Sieg für die Dschihadisten
Nach der Machtübernahme der Taliban kann der islamistische Terrorismus zu einer noch größeren Gefahr werden. Im Fokus ist auch Europa.
Der Sieg der Taliban ist ein Motivationsschub für die dschihadistische Szene weltweit. Schon tauschen sich ihre Anhänger in Chatforen darüber aus, wie man am einfachsten nach Afghanistan kommt, um sich dort der Organisation Islamischer Staat, Al-Kaida oder kleineren Gruppen anzuschließen. Oder es wird debattiert, in welchen Kriegsgebieten der islamischen Welt die Dschihadisten ähnlich gute Erfolgsaussichten haben wie im Land am Hindukusch.
Es ist nicht klar, ob und wie Al-Kaida & Co. den afghanischen Rückenwind nutzen können, um selbst wieder zu erstarken, große Anschläge zu verüben und ihren Einfluss auszuweiten. Das dschihadistische Milieu weltweit ist in viele kleine Gruppierungen zersplittert, die alleine nicht stark genug sind, um über ihre eigenen Operationsgebiete hinaus zu wirken. Ein Grund dafür ist der Konflikt zwischen Al-Kaida und dem IS, die sich seit 2014 erbittert bekämpfen. Ihre vielleicht einzige Chance, zu alter Stärke zurückzukehren, liegt in neuen Bündnissen, die das Schisma der dschihadistischen Bewegung beenden. In Afghanistan und Syrien gibt es erste Hinweise darauf, dass die Dschihadisten die alten Trennlinien überwinden und vermehrt zusammenarbeiten. Dies birgt eine große Gefahr für ihre Gegner dort und in der westlichen Welt.
Ideologisch schwach: Al-Kaida
Al-Kaida ist heute nur noch ein Schatten der Organisation, die am 11. September 2001 die größten und folgenreichsten Terroranschläge der Weltgeschichte verübte. Dass sie noch nicht zerschlagen ist, verdankt sie vor allem ihrem strategischen Geschick. Seit 1996 steht sie in Afghanistan und Pakistan unter dem Schutz der Organisation des Kriegsfürsten Dschalaluddin Haqqani, die sich damals den Taliban anschloss und als militärisch und terroristisch besonders stark gilt. Osama Bin Laden und seine Gefolgsleute dankten es mit finanzieller Unterstützung und terroristischem Know-how und blieben so über mehr als zwei Jahrzehnte ein geschätzter Partner der Taliban.
Außerdem gründete Al-Kaida ab 2003 Regionalorganisationen in Saudi-Arabien, im Irak, Algerien und Jemen, die sich ebenfalls Al-Kaida nannten und so das Bild einer mächtigen Gruppierung prägten, die in der ganzen arabischen Welt und darüber hinaus operiert. Dieser Schachzug verdeckte, dass es Al-Kaida seit den Anschlägen von London im Juli 2005 nicht mehr gelungen ist, ein größeres Attentat in der westlichen Welt zu verüben. Mit dem Einsetzen des Drohnenkriegs 2007 musste die Organisation empfindliche Verluste hinnehmen, die vor allem ihre Führung im pakistanischen Nord-Wasiristan so sehr dezimierten, dass Al-Kaida am Hindukusch schon kurze Zeit nach dem Tod von Bin Laden 2011 fast zerschlagen schien. Ihre personelle Schwäche ist bis heute eklatant; der Bin-Laden-Nachfolger Aiman al-Zawahiri ist so uncharismatisch, dass junge Dschihadisten kaum mehr Interesse an seinen ohnehin seltenen Videos zeigen. Andere Anführer halten sich unter Aufsicht der Revolutionsgarden im Iran versteckt und unterliegen strikter Kontrolle ihrer Beschützer.
Mittlerweile wirkt sich auch die strategische Stärke der Al-Kaida zu ihren Ungunsten aus. Die Bereitschaft zu Bündnissen mit den nichtsalafistischen Taliban und pragmatischen Kompromissen mit Gegnern wie Iran legen junge Dschihadisten oft als ideologische Beliebigkeit aus. Sie entscheiden sich seit 2013 immer häufiger für den weltanschaulich rigideren IS, sodass Al-Kaida immer mehr an Bedeutung verliert, zu einer Kraft der Vergangenheit wird. Zwar stellt sie noch regional bedeutsame Gruppen – wie in Syrien oder im westafrikanischen Sahel –, doch sie kann die meisten potenziellen Rekruten nicht mehr begeistern.
Ideologisch stark: der IS
Der IS vertritt hingegen einen sehr viel zeitgemäßeren Dschihadismus, der politische und strategische Erwägungen hintanstellt, wenn es darum geht, seine Salafismus-Interpretation in die Tat umzusetzen. So wie Al-Kaida will der IS einen islamischen Staat auf der Grundlage der Scharia; doch er will ihn nicht als ferne Vision, sondern so schnell wie möglich. Es war diese weltanschauliche Kompromisslosigkeit, die in der Forderung nach der sofortigen Durchsetzung der Scharia gipfelte, die ab 2014 Zehntausende junge Muslime aus aller Welt bewog, sich dem IS im Irak, in Syrien, Libyen und anderswo anzuschließen.
Dieser Umschwung ging auf einen ideologischen Paradigmenwechsel zurück, der sich schon in den frühen 2000er Jahren angedeutet hatte, als der IS-Gründer Abu Musab al-Zarqawi im Irak begann, seinen dschihadistischen Gegenentwurf zu Al-Kaida zu entwickeln. Zarqawis Organisation war brutaler, kompromissloser und ideologischer als die Bin Ladens. Dies ging zum einen auf die ehemaligen irakischen Militärs zurück, die sich damals Zarqawis Dschihadisten anschlossen. Noch tiefer aber gingen die ideologischen Ursachen: Bin Laden, Zawahiri und ihre Anhänger waren stark durch die Muslimbruderschaft und deren revolutionären Willen zur Macht, deren Politikorientierung und starken Pragmatismus geprägt. In der Ideologie des IS hingegen spielen die Vordenker der Muslimbrüder kaum mehr eine Rolle. Stattdessen dominieren im IS die Ideen jener saudischen Wahhabiten, die auf eine sofortige kompromisslose Durchsetzung dessen abzielen, was Gott in der Offenbarung befohlen hat. Dazu gehört neben der raschen Durchsetzung der Scharia auch der „Dschihad“ gegen alle Feinde des Glaubens.
Diese Ideologie sorgte dafür, dass der IS großen Zulauf erhielt. Aber sie schuf neue Probleme. Denn die zahlreichen Verbrechen des IS und seine Aggressivität riefen Gegner auf den Plan. Schon ab 2015 zeigte sich, dass der bewaffnete Kampf gegen fast die ganze Welt nicht mit einer erfolgreichen Staatsgründung im Irak und in Syrien vereinbar war. Schnell geriet der IS unter den Druck der USA, Russlands, Irans und zahlreicher lokaler Feinde, sodass er schon im März 2019 die letzten Territorien verlor und in den Untergrund abtauchen musste. Dort blieb er zwar eine Gefahr für den irakischen und den syrischen Staat und konnte sich außerdem auf ein Netzwerk von Ablegern in der islamischen Welt stützen. Doch die ganz große Gefahr stellte er nirgendwo mehr dar.
Neue Bündnisse
Die Ereignisse in Afghanistan könnten eine neue Phase in der Geschichte des Dschihadismus einläuten. Dies wird vor allem der Fall sein, wenn es Al-Kaida, dem IS und ähnlichen Gruppierungen gelingt, die Fragmentierung der Szene zu überwinden und erneut größere Formationen zu bilden, die auch eine Gefahr für die westliche Welt werden. Bündnisse und andere Formen der Zusammenarbeit sind zwar schwierig, weil die verfeindeten Gruppierungen seit dem Bruch zwischen Al-Kaida und dem IS 2014 schwere Verbrechen aneinander verübt haben. Doch viele Täter sind mittlerweile tot, sodass der Konflikt für die jungen Dschihadisten nicht mehr die Bedeutung von damals haben dürfte.
Seit einigen Jahren gibt es deshalb Hinweise, dass trotz der grundsätzlichen Gegnerschaft zwischen Al-Kaida und IS eine Zusammenarbeit möglich ist. In Syrien flohen viele Anführer, Planer und Kämpfer des IS mit Familienangehörigen schon 2017 in die Provinz Idlib, wo Al-Kaida- nahe Gruppierungen die Kontrolle haben. In Afghanistan wird seit Jahren über Kontakte zwischen dem IS und der Haqqani-Organisation spekuliert, die zu den Taliban gehört, im Gegensatz zu deren Mainstream aber dschihadistisch ausgerichtet ist. Durch punktuelle Zusammenarbeit mit den Haqqanis soll der IS in Kabul in die Lage versetzt worden sein, Hunderte Anschläge zu verüben.
All dies sind Hinweise, dass der Konflikt zwischen den beiden Lagern eines Tages enden könnte. Voraussetzung für die Entstehung neuer, erfolgreicher Gruppen dürfte aber sein, dass Al-Kaida sich der Ideologie des IS annähert. Dieser hat bewiesen, dass allein sein Ruf nach einem islamischen Staat hier und jetzt eine massenhafte Mobilisierung junger Dschihadisten ermöglicht.
Neue Gefahren
Der islamistische Terrorismus ist auch deshalb weiterhin eine Gefahr, weil er eine digitale Wende durchgemacht hat. Anschläge wie die vom 11. September 2001 sind heute kaum mehr möglich, weil es den Dschihadisten nicht mehr gelingen würde, über Ländergrenzen und Kontinente hinweg zu reisen und über zwei Jahre unentdeckt zu kommunizieren. Auch Attacken wie die in Paris am 13. November 2015 können nicht mehr stattfinden, weil sie in einer historischen Ausnahmesituation geschahen, in der Deutschland und Europa die Kontrolle über die eigenen Grenzen fast vollständig aufgaben.
So setzte der IS seit 2015 auf „angeleitete“ Anschläge. Er stellte Teams mit Propagandisten und Planern zusammen, die über soziale Medien wie Telegram Kontakte aufbauten und potenzielle Attentäter in der westlichen Welt, die gar nicht mehr in den Irak, nach Syrien oder Afghanistan reisen mussten, bei der Wahl der Tatmittel und der Zielbestimmung berieten. Einige der folgenreichsten Attentate in Europa waren solche angeleiteten Anschläge – darunter der in Nizza am 14. Juli 2016, als der Attentäter einen Lkw in die Menge auf der Promenade des Anglais steuerte und 86 Menschen tötete. Auch der mutmaßliche Islamist, der im nordrhein-westfälischen Hagen einen Anschlag auf eine Synagoge geplant haben soll und im September 2021 verhaftet wurde, stand Presseberichten zufolge in Kontakt mit einem IS-Planer.
Für solche Anschläge und Anschlagsversuche benötigen die Dschihadisten viele überzeugte Anhänger in der westlichen Welt und eine starke Organisation, die in der Lage ist, die jungen Muslime zu überzeugen, für die gemeinsame Sache ihre Freiheit oder gar ihr Leben zu opfern. Bisher sind es vor allem die US-Behörden, die aufgrund ihrer überlegenen technischen Aufklärung dafür sorgen, dass seit 2017 viele angeleitete Anschläge verhindert werden. Der US-Abzug aus Afghanistan dürfte daran zunächst nichts ändern. Seine Bedeutung liegt vor allem darin, dass er es den Dschihadisten erleichtert, größere Formationen aufzubauen. Wenn ihnen das gelingt, wird die Bedrohung durch islamistische Terroristen auch in Europa wieder wachsen.
Dr. Guido Steinberg ist Islamwissenschaftler und arbeitet in der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).
Internationale Politik 6, November/Dezember 2021, S. 46-49
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