Der IS bleibt eine Gefahr
Seit 2017 hat die Terrorgruppe Islamischer Staat, die zeitweise weite Teile Syriens und des Irak beherrschte, kaum noch nennenswerte Anschläge oder Anschlagsversuche im Westen unternommen. Die Organisation abzuschreiben, wäre aber verfrüht.
Im Dezember 2018 verkündete US-Präsident Donald Trump den Sieg über die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) mit den Worten: „Wir haben gewonnen. Wir haben sie geschlagen, und wir haben sie vernichtend geschlagen.“ Gleichzeitig kündigte er den vollständigen Rückzug der US-Truppen aus Syrien an. Zwar sind bis heute noch etwa 700 US-Soldaten dort präsent, doch sind dies deutlich weniger als die einst 2000, die im März 2019 gemeinsam mit den syrischen Kurden die letzte Bastion des IS in Baghuz einnahmen. Zwar stimmt es, dass die Organisation heute kein Territorium mehr kontrolliert, doch war Trumps Äußerung voreilig: Der IS ist in Syrien, Irak und anderen Ländern immer noch präsent und deutlich stärker, als er dies in seiner letzten Schwächephase in den Jahren 2008 bis 2011 war.
Seit bald zwei Jahrzehnten profitiert der IS von den Fehlern seiner Gegner. Der Rückzug der USA aus Irak 2011 war ein solcher und der langsame US-Rückzug aus Syrien seit 2018 ist ein weiterer. Ungleich dramatischer ist jedoch, dass die innenpolitischen Konflikte in Irak und Syrien, die das Wiedererstarken des IS nach 2011 erst ermöglichten, bis heute bestehen. In Syrien hält ein Bürgerkrieg an, in dessen Verlauf das Regime des Präsidenten Baschar al-Assad zahllose Verbrechen an der sunnitisch-arabischen Bevölkerung in den Rebellenhochburgen im Land verübte – einschließlich diverser Angriffe mit Chemiewaffen. Deshalb hassen viele sunnitische Syrer das Assad-Regime mehr als den IS.
Ähnliches gilt für den Irak, wo der Wiederaufstieg des IS ab 2011 eine Reaktion auf die Politik der Regierung von Ministerpräsident Nuri al-Maliki war, der die Sunniten an den politischen Rand drängte und ihre Politiker verfolgen ließ. Daran hat sich nur wenig geändert, auch wenn die Regierung in Bagdad heute vorsichtiger vorgeht als in der Vergangenheit. Es sind die schiitischen Milizen der „Volksmobilisierung“, die sich 2014 zum Kampf gegen den IS zusammenschlossen, die für Gräueltaten an Sunniten verantwortlich gemacht werden. Auch die Polizei ist mit schiitischen Islamisten durchsetzt, die sich zahlreicher Untaten gegen Zivilisten schuldig gemacht haben. Deshalb betrachten die arabischen Sunniten des Nord- und Westirak wie schon vor 2014 die in ihren Gebieten stationierten Sicherheitskräfte als feindliche Besatzer.
Vor diesem Hintergrund darf es nicht überraschen, dass der IS weiterhin junge Syrer und Iraker für den bewaffneten Kampf gewinnen kann. In einem UN-Bericht vom Sommer 2020 war von etwa 10 000 Kämpfern die Rede, die der IS in beiden Ländern heute noch ins Feld führen kann. Zwar liegen andere Schätzungen mit 4000 bis 6000 Mann deutlich niedriger, doch gewinnen die Zahlen ihre Aussagekraft vor allem im Vergleich zu denen des Jahres 2010. Damals schien der IS im Irak fast geschlagen; nach Darstellung des CIA-Chefs John Brennan zählte er nur noch 700 Kämpfer. Innerhalb von nur vier Jahren wuchs diese Zahl aber auf mehrere Zehntausend an, die im Sommer 2014 dann große Teile Iraks und Syriens eroberten. Dies zeigt, dass der IS rasch wieder zu einer größeren Gefahr werden kann. Erste Hinweise auf ein Erstarken im Untergrund wurden im Frühjahr 2020 öffentlich. Im Irak verübten IS-Kämpfer teils spektakuläre Anschläge auf Sicherheitskräfte; in Syrien griff der IS sogar die kleine Wüstenstadt Sukhna an.
Günstige Rivalität
Aber auch die großen regionalen Auseinandersetzungen tragen dazu bei, dass die Organisation immer wieder Handlungsspielräume findet. Die wichtigste ist die zwischen den regionalen Großmächten Iran und Saudi-Arabien, die sich seit 2011 in mehreren Ländern der Region direkt und indirekt bekämpfen. Iran hat seinen Einfluss im Irak, in Syrien, im Libanon, in den palästinensischen Gebieten und im Jemen ausgebaut. In der Regel nutzte Teheran lokale Verbündete wie beispielsweise die libanesische Hisbollah. In vielen Ländern provozierten die Aktivitäten proiranischer Milizen und Terrorgruppen heftige Gegenreaktionen sunnitischer Islamisten, die teils von Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten, noch häufiger aber von Katar oder der Türkei unterstützt werden. Der IS konnte diesen Trend nutzen, weil er seit jeher besonders radikal antischiitisch argumentiert und den antischiitischen Zeitgeist unter den arabischen Sunniten als Rekrutierungsinstrument nutzte. Außerdem profitierte er von der Instabilität in Gegenden wie Jemen, wo der IS schon 2014 einen Ableger gründete. Da die Regionalmächte weit von einem Ausgleich entfernt sind, dürften sich dem IS in Zukunft neue Operationsmöglichkeiten bieten.
Regionale Konflikte verschärfen sich auch deshalb, weil die USA sich langsam aus dem Nahen Osten zurückziehen. In Washington hat sich in beiden politischen Lagern die Ansicht durchgesetzt, dass das Land seine politischen, militärischen und finanziellen Mittel auf die kommende Auseinandersetzung mit China konzentrieren sollte. Dass sich so unterschiedliche Präsidenten wie Barack Obama und Donald Trump in ihrer Hinwendung nach Ostasien zumindest im Prinzip einig waren, zeigt, wie stark dieser Gedanke die amerikanische Weltpolitik schon heute prägt. Im Nahen Osten aber entsteht so ein politisches und militärisches Vakuum, das von anderen Mächten gefüllt wird. Neben Iran und Saudi-Arabien sind dies insbesondere die VAE und Israel.
Außerdem sind Russland und die Türkei seit 2015 als starke externe Mitspieler hinzugekommen und haben maßgeblich dazu beigetragen, dass der Nahe Osten instabil bleibt. Dies zeigt sich beispielsweise in Syrien, wo Russland das Assad-Regime, die Türkei aber die verbliebenen Aufständischen unterstützt. Auch in Libyen sind Moskau und Ankara seit 2019 zu den wichtigsten Unterstützern der Bürgerkriegsparteien geworden.
Doch während Russland den IS entschlossen bekämpft, ist die Haltung der Türkei gegenüber dem IS bestenfalls ambivalent. So ließ sie seit 2012 zu, dass ausländische Dschihadisten zu Zehntausenden über die Türkei nach Syrien einreisten und verletzte IS-Kämpfer in türkischen Krankenhäusern behandelt wurden. Außerdem duldete sie, dass der IS seinen Nachschub an Waffen, Munition und Ausrüstung über die Türkei abwickelte. Als die Organisation in Irak und Syrien ab 2016 verstärkt unter Druck geriet, flohen viele IS-Mitglieder in die Türkei, konnten dort abtauchen oder in andere Länder weiterreisen – obwohl die Organisation zu diesem Zeitpunkt schon Anschläge auch in der Türkei verübt hatte. So könnte in den kommenden Jahren vom IS auch in der Türkei eine Gefahr ausgehen.
Eine regionale Bedrohung
Seit 2017 sind vom IS verübte Anschläge und Anschlagsversuche in der westlichen Welt sehr selten geworden. Dies zeigt, wie stark die Niederlagen in Irak und Syrien der Organisation zugesetzt haben. Doch wäre es zu früh, sie abzuschreiben. Der IS hat nach 2014 genug Zeit gehabt, sich auf die drohende Niederlage des „Kalifats“ in Syrien und im Irak vorzubereiten. Dies hat er getan, indem er in vielen Gegenden der islamischen Welt Ableger gründete, die in den nächsten Jahren die terroristische Initiative übernehmen könnten, sollte sich der IS in Irak und Syrien nicht erholen. Doch ist keine dieser Gruppierungen heute so stark, dass sie die Rolle der alten Kernorganisation ausfüllen kann.
Diese Beobachtung spricht dafür, dass der islamistische Terrorismus in den kommenden Jahren stark fragmentiert bleiben und eher eine lokale oder regionale Gefahr für ohnehin instabile Staaten wie Jemen, Syrien, Libyen oder in der Sahara und der Sahelzone bleiben wird.
Wenn es eine „Filiale“ des IS gibt, die zumindest im Ansatz das Potenzial zeigt, sich zu einer größeren Gefahr zu entwickeln, ist das die in Afghanistan. Denn trotz hoher Verluste verübt der IS am Hindukusch seit Jahren Anschläge und scheint keine Probleme zu haben, immer neue Kämpfer zu rekrutieren. Da der US-Abzug beschlossene Sache ist, dürfte sich der Handlungsspielraum der Organisation in naher Zukunft erweitern. Wenn darüber hinaus die Taliban tatsächlich auf eine Verhandlungslösung mit der afghanischen Regierung abzielen, werden sich radikalere Gruppen abspalten und die Nähe des IS suchen.
Sollte dieser in Afghanistan erstarken, wird dies zunächst Folgen für die unmittelbare Nachbarschaft haben. Dies gilt vor allem für Zentralasien, denn die meisten ausländischen Kämpfer des IS in Afghanistan stammen aus dieser Region. Nicht zu unterschätzen wäre aber die mobilisierende Wirkung eines Wiedererstarkens des IS in Afghanistan. Denn von dort nahm die dschihadistische Bewegung in den 1980er Jahren ihren Ausgang; 2001 läuteten die USA mit dem Angriff dort ihren Krieg gegen Al-Kaida & Co ein. Schon der Abzug der US-Truppen wird in der Szene als großer Erfolg verbucht und als wichtiges Argument in der Rekrutierung genutzt werden.
Dr. Guido Steinberg ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten und Afrika der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).
Internationale Politik 6, November/Dezember 2020, S. 10-12
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