Der Balkan als Modell
Auch wenn bei der Krisenbewältigung auf dem Balkan besondere Umstände herrschten, lassen sich doch daraus auch für andere Krisenherde der Welt gültige Lehren ableiten: so muss die Militärmacht der internationalen Gemeinschaft schon in einem frühen Stadium glaubhaft zur Verfügung stehen und eine Streitkraft so lange vor Ort präsent sein, bis die Strukturen gefestigt sind.
Mehr als andere Weltregionen hat sich der Balkan als Hort umstürzender Veränderungen und hemmungsloser Gewalt erwiesen. Zugleich ist er jedoch eine Region innovativer Vorgehensweisen bei der Bewältigung von Konflikten. Ein Gebiet, in dem einst die eiserne Disziplin kommunistischer Innenpolitik und die zwischenstaatliche Stabilität des Ost-West-Konflikts herrschten, erlebte in den neunziger Jahren das blutige Auseinanderbrechen eines multiethnischen (genau genommen: multireligiösen) Staates, die Tragödie von Kriegen, Völkermord und „ethnischer Säuberung“. Es war in dieser Region, wo die Europäische Union ihre Sicherheitsrolle neu definierte und mittels des Stabilitätspakts ihre eigene Erfahrung konstruktiv angewandt hat, um eine vorausschauende Lösung in einer konfliktgeplagten Umgebung zu gewährleisten. Und es war ebenfalls hier, wo sich die Frage der Legitimität von Gewaltanwendung für die Beendigung gewaltsamer Konflikte auf eine besonders dramatische Weise stellte.
Der Balkan ist und bleibt eine Region, in der sich viele zentrale Probleme der Weltordnung im 21. Jahrhundert besonders deutlich stellen, wie etwa die Grenzen von Selbstbestimmung, der Umgang mit ethnischen Konflikten, die Notwendigkeit von Krisenmanagement und einer neuen Art von Friedenswahrung oder die Legitimität humanitärer Interventionen. Auch wenn die Entwicklungen in dieser Region von einzigartigen und spezifischen Faktoren beeinflusst werden, sind die Erfahrungen und die dort gelernten Lektionen von allgemeiner Bedeutung für andere Teile der Welt.
Der Balkan demonstrierte besonders dramatisch den Zusammenbruch des internationalen Konsenses, der während des gesamten Kalten Krieges in der entscheidenden Frage der Grenzen von Selbstbestimmung geherrscht hatte. Die Entkolonialisierung geschah nach dem Zweiten Weltkrieg im Namen und als Ergebnis der Selbstbestimmung der Völker. Unabhängigkeit wurde den politischen Gemeinwesen gewährt, die von den Kolonialmächten geschaffen worden waren.
Es setzte sich das allgemein anerkannte Prinzip durch, dass die Selbstbestimmung mit der Gewährung von Unabhängigkeit an frühere Kolonien endete und im Fall multiethnischer Länder sich nicht auf dessen einzelne Teile erstrecken würde. Zwar verhinderte Waffengewalt die (vollständige) Anwendung dieses Prinzips auf dem indischen Subkontinent, doch wurde es mit relativer Strenge in Afrika mit seiner ethnischen Vielfalt und künstlichen Kolonialgrenzen durchgesetzt, beispielsweise bei der versuchten Sezession Biafras von Nigeria. Eine weitere Ausdehnung der Selbstbestimmung hätte zu einer Fülle nicht lebensfähiger Staaten und Chaos geführt.
Das Ende des Kommunismus und des Kalten Krieges unterhöhlte die Disziplin und das Machtsystem, die multiethnische und multireligiöse Staaten zusammengehalten hatten. Jugoslawien brach unter großer Gewaltentwicklung zusammen, in der Sowjetunion geschah dies mit relativ wenig Gewalt, und in der Tschechoslowakei sogar gewaltfrei. Doch der Anspruch auf Unabhängigkeit von Teileinheiten multinationaler Staaten hat seither die Frage der Grenzen von Selbstbestimmung wieder auf die Tagesordnung gesetzt.
Zu Beginn des jugoslawischen Konflikts sprachen sich westliche Demokratien, ganz besonders die Vereinigten Staaten, gegen die Auflösung Jugoslawiens aus, vor allem aus Furcht vor den Konsequenzen einer solchen Auflösung für die Sowjetunion und die restliche Welt (Präsident George Bush der Ältere tat dies öffentlich bei einem Besuch in der Sowjetunion). Jedoch gaben diese Demokratien diese Politik bald auf, als zunehmend deutlich wurde, wie viel Leid und Verletzung grundlegender Menschenrechte sich aus seiner strikten Anwendung ergaben.
Wie die Entwicklungen in Tschetschenien, Sri Lanka oder Afrika zeigen, bleibt die Frage der Grenzen von Selbstbestimmung auf der Tagesordnung der Weltpolitik. Mit über 3000 Ethnien weltweit gibt es keinen Mangel an potenziellen Konflikten.1
Bietet der jugoslawische Fall Lehren für eine präventive Strategie? Wäre Jugoslawien nicht ein kommunistisches System, sondern eine echte Demokratie gewesen, in der die beteiligten Gemeinschaften eine echte Teilhabe an der Macht über eine gewisse Zeit hin erfahren konnten, und hätte der Zusammenbruch des kommunistischen Jugoslawiens nicht zu einem System geführt, in dem ein stalinistischer Diktator die Flammen der demokratischen Bewegung ausgelöscht und serbischen Nationalismus wieder angefacht hätte (im Gleichklang mit ähnlichen Entwicklungen in Kroatien), dann hätte Jugoslawien vielleicht eine Chance für einen friedlichen Übergang gehabt.2
Im Westen hat es eine Tendenz gegeben, den Balkan als die rückständigste Region Europas anzusehen, als ein schwarzes Loch von Hass und Gewalt. Daher haben viele Beobachter in den neunziger Jahren den stattfindenden Völkermord, die ethnische Säuberung und die Kriege deterministisch als ein so gut wie unvermeidliches Ergebnis einer Geschichte von Konflikten angesehen. Zwar ist es unmöglich, das Für und Wider eines anderen Ergebnisses zu erörtern, doch muss daran erinnert werden, dass der Einfluss des Diktators Slobodan Miloöevib und seiner Machtstrukturen dafür ausschlaggebend waren, dass statt einer friedlichen Entwicklung, etwa in Richtung auf eine Konföderation, eine Kettenreaktion von blutiger Gewalt ausgelöst wurde, die keineswegs unvermeidlich war. Miloöevib entfesselte den serbischen Nationalismus (wie der Diktator Franjo Tudjman den kroatischen Nationalismus), mit der anhaltenden Folge von Rache und Gegenrache.
Bei allen Vorkehrungen, die die auswärtigen Mächte auf dem Balkan trafen, war die Notwendigkeit, die führenden Eliten dazu zu bringen, eine kooperative und rücksichtsvolle Behandlung ethnischer Minderheiten zu praktizieren, von zentraler Bedeutung. Dies galt für die Durchführung des Dayton-Abkommens von 19953 ebenso wie für die Vereinbarungen nach dem Kosovo-Krieg, den Stabilitätspakt, die Verfassungsreform von Mazedonien oder die Vermittlung zwischen Montenegro und Serbien. Die Einsetzung des Internationalen Strafgerichtshofs für das Ehemalige Jugoslawien und der teilweise erfolgreiche Druck, Miloöevib und andere Kriegsverbrecher nach Den Haag auszuliefern, hatte nicht nur zum Ziel, über die in der Vergangenheit begangenen Verbrechen Recht zu sprechen. Diese Maßnahmen gaben auch den Führern in der Region ein abschreckendes, in die Zukunft gerichtetes Signal: Jede Abkehr von den etablierten Normen interethnischer Beziehung würde schließlich bestraft werden.
Die potenzielle Wirkung von Belohnungen war jedoch von zumindest gleichrangiger Bedeutung. Bulgarien, das seine türkische Minderheit übel behandelt hatte, kehrte seine Politik völlig um, ohne Zweifel deshalb, weil es der Führung klar wurde, dass Bulgarien ohne einen solchen Politikwechsel seine Chance untergraben würde, Mitglied der Europäischen Union und der NATO zu werden. Die Aussicht auf eine kommende Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist und bleibt einer der mächtigsten Anreize auf dem Balkan, die politischen Eliten dazu zu bringen, ethnische Minderheiten fair zu behandeln. Sie wurde im Juni 2003 auf dem Gipfeltreffen mit Vertretern der Staaten des Westbalkans von den Führern der EU erneut angesprochen.
Humanitäre Intervention
Der Balkan war nicht das erste Gebiet, in dem es zu einer humanitären Intervention kam, doch war es hier, wo die Dilemmata einer solchen Politik, die Voraussetzungen ihrer Wirksamkeit und das Problem der Legitimität besonders scharf zutage traten. Während der ersten Jahre des Konflikts im früheren Jugoslawien waren die meisten auswärtigen Mächte nicht bereit, Mittel dafür aufzuwenden. Einige von ihnen waren sogar gegen jedes Eingreifen und betrachteten diese Konflikte als „innere Angelegenheit“. Den Vereinten Nationen gelang es nicht, sich mit ihren Interventionen gegen die Krieg führenden Parteien durchzusetzen. Die Mandate waren unklar, die institutionellen Vorkehrungen unzureichend und die militärischen Instrumente völlig ungenügend.
Die Internationale Kommission für den Balkan stellte in ihrem Bericht von 1996 für die Carnegie-Stiftung fest: „Der Hauptgrund für den Fehlschlag von Verhandlungen über Bosnien-Herzegowina bis zum Sommer 1995 war die Weigerung der führenden internationalen Mächte, viel früher glaubwürdig mit Gewaltanwendung zu drohen, um eine Vereinbarung zu erzwingen.“4 Der Bericht kritisierte zu Recht die beträchtliche Lücke zwischen der Rhetorik und der tatsächlichen Bereitschaft größerer Mächte, ihren Worten auch Taten folgen zu lassen, und die sich daraus ergebenden „verheerenden und beschämenden Folgen“.
Das Dayton-Abkommen für Bosnien-Herzegowina vom Herbst 1995 kam viele Tausende Tote zu spät. Es hätte viel früher erzielt werden können, wären die auswärtigen Mächte damals bereit gewesen zu intervenieren. Wahrscheinlich hätte ein recht bescheidenes Maß an militärischer Gewalt die gewünschte Wirkung gehabt. Das Eingreifen von NATO-Mächten und das Umgehen des Waffenembargos durch die Vereinigten Staaten, die den Kroaten und Bosniern gegen die militärisch weit überlegenen serbischen Streitkräfte Unterstützung gewährten, brachten schließlich die Krieg führenden Parteien an den Verhandlungstisch, doch entschlosseneres Handeln zu einem früheren Zeitpunkt hätte dieselbe Wirkung haben können.
Die erste Phase der Balkan-Kriege hatte bereits gezeigt, dass die schlechte Behandlung von Völkern durch deren eigene Regierung sowie menschliches Leid als Ergebnis von Kriegen und ethnischer Säuberung nicht mehr durch den klassischen Begriff der staatlichen Souveränität und das Verbot äußerer Einmischung in innere Angelegenheiten vor internationaler Anteilnahme abgeschirmt werden konnten. Das Dayton-Abkommen war nicht das Ergebnis der UN-Diplomatie, sondern eines unter Leitung der Vereinigten Staaten durchgeführten Verhandlungsmarathons, der auf der vorhergehenden Arbeit der Kontaktgruppe, bestehend aus den Vereinigten Staaten, Russland, Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien, aufbauen konnte.
Kosovo
Unglücklicherweise ließ das Abkommen jedoch das Kosovo-Problem aus, das bereits 1995 gefährliche Ausmaße angenommen hatte, da die systematische serbische Repression der Albaner schon sechs Jahre zuvor begonnen hatte. Jahre diplomatischen Druckes, internationaler Konferenzen und Drohungen hinderten Miloöevib nicht daran, Praktiken in Kosovo fortzusetzen, die schließlich in systematische ethnische Säuberung mündeten, bis hin zum Völkermord. Obwohl der UN-Sicherheitsrat sehr genaue Anweisungen und Kriterien dafür verabschiedete, was die Serben in der Region tun sollten, hatte dies keinerlei Auswirkung auf die serbische Regierung, die annahm, dass die Drohung mit einem Militäreinsatz der NATO rein rhetorisch bleiben würde, und die sich auf die Verpflichtung der russischen Regierung verließ, nichts gegen den Willen von Belgrad zu unternehmen.
Als die ethnischen Säuberungen schlimmer wurden und Fluchtbewegungen drohten, andere Staaten in der Region zu destabilisieren, beschloss die NATO schließlich, ohne ein formelles Mandat des Sicherheitsrats, das Russland und China nicht unterstützen wollten, militärisch zu handeln. Dennoch intervenierte die Atlantische Allianz im Namen anderer international gültiger rechtlicher Normen, die von Jugoslawien selbst in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und der Konvention über die Verhinderung von Völkermord angenommen worden waren.
Die Aktion der NATO war entscheidend dafür, Miloöevib zum Nachgeben zu bewegen, obwohl andere Faktoren, besonders der Entzug der russischen Unterstützung, zweifellos auch einen Beitrag dazu geleistet haben. Die Frage der Legitimität blieb jedoch umstritten. Der Kosovo-Krieg beendete nicht nur die ethnische Säuberung, sondern führte auch zum „Regimewechsel“. Eine demokratische Revolution stürzte den serbischen Diktator, der schließlich vor den Strafgerichtshof in Den Haag kam. Auch wenn die Intervention der NATO zu einem Ergebnis geführt hat, das nach den Maßstäben jeder Kultur und nach den universellen Normen der Menschenrechte als positiv zu werten ist, fehlte ihr doch nach den Regeln der Vereinten Nationen die Legitimität. In der internationalen Gemeinschaft wächst die Überzeugung, dass das klassische Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten überprüft werden sollte, um eine internationale Intervention zu erlauben, wenn schwere Verletzungen von Menschenrechten vorliegen. Damit stellt sich die Aufgabe, diese Überzeugung gemeinsam in neue Normen umzusetzen.
Sollte jedoch „Regimewechsel“ zu einem Ziel werden, das militärische Aktionen jedweden Staates gegen einen anderen rechtfertigt, dann wäre globale Anarchie die wahrscheinliche Folge, da dieses Ziel in bloßen Interessenkonflikten leicht als Begründung für ein militärisches Vorgehen vorgeschoben werden könnte. Wenn humanitäre Intervention ein legitimes Instrument der Politik werden soll, dann darf dieses nur als das Ergebnis einer zuvor durchgeführten Änderung von Regeln und Kriterien durch die internationale Gemeinschaft eingesetzt werden sowie als Ergebnis eines Verfahrens, mit dem die Vereinten Nationen die Intervention legitimieren.
Friedenswahrung
Auf dem Balkan wurde der interethnische Konflikt, nachdem er einmal ausgebrochen war, in seinem Ausmaß und dem Grad der Gewalt durch den historisch gewachsenen „Flickenteppich“ verstreuter Siedlungen der verschiedenen Gemeinschaften noch verschärft. Nur in manchen Gebieten wohnten die Bevölkerungen in ethnisch homogenen größeren Regionen. Das Dayton-Abkommen war in seinem Ansatz widersprüchlich, denn es akzeptierte einerseits den Status quo der durch die vorangegangenen Kriege geschaffenen territorialen Grenzen, hielt aber andererseits das Prinzip der Wiederherstellung und des Schutzes des multiethnischen Charakters von Bosnien-Herzegowina aufrecht. Nachdem die Kriege Hass, Ressentiments und den Wunsch nach Rache verschärft hatten, machte es der multiethnische Charakter der verschiedenen Regionen des Balkans zwingend notwendig, den Fortgang der Gewalt durch eine nachhaltige militärische Präsenz aufzuhalten, die Krieg führenden Parteien zu entwaffnen, sie auseinander zu halten und im Fall des Wiederaufflammens von Gewalt einzugreifen.
Ohne die Anwesenheit von friedenswahrenden Streitkräften hätte die schwierige Aufgabe des Wiederaufbaus einer Zivilgesellschaft und demokratischer Strukturen von unten nach oben (und auch von oben nach unten) keinerlei Chance. Bis zum heutigen Tag würde ein Abzug dieser Streitkräfte verheerende Auswirkungen haben und fast sicher die Gewalt wieder anfachen.
Aus diesen Gründen hat die internationale Gemeinschaft, in diesem Fall geführt durch NATO und EU, die Verpflichtung einer lang währenden Präsenz übernommen, um ein Dach zu schaffen, unter dem sich nicht nur Demokratie, sondern auch ein System friedlicher Zusammenarbeit zwischen den politischen Einheiten der Region entwickeln können. Der Zeitrahmen, um den es hier geht, beträgt wahrscheinlich nicht ein paar Jahre, sondern eine Generation, das heißt 20 bis 30 Jahre. Die Auswirkung dieser Präsenz erstreckt sich über den Stationierungsort hinaus, da sofort die gesamte Region in Mitleidenschaft gezogen würde, wenn in einem Teil eine Destabilisierung einträte, die sich dann sogar auf diejenigen Mitglieder der NATO und der Europäischen Union auswirken würde, die in oder in unmittelbarer Nähe der Region liegen.
Streitkräfte werden daher eine neue und wichtige Rolle im 21. Jahrhundert spielen, in der sie die notwendige Umgebung für die Beendigung von interethnischen Konflikten und den Wiederaufbau der zivilen Gesellschaft, Demokratie und friedlicher Koexistenz der verschiedenen Gemeinschaften gewährleisten. Manchmal wird behauptet, dass Kampftruppen nicht die Aufgabe der Polizei übernehmen sollten. Dies ist zum Teil richtig. Echte Polizeifunktionen werden am besten von Personen ausgeübt, die für diese Funktion angemessen ausgebildet sind. Deshalb ist eine große internationale Einheit von Polizisten auf dem Balkan bereits aktiv.
Doch nur die Präsenz einer militärischen Friedenswahrungsmacht schafft überhaupt die Möglichkeit, Ordnung aufzubauen. Diese Streitmacht sichert sozusagen das Dach der Stabilität, unter dem die Polizei die Möglichkeit hat, die Rückkehr eines normalen Systems von Recht und Ordnung zu unterstützen.
Überdies sind angesichts der Neigung zur Gewalt und der beträchtlichen Feuerkraft versteckter und illegaler Waffen in den verschiedenen Gemeinschaften nur ausgebildete Soldaten in der Lage, Gewalt abzuschrecken oder damit umzugehen. Erst wenn genug Fortschritte bei der Wiederherstellung von Demokratie und friedlicher Zusammenarbeit zwischen den Gemeinschaften erzielt worden sind, können die Aufgaben der Aufrechterhaltung der Ordnung zur Gänze an lokale Polizeiinstitutionen übertragen werden.
Der Stabilitätspakt
Nach dem Ende des Kalten Krieges verschärfte sich der Unterschied zwischen Ostmitteleuropa und dem Balkan. Während in Mittel- und Osteuropa der Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft mit großer Energie und sichtbarem Fortschritt betrieben wurde, mit Aussicht auf die Mitgliedschaft in der Europäischen Union und NATO als einem zusätzlichen Beschleuniger und Lohn, fiel der Balkan lang andauernder Gewaltsamkeit und Zerstörung in den neunziger Jahren anheim. Die ethnische Säuberung in Kosovo, die schließlich die Militärintervention der NATO auslöste, stellte eine weitere Eskalation dar.
Als diese Krise ihren Höhepunkt erreicht hatte, entwickelte das deutsche Außenministerium einen Plan, um diesen Teufelskreis der Gewalt zu durchbrechen, und legte ihn einer Reihe anderer Länder und internationalen Organisationen vor. Er wurde im Juni 1999 in Köln als der „Stabilitätspakt für Südosteuropa“ verabschiedet. Der deutsche Außenminister, Joschka Fischer, definierte den Hauptzweck des Paktes für seine Außenministerkollegen folgendermaßen: „Die bisherige Politik der Staatengemeinschaft gegenüber dem ehemaligen Jugoslawien enthielt zwei sehr schwerwiegende Defizite: Sie behandelte die Folgen anstatt der Ursachen der Konflikte, und sie widmete sich den Problemen der Region isoliert voneinander und getrennt von denen des übrigen Europas.“5
Der Plan wurde von insgesamt 38 Ländern verabschiedet und unterstützt, darunter die Europäische Union, die Vereinigten Staaten, Russland, Japan und die Staaten der Region wie auch 15 internationale Organisationen einschließlich der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds, der NATO und der OSZE. In seinem Kern standen ein „Regionaltisch Südosteuropa“ und drei „Untertische“, um Projekte zu koordinieren und zu fördern:
–ein Arbeitstisch für Demokratisierung und Menschenrechte, darunter unter anderem Projekte für die Wiederherstellung von Achtung für und Zusammenarbeit unter ethnischen Gemeinschaften, für die Ausbildung von Staatsangestellten und Politikern, für Unterstützung bei der Gesetzgebung, der Entwicklung von Nichtregierungsorganisationen und für die Zusammenarbeit mit auswärtigen Parlamenten;
–ein Arbeitstisch für den wirtschaftlichen Wiederaufbau, Entwicklung und Zusammenarbeit einschließlich von Projekten für die Stärkung der Privatisierung, Unternehmerschaft, Investitionen, wirtschaftlicher Zusammenarbeit unter den Ländern der Region, die Liberalisierung von Handel und Projekte für die regionale Infrastruktur;
–ein Arbeitstisch für Sicherheitsfragen einschließlich von Rechtswesen und Innenministerium (Polizei, der Kampf gegen Korruption und internationales Verbrechen usw.) und Fragen von Verteidigung und militärische Sicherheit (wie etwa die demokratische Kontrolle von Streitkräften, Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie Maßnahmen zur Konfliktprävention).
Die Europäische Union, die in Absprache mit den anderen Partnern einen Koordinator ernennt, und alle anderen Vertragsparteien verfolgen Projekte innerhalb dieses Rahmenwerks, wobei einige recht umfangreich sind. Die Europäische Union allein gibt der Region über eine Milliarde Euro pro Jahr. Darüber hinaus verfolgt sie ein ausgefeiltes Programm bilateraler Beziehungen mit den Ländern in diesem Gebiet mit dem Ziel ihrer engeren Assoziierung mit der Union auf verschiedene Art und Weise. Obwohl es beträchtliche Probleme bürokratischer Natur gibt, ungenügende Koordination zwischen den vielfältigen Programmen und unzureichende Zusammenarbeit von Seiten der lokalen und regionalen Verwaltungen auf dem Balkan übt die innovative Vorgehensweise eine recht große Wirkung aus, und zwar aus verschiedenen Gründen.
Positive Wirkung
Erstens geht der Stabilitätspakt die Quellen des ethnischen Konflikts auf der Ebene der Gesellschaft an, wo sie ihren Ausgangspunkt haben, und errichtet Kooperationsstrukturen der zivilen Gesellschaft.
Zweitens sind die Vorgehensweisen in einem hohen Maß von regionalem Charakter oder ermutigen grenzüberschreitende Aktivitäten – und dadurch oft interethnische Zusammenarbeit.
Drittens wird eine strenge Konditionalität angewandt, wonach jeder Nutzen abhängt von der Einhaltung der Kriterien wie der angemessenen Behandlung von Minderheiten.
Viertens ist das Ziel der Mitgliedschaft in der Europäischen Union eine bedeutende Antriebskraft für Reformen. Wie es der erste Koordinator, Bodo Hombach, gesagt hat: „Dieses Leuchtfeuer muss immer am Brennen gehalten werden.“6 Slowenien wird der Europäischen Union im Jahr 2004 beitreten, Bulgarien und Rumänien sind Kandidaten für die nächste Runde. Und auf dem EU-Gipfel im Juni 2003 in Thessaloniki wurde den anderen Staaten des Westbalkans erneut die „Aussicht der künftigen Mitgliedschaft“ angeboten, wenn auch nicht mit genauen Daten. Überdies hat die Mitgliedschaft in der NATO, die verschiedenen Staaten der Region auf dem Prager Gipfeltreffen der NATO im Jahr 2002 angeboten worden war, einen ähnlichen Effekt für die Unterstützung des internen Übergangs gehabt. Sowohl die Europäische Union wie das Atlantische Bündnis stellen Modelle für Beziehungen zwischen Staaten dar, die in der Vergangenheit gegeneinander kostspielige Kriege geführt haben, doch jetzt diese Vergangenheit überwunden und ein verlässliches und fest verwurzeltes Friedenssystem untereinander errichtet haben.
Fünftens sind eine Reihe von Ländern und internationalen Organisationen, besonders die EU und ihre Mitglieder, bereit, beträchtliche finanzielle und administrative Ressourcen aufzubieten, um den Reformprozess zu unterstützen.
Schließlich sind zahlreiche Länder, besonders jene in der NATO und in der Europäischen Union, bereit, für einen längeren Zeitraum Streitkräfte in die Region zu entsenden, womit sie dem Transformationsprozess erlauben, sich zu festigen, ohne durch ethnische Gewalt zerstört zu werden.
Trotz der besonderen Umstände des Balkans können eine Reihe von Lektionen aus dieser Erfahrung gewonnen werden, die relevant dafür sein könnten, wie man mit ethnischen Konflikten in anderen Teilen der Welt umgeht:
Erstens muss die Militärmacht der internationalen Gemeinschaft in einem frühen Stadium jedes Konflikts glaubhaft zur Verfügung stehen, um vor ethnischer Gewalt abzuschrecken oder um sie durch eine Intervention zu stoppen, bevor ein blutiger Teufelskreis von Gewalt, Rache und Gegenrache beginnen kann.
Zweitens muss eine Strategie zur Unterbindung ethnischer Konflikte in zwei parallelen Bewegungen verlaufen: zum einen von unten nach oben, bei den Wurzeln ansetzend, indem sie kooperative Strukturen der Zivilgesellschaft errichtet; zum andern von oben nach unten, durch äußere Beeinflussung der politischen Führungen, die mittels strikter Konditionalität für kooperatives Verhalten belohnt werden.
Drittens muss während des gesamten Prozesses eine glaubwürdige internationale Streitkraft vor Ort präsent sein, fähig und bereit zu handeln, und für einen Zeitraum verpflichtet, der lang genug ist, um das Wiederaufflammen von Gewalt zu verhindern und die Entstehung lokaler Strukturen zu erlauben, die verlässlich einen sicheren Frieden gewährleisten können.
Anmerkungen
1 Vgl. dazu David Hamburg, Ethnische Konflikte. Ursachen, Eskalation und präventive Vermittlung, in: Europa-Archiv, 4/1993, S. 117 ff.
2 Vgl. zur Vorgeschichte und dem Ausbruch des Konflikts Angelika Volle, Wolfgang Wagner (Hrsg.), Der Krieg auf dem Balkan. Die Hilflosigkeit der Staatenwelt. Beiträge und Dokumente aus dem Europa-Archiv, Bonn 1994.
3 Vgl. die Auszüge in: Angelika Volle, Werner Weidenfeld (Hrsg.), Der Balkan zwischen Krise und Stabilität. Beiträge und Dokumente aus Internationaler Politik, Bielefeld 2002; hier: S. 98 ff.
4 Vgl. Unfinished Peace. Report of the International Commission on the Balkans, Aspen Institute Berlin, Carnegie Endowment for International Peace, S. 74.
5 Vgl. die Rede des deutschen Außenministers, Joschka Fischer, am 10. Juni 1999 zum Stabilitätspakt für Südosteuropa beim EU-Außenministertreffen in Köln, in: Internationale Politik, 8/1999, S. 130 ff., hier S. 131.
6 Bodo Hombach am 26. Oktober 2001, über: <http://www.stabilitypact.org>.
Internationale Politik 11, November 2003, S. 20 - 28