.

Es war Jordaniens König Abdullah II., der 2004 die These eines „Hilal al Schi’i“, eines „schiitischen Halbmonds“, aufstellte, der sich vom Iran über den Irak bis in den Libanon erstrecke und potenziell bedrohlich für die arabischsunnitischen Staaten wäre. Der jordanische König spielte damit auf die Spaltung der islamischen Gemeinschaft in eine sunnitische Mehrheit und eine schiitische Minderheit (von etwa 15 Prozent) an, die bis in das 7. Jahrhundert zurückgeht. In der Schlacht von Kerbala im Jahr 680 wurde um die rechtmäßige Nachfolge des Propheten Mohammed gekämpft, über Jahrhunderte bezichtigten Sunniten und Schiiten einander der Häresie. Ihr Verhältnis zueinander ist mit den Beziehungen zwischen Katholiken und Protestanten während des Bismarckschen Kulturkampfs des späten 19. Jahrhunderts vergleichbar. Arabische Staaten sind mehrheitlich sunnitisch, beherbergen jedoch oft schiitische Minderheiten. Sunnitische Herrscher fürchten sie nicht nur wegen religiöser Unterschiede, sondern weil sie die Schiiten oft als „fünfte Kolonne“ im Dienst des Iran betrachten.

Der Iran, ein nichtarabischer Staat, ist das einzige mehrheitlich muslimische Land, das von Schiiten geführt wird. Und dessen Präsident Machmud Achmadinedschad macht aus seinen Ansprüchen auf regionale Hegemonie keinen Hehl. Trotz erheblicher sozialer Probleme im eigenen Land finanziert die Al-Quds-Brigade, eine für extraterritoriale Operationen etablierte Einheit der Revolutionsgarden „Pasdaran“, regimefeindliche Islamisten in der gesamten Region. Spätestens seit den Veröffentlichungen von Wikileaks wurde klar, dass die Furcht vor einem „Hilal al Schi’i“ und das ungerührt fortgesetzte iranische Atomprogramm das Weltbild der Regierenden im Nahen Osten beherrschen. Schon kurz nach der Machtübernahme Achmadinedschads im Jahr 2005 warnten Militärs der Vereinten Arabischen Emirate, dass der neue iranische Präsident „verrückt“ sei. Abu Dhabis Kronprinz, Scheich Mohammed Bin Zayed al Nayan, beschrieb einen baldigen konventionellen Krieg als „deutlich bessere Alternative im Vergleich zu den langfristigen Folgen eines atomar gerüsteten Iran“. Saudi-Arabiens König Abdullah forderte wiederholt, den Iran anzugreifen, um „den Kopf der Schlange abzuschlagen“.

Dieser Kampf der Titanen – die USA und ihre Verbündeten auf der einen Seite gegen den Iran und seine Anhänger auf der anderen – spiegelt sich in jedem lokalen Konflikt. Im Libanon, Irak, Jemen oder in Palästina werden die Kräfte, ob sunnitisch oder schiitisch, entlang einer Skala eingeordnet, deren Pole von Washington und Teheran gebildet werden. In Ramallah ringt die prowestliche Palästinensische Autonomiebehörde, getragen von Steuergeldern der EU und USA, gegen die radikal-islamische Hamas in Gaza, die sich nur dank Zuwendungen aus dem Iran halten kann; im Libanon kämpft das prowestliche Lager des 14. März Saad Hariris gegen das Lager des 8. März, das von der Hisbollah-Miliz geführt wird, dem verlängerten Arm der Pasdaran.

Nur eine Frage der Zeit: die Machtübernahme der Muslimbruderschaft

Ägypten spielt als bevölkerungsreichster arabischer Staat in diesem Zweikampf eine Schlüsselrolle. Es verfügt über die schlagkräftigste arabische Armee (und wird vorerst von ihr regiert), Kairo gilt als „Nabel der arabischen Nation“ und das Wort eines ägyptischen Staatsführers hat Gewicht. Auf Wunsch des Westens vermittelte Präsident Hosni Mubarak im ersten Golf-Krieg, im Libanon, im innerpalästinensischen oder im israelisch-palästinensischen Konflikt. Selbst wenn der Staatschef nicht aus Altruismus handelte, sondern um die Interessen Kairos angesichts der Bedrohung aus Teheran oder durch Islamisten vom Schlage Al Khaidas zu schützen, bröckelt dem Westen mit einer Schwächung Ägyptens eine tragende Säule weg.

Dafür müssen nicht einmal die Horrorszenarien eintreten, vor denen Israel unaufhörlich warnt. Jerusalems Sicht ist maßgeblich von Holocaust, neun Kriegen und zwei Intifadas geprägt. Für viele Israelis und ihre Regierungen sind die pessimistischsten Prognosen noch die realistischsten. Deshalb legte sich Ministerpräsident Benjamin Netanjahu als einer der wenigen westlichen Staatschefs noch zehn Tage nach dem Beginn der Unruhen in Kairo für Mubarak ins Zeug. Am 1. Februar formulierte er seine Bedenken in einer Ansprache vor der Knesset: „Die jüngste Geschichte zeigt uns viele Fälle im Nahen Osten, in denen islamistische Elemente die demokratischen Spielregeln missbrauchten, um an die Macht zu kommen“ – und nannte den Iran, Libanon und Gaza. Eine Machtübernahme der Muslimbruderschaft, so die Ansicht in Israel, sei lediglich eine Frage der Zeit; schließlich sei sie Ägyptens größte und disziplinierteste Oppositionsbewegung. Auch die Oktoberrevolution in Russland oder der Sturz des Schahs im Iran wären anfangs maßgeblich von pragmatischen, demokratischen Kräften getragen worden, nur um später von Extremisten gekapert zu werden.

Ägypten unter einer Regierung der Muslimbruderschaft würde für Israel zu einer existenziellen Bedrohung. Es sei eine „Pflicht, den bewaffneten Widerstand der Palästinenser mit allen Mitteln zu unterstützen“, heißt es in einem Kommuniqué der Islamisten vom März 2010. Israel und die USA würden ihren wichtigsten Verbündeten im Kampf gegen die Hamas verlieren, eine Tochterorganisation der Muslimbruderschaft. Die Hamas gewänne jäh strategische Tiefe, diplomatischen Rückhalt und gesicherte Nachschublinien. Mit dem ohnehin schon fast aussichtslosen Versuch, die pragmatische PLO wieder als wichtigste Fürsprecherin der Palästinenser hochzupäppeln und nach Gaza zurückzuführen, wäre es dann vollends vorbei. Und Ägypten, der erste Staat, der mit Israel einen Friedensvertrag schloss, würde für Israel wieder zum Feind: Teile der Muslimbruderschaft wollen den Vertrag mit Israel annullieren und würden Ägyptens Armee am liebsten wieder im Sinai aufmarschieren lassen. In diesem Fall wäre Israels Armee zum Umdenken gezwungen. Ein Drei-Fronten-Krieg gegen Syrien, einen Gegner im Osten und Ägypten galt bislang als unwahrscheinlich. Jetzt darf dieses Szenario nicht mehr ausgeschlossen werden. Für einen simultanen Kampf gegen Ägyptens Armee, der zehntgrößten der Welt, ist Israel aber nicht gerüstet. Investitionen, die bisher in Forschung und Infrastruktur flossen, müssten in Rüstung gesteckt werden, um mindestens zwei weitere Panzerdivisionen aufzubauen.

Ein Krieg zwischen Ägypten und dem nuklear gerüsteten Israel scheint vorerst jedoch undenkbar. Auch der offene Schulterschluss zwischen Kairo und der Hamas ist eher unwahrscheinlich. Bisher begnügen sich die Muslimbrüder damit, hinter den Kulissen zu agieren. Nach Jahrzehnten der Verfolgung setzt ihre Führung bescheidene Ziele, um niemanden zu provozieren. Und selbst wenn sie infolge eines Wahlsiegs selbstsicherer werden und mit größeren Forderungen auftreten sollte, bleibt die Armee vorerst die mächtigste Institution Ägyptens. Dank einer Militärhilfe von jährlich über 1,3 Milliarden Dollar und engen Kontakten zur Armee werden die USA in entscheidenden außenpolitischen Fragen wohl weiterhin mitreden können.

Sehr viel wahrscheinlicher, aber nicht minder problematisch, bleiben zwei andere Szenarien. Die Muslimbruderschaft wird, verdeckt oder offen, künftig Einfluss auf Ägyptens Politik ausüben. Die Türkei darf hier als Präzedenzfall gelten: Einst enger Bündnispartner Israels und der USA, gibt sie sich jetzt nicht nur eigenständiger, sondern auch eigensinniger. Die neo-osmanische Politik Tayyip Erdogans untergräbt Amerikas Versuche, Syrien und den Iran zu isolieren, und schwächt Bündnispartner in Palästina und im Libanon. Genau wie in Ankara würde die Muslimbruderschaft auch in Kairo die Macht der Militärs langfristig untergraben, um dadurch ihren wichtigsten innenpolitischen Gegner und den Garant westlichen Einflusses zu entmachten.

Auf der Suche nach dem Sündenbock

Selbst kleine Kursänderungen in Kairo hätten für die gesamte Region enorme Konsequenzen. Ägypten muss sich nicht mit dem Iran verbünden, um das Machtgleichgewicht in Nahost zu verändern. Es genügt, wenn es aufhört, sich in Washingtons Sinn zu engagieren. Einen Vorgeschmack gab es zu Beginn der Unruhen, als inhaftierte Aktivisten der Hamas und der Hisbollah aus ägyptischen Gefängnissen nach Gaza und in den Libanon flüchteten. Am 5. Februar griffen Terroristen die Gaspipeline im Sinai an und unterbrachen damit die Energieversorgung Jordaniens für eine Woche. In Amman, wo die Lage auch wegen stetig steigender Preise ohnehin angespannt ist, könnte eine Energiekrise weitere Unruhen entfachen.

Eine demokratisch gewählte Regierung in Ägypten müsste den Anliegen der Muslimbruderschaft und der Bevölkerung Rechnung tragen. Laut einer Umfrage des Pew Research Center vom Dezember 2010 sympathisieren rund 30 Prozent der Ägypter mit der Hisbollah und 49 Prozent mit der Hamas. Unter diesen Umständen würde sich eine neue Regierung wohl kaum bemühen, die Blockade Gazas aufrechtzuerhalten und den Schmuggel von Waffen zu unterbinden. Die ohnehin enge Zusammenarbeit zwischen den iranischen Pasdaran und den palästinensischen Qassam-Brigaden würde intensiviert. Kairo müsste keine Waffen an die Hamas liefern – es genügt, dass ägyptische Grenzpolizisten einfach wegsehen, wenn Mittelstrecken- oder Flugabwehrraketen nach Gaza gebracht werden. Das Machtgefüge in der Region würde sich weiter verschieben; Israel sähe sich dann zur Eskalation gezwungen.

Eine von der Muslimbruderschaft gestützte Regierung könnte (ganz im Gegensatz zur Regierung Mubaraks) von Spannungen um Gaza nur profitieren: Je erfolgreicher und herausfordernder die Hamas in Gaza, desto besser ist die Position ihrer ägyptischen Mutterorganisation. Diese „positive“ Rückkopplung ist auch für Propagandazwecke dienlich: Selbst eine völlig transparente demokratische Regierung kann die Forderungen der Demonstranten nach Arbeitsplätzen und sozialer Gerechtigkeit in nächster Zukunft kaum erfüllen. In dieser Situation bietet sich die Suche nach einem altbekannten Sündenbock immer an, um von den enormen Schwierigkeiten abzulenken und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Die ohnehin vorhandene feindselige und in Untertönen sogar antisemitische Rhetorik gegenüber Israel wird sich bedeutend verschärfen. Das wäre weder einem Friedensprozess noch dem pragmatischen Lager der Palästinenser dienlich.

USA: streng gegenüber Freunden, nachsichtig gegenüber Feinden

Weit problematischer ist, wie sich das Verhalten der amerikanischen Regierung während der Unruhen auswirken könnte. Zwar weisen Washington und seine europäischen Verbündeten den Vorwurf weit von sich, Mubarak im Stich gelassen zu haben. Trotzdem verblüffte es die Regierungen in Nahost, wie schnell sich Präsident Barack Obama von einem seiner zuverlässigsten Verbündeten distanzierte: In einer Fernsehansprache am 2. Februar hatte Mubarak angekündigt, bei den Wahlen im September nicht mehr kandidieren zu wollen. Nur wenige Stunden später erklärte Obama: „Ich bin der eindeutigen Überzeugung – und das habe ich heute Abend auch zu Präsident Mubarak gesagt – dass ein geordneter Übergang sinnvoll und friedlich sein und sofort beginnen muss.“ Mubarak wollte sich wenigstens weitere fünf Monate geben – Obama wollte einen sofortigen Rücktritt sehen. Das ließ dem einst engen Verbündeten des Westens keine Option, das Gesicht zu wahren.

Mit Verwunderung beobachtete man im Nahen Osten auch, wie unterschiedlich Obama auf die Unruhen in Kairo und in Teheran reagierte. Den Iran, gemäß der Theorie des „Hilal al Schi’i“ der Erzfeind Amerikas, behandelte er mit Samthandschuhen. Als die Proteste von Iranern nach manipulierten Präsidentschaftswahlen im Juni 2009 brutal niedergeschlagen wurden, meldete Washington sich erst nach acht Tagen: „Die Iraner sollten wissen, dass die Welt zuschaut. Wir bedauern den Verlust jedes unschuldigen Menschenlebens […] Die Iraner werden letztlich die Handlungen ihrer Regierung beurteilen“, hieß es in einem Kommuniqué. Von Entrüstung oder Drohung keine Spur. Seine Stellungnahme schloss der US-Präsident mit einem Zitat Martin Luther Kings: „Der Bogen des moralischen Universums ist lang, aber er neigt in Richtung Gerechtigkeit.“ Auf die Unruhen in Kairo reagierte das Weiße Haus hingegen umgehend: Schon am zweiten Tag der Demonstrationen erging der gute Rat aus Washington, dass „die ägyptische Regierung eine einzigartige Gelegenheit habe, auf die Wünsche des ägyptischen Volkes zu reagieren“. Man habe einen „festen Glauben daran, dass sich alle Menschen nach gewissen Dingen sehnen“. Dazu zähle eben auch – und das war ein deutlich sichtbarer Schlag gegen Mubarak – „eine transparente Regierung frei von Korruption“.

Amerika ist nachsichtig gegenüber seinen Feinden, aber streng gegenüber seinen Verbündeten. Erst im Januar dieses Jahres ermutigte US-Präsident Obama Libanons Premier Saad Hariri zu einer aussichtslosen Konfrontation mit der Hisbollah, die Hariri prompt verlor. Inzwischen stellt die Hisbollah die Regierung in Beirut. Amerikas Verbündete manövrierten sich, mit den Ratschlägen aus Washington, selber ins Aus.

Wohl niemand verdeutlichte die Machtverschiebung im Nahen Osten besser als Walid Dschumblatt, der erfahrene Führer der libanesischen Drusen, dem der Ruf eines sensiblen Seismografen der politischen Verhältnisse anhaftet. Nach der Ermordung des ehemaligen libanesischen Premierministers Rafik Hariri im Jahr 2005 schloss sich Dschumblatt dem prowestlichen Lager an. Schließlich war es libanesischen Demonstranten damals gelungen, die syrische Besatzung zu beenden. Die USA hatten den Irak ausgeschaltet und es sah so aus, als wäre Damaskus ihr nächstes Ziel. Dschumblatts Fraktion im Beiruter Parlament ermöglichte es Hariris Sohn, die Hisbollah politisch in Schach zu halten. Doch im Januar schlug sich Dschumblatt wieder auf die Seite der Syrer, was der Wendehals mit folgendem Argument erklärte: Die Schutzmächte der prowestlichen Kräfte im Libanon, also die USA und die EU, kämpften „nur mit Kommuniqués, während ihre Widersacher alle Formen politischen und militärischen Drucks einsetzen“.

Die friedliche Revolution der Massen in Tunesien und Ägypten erweckt zu Recht Bewunderung. Bei vielen, auch den USA, wächst damit die Hoffnung auf das Heranziehen einer neuen, besseren Ära im Nahen Osten. Dabei vergisst man allzu leicht, dass im Libanon, Palästina, Irak, in der Türkei und nun in Ägypten den USA und dem Westen alte Verbündete wegbrechen. Geht es so weiter, müsste Abdullah II. seine Theorie vom schiitischen Halbmond wohl aktualisieren: Wenn die wichtigsten Staaten des Nahen Ostens von Verbündeten des Iran oder amerikafeindlichen Kräften dominiert werden, würde aus dem schiitischen Halbmond ein Vollmond. Für Obama hieße es dann „Gute Nacht“.

Dr. GIL YARON arbeitet als Journalist und Nahost-Experte für verschiedene deutsche Medien. Er lebt in Tel Aviv.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, April 2011, S. 38-43

Teilen

Mehr von den Autoren