Den Geist in die Flasche sperren?
Der britische Kampf gegen amerikanische Industriepiraten
Westliche Staaten und Firmen versuchen mit allerlei Rechtsmitteln zu verhindern, dass sich Produzenten in der Dritten Welt urheberrechtlich geschütztes Know-how aneignen. Doch das historische Beispiel der USA zeigt, dass Industriespionage der Königsweg zum wirtschaftlichen Erfolg ist. Großbritannien gelang es jedenfalls nicht, den Abfluss von Wissen und Technologie in seine ehemaligen nordamerikanischen Kolonien aufzuhalten.
Um das Thema Wirtschaftsspionage wird heute viel Aufhebens gemacht. Ein Großteil der industriellen Produktion wurde während der letzten Jahrzehnte in Entwicklungsländer ausgelagert, wo Rohstoffe in Fülle vorhanden und Lohnkosten niedrig sind. Westliche Firmen haben sich zu High-Tech-Betrieben entwickelt und damit hoch spezialisiertes Wissen zur wirtschaftlichen Grundlage der Industrienationen gemacht. Geistiges Kapital hat sich als größtes Plus internationaler Unternehmen erwiesen, die nun stärker als jemals zuvor versuchen, firmeninternes Wissen zu schützen. Angestellte müssen sich vertraglich verpflichten, kein Wissen an die Konkurrenz weiterzugeben. Alles, was nicht niet- und nagelfest ist, wird patentiert oder urheberrechtlich geschützt. Firmen errichten ausgefeilte elektronische Schutzwälle um zu verhindern, dass Konkurrenten ihre Datenbanken anzapfen, und machen Softwareingenieuren, die Filesharing-Programme und Trojaner entwickeln, die Wirtschaftsspionage ermöglichen könnten, mit Abmahnungen und Klagedrohungen das Leben schwer.
Niemand bestreitet, dass die kommerzielle Nutzung von patentierten und urheberrechtlich geschützten Branchengeheimnissen illegal und unethisch ist und dass Unternehmen das Recht haben, alles zu tun, um dergleichen zu unterbinden. Da ihre Bemühungen nur begrenzten Erfolg haben, bitten amerikanische Unternehmen nun allerdings die Regierung um Hilfe. Das begründen sie mit der Gefahr, die Piraterie für den letzten verbliebenen amerikanischen Marktvorteil darstellt, und verweisen auf die volkswirtschaftlichen Kosten. 1996 verabschiedete der Kongress ein strenges Gesetz gegen Wirtschaftsspionage, und die USA haben den Urheberrechtsschutz erfolgreich zum Topthema wirtschaftlicher und diplomatischer Foren gemacht.
In der derzeitigen Diskussion über Urheberrechte wird bisweilen suggeriert, dass eine Erfindung gleichsam eine Schöpfung aus dem Nichts sei. Doch Erfindungen hängen meist stark von vorausgehenden Erkenntnissen ab und bringen selten grundsätzlich Neues in die Welt. Ob eine Neuerung als schützenswerte Erfindung betrachtet wird, hängt von politischen und rechtlichen Entscheidungen ab. Eine Erfindung, die nicht praktisch genutzt und von Investoren finanziert wird, hat kaum einen Wert. Die Entwicklung eines separaten Kondensators für Dampfmaschinen 1769 durch James Watt war zum Beispiel ein technologischer Durchbruch ersten Ranges. Der Marktwert war jedoch gering, da Watt keine weiteren Einsatzmöglichkeiten einfielen, außer der, Wasser aus Minen zu pumpen. Es bedurfte Matthew Boultons Investition von Kapital und Zeit sowie Watts Einsatz des Differenzialkolbens im Jahre 1781, um den Motor in ein funktionierendes Mühlwerk umzuwandeln.
Es ist jedoch unmöglich, organisatorische oder verfahrenstechnische Änderungen urheberrechtlich zu schützen, die meist mehr zu Produktionsfortschritten beitragen als verbesserte Gerätschaften. Technologie als geistiges Eigentum zu definieren, setzt voraus, dass das Wissen um Verfahren, Prozesse und Maschinen einen kommerziellen Wert in sich selbst hat, unabhängig von den Waren, die mithilfe dieses Wissens produziert werden. Anders als materieller Besitz hat geistiges Eigentum keine „natürliche“ Erscheinungsform. Es ist eine Fiktion, die ausschließlich durch die Autorität des Staates real wird. Sie privilegiert diejenigen, die es sich leisten können, die Konkurrenz per Gerichtsverfahren auszuschalten. Microsoft, der heute einflussreichste Eigentümer von Ideen, verdankt seine Stellung, genau wie der erfolgreichste Patentinhaber des 18. Jahrhunderts, Richard Arkwright, weniger kreativem Genie als einem prall gefüllten Geldbeutel, der es erlaubt, Konkurrenten auf juristischem Wege auszuschalten.
Staaten wie Firmen haben immer verstanden, wie elementar Wissen für ihre Prosperität ist. Unsere heutigen Probleme sind nichts Neues, daher würden wir von einer historischen Horizonterweiterung sehr profitieren. Die heutige amerikanische Position ist vergleichbar mit der Großbritanniens an der Schwelle zum 19. Jahrhundert. Die Siege in den Kolonialkriegen des 18. Jahrhunderts dehnten das britische Weltreich bis Indien und Nordamerika aus. Großbritanniens Aufstieg zur bedeutendsten Weltmacht geht mit der Industrialisierung des Inselreichs einher. Kaum jemand hielt diese zeitliche Übereinstimmung für bloßen Zufall. Die Zeitgenossen verstanden, wie wichtig die neuen Technologien für die erfolgreiche Industrialisierung waren. Dementsprechend gab es auch damals schon Industriespionage. Beim Sturm auf britische Technologien um die Wende zum 19. Jahrhundert war die junge amerikanische Republik führend und wandte Methoden an, auf die heutige Industriepiraten stolz wären. Damit katapultierten sich die Vereinigten Staaten in die Position der weltweit führenden Industrienation. Eine sorgfältige Betrachtung des angloamerikanischen Kampfes um Handelsgeheimnisse vermag zu zeigen, wie vergeblich der Versuch ist, den freien Wissensstrom einzugrenzen.
Merkantilistische Abschottung
Populären Irrtümern zum Trotz war die Textilbranche nicht der Motor, sondern das Sorgenkind der britischen Industrialisierung. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden englische Lederwaren, Metallwaren und Werkzeuge auf der ganzen Welt gehandelt. Die gleichzeitige Entwicklung der Kohlekraft ermöglichte es den Produzenten, menschliche (und tierische) Arbeitskraft durch Kohle zu ersetzen, was einen gewaltigen Produktivitätsanstieg bedeutete. Mit der Modernisierung der Textilindustrie in den 1770er Jahren, der Erschließung von Tiefgruben und massenhafter Metallgutfertigung etablierten sich britische Ingenieure und Handwerker als führend nicht nur bei Endprodukten, sondern auch in der äußerst wichtigen Maschinenbaubranche. Die Welle von Innovationen ermöglichte es britischen Herstellern, der weltweiten Nachfrage nach britischen Produkten zu entsprechen. Nicht einmal der Verlust der nordamerikanischen Kolonien in den 1770er Jahren gefährdete die industrielle Dominanz des Empire.1
Großbritannien war die einzige globale Supermacht, deren Wirtschaft alle Ecken und Winkel der Welt erreichte. Britische Staatsmänner wussten, dass die Vormachtstellung der Insel auf ihrer wirtschaftlichen Überlegenheit beruhte, und waren daher entschlossen, diesen Vorsprung zu bewahren. In der Logik des Merkantilismus war die Geheimhaltung von Produktionsabläufen unabdingbar, um die vorteilhafte Handelsbilanz mit den europäischen Rivalen zu erhalten (nach merkantilistischer Lehre das wichtigste Kriterium für Macht und Wohlstand). Nach der gleichen Logik musste man die Auswanderung ausgebildeter britischer Handwerker in die nordamerikanischen Kolonien verhindern, da ihre Abwanderung in die Neue Welt das Ende ihres Beitrags zum Exportgeschäft bedeutete. Vor der amerikanischen Revolution bildeten die britische Metropole und die Kolonien theoretisch eine gemeinsame englische Nation, in der London genau vorschrieb, welche Industriezweige und welche Produktionsschritte in den Kolonien erlaubt waren.
Zeitgleich mit der Industrialisierung des Mutterlands durchliefen die nordamerikanischen Kolonien eine grundlegende demographische und ökonomische Transformation, die die ehemaligen atlantischen Außenposten in pulsierende Wirtschaftsräume verwandelte. Natürlich begrüßten die britischen Behörden die Konsumsteigerungen in der Neuen Welt – mehr als 50 Prozent der britischen Exporte gingen in die Kolonien, hauptsächlich nach Nordamerika.2 Gleichzeitig fürchteten sie jedoch, dass dieser Boom die industrielle Vorherrschaft der Metropole bedrohen könnte. 1756 versuchte die britische Handelskammer, den Aufschwung der amerikanischen Industrie zu verhindern, indem sie den Export von Maschinen in die Kolonien verbot. Den Export von Fachwissen konnte diese Maßnahme jedoch nicht aufhalten. Die technischen Errungenschaften des 17. und 18. Jahrhunderts beruhten auf den geistigen Leistungen von Individuen. Industriepiraten spezialisierten sich daher darauf, Facharbeiter und Fabrikdirektoren zur Emigration zu bewegen.3
Den britischen Politikern war bewusst, dass qualifizierte Arbeiter, die Waren für den Export herstellten, der Insel einen Vorsprung vor der europäischen Konkurrenz verschafften. Doch Abwanderungsbeschränkungen waren sogar im engmaschig kontrollierten Kolonialreich nicht durchsetzbar. Potenzielle Migranten ließen sich höchstens am Abfahrtshafen noch aufhalten. Sobald das Schiff jedoch abgelegt hatte, war das Spiel gelaufen. Weder wurden die Auswanderer in ihr Herkunftsland zurückgeschickt, um sich für die Verbreitung von Wirtschaftsgeheimnissen zu verantworten, noch schickte man ihnen Vollzugsbeamte hinterher. Zwei Jahre nach der Verabschiedung des Wool Act im Jahre 1699 wurde ein Gremium einberufen, um die Effektivität des Gesetzes zu bewerten. Der Ausschuss fand heraus, dass die Kolonien die Beschränkungen für die lokale Wollproduktion schlicht ignorierten, und drang auf eine strengere Durchsetzung der Maßnahmen.4
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts reagierte die britische Regierung alarmiert auf „die große Zahl der Fabrikanten, die sich nach Amerika ausschiffen“5 und verbot die Auswanderung qualifizierter Handwerker in die Kolonien. Das Parlament entschied, dass alle Auswanderungswilligen, die sich in Nordamerika ansiedeln wollten, 50 Pfund pro Kopf zu zahlen hatten. Auch das half nichts. Allein im Februar 1767 wanderten über 100 ausgebildete Weber nach Boston und New York aus. Zwischen 1760 und 1775 verschlechterte sich das Verhältnis zwischen London und den Kolonien. 125 000 Einwanderer kamen in diesem Zeitraum von den britischen Inseln nach Nordamerika. 1774, ein Jahr vor Beginn der amerikanischen Revolution, verbot die Krone die Auswanderung von Mechanikern in die Kolonien.6
Der Unmut der Erfinder
Die amerikanische Unabhängigkeit rief noch größere Ängste hervor als bisher. Schärfere Gesetze waren die Folge, die auch konsequent angewendet wurden. Die Ausfuhr von Gerätschaften für die Produktion von Textilien, Leder, Papier, Metall, Glas und Uhren wurde in den 1780er Jahren untersagt. Besonders umfassende Einschränkungen gab es im Bereich der Textilindustrie. Robert Owen schreibt, dass in den 1780er Jahren „Baumwollmühlen für alle Fremden geschlossen waren. Niemand erhielt Einlass. Sie wurden mit großem Argwohn gegen alle Eindringlinge bewacht: die äußeren Tore waren stets verschlossen“.7 Auf den Export oder versuchten Export von Industrieanlagen stand eine Strafe von 200 Pfund, Einzug der Ausrüstung und zwölf Monaten Gefängnis. Die Ausfuhr von Dampfmaschinen war 1785 vorübergehend verboten.
Nichtsdestoweniger hielt die Migration in die ehemaligen Kolonien an und stieg nach dem Frieden von 1783 weiter an. Londoner Beamte waren besorgt, weil viele der Auswanderer über Fähigkeiten verfügten, die die Vereinigten Staaten schnell in einen industriellen Konkurrenten Großbritanniens verwandeln konnten. 1788 erkundigte sich die britische Regierung bei ihren Konsulaten in den Vereinigten Staaten, ob die neu ankommenden Einwanderer für ihre Reise bezahlt haben oder bereits Arbeitsverträge hatten. Vor allem wollte das Ministerium wissen, mit welchen Angeboten potenzielle Einwanderer angelockt wurden. Der britische Abgeordnete Phineas Bond stieß auf Krempelmaschinen, die illegal nach Philadelphia verschifft worden waren, kaufte sie zurück und sandte sie wieder nach England.8 Auf Auswanderung standen härtere Strafen als auf Maschinenschmuggel. Nach den neuen Gesetzen durften Handwerker und Fabrikanten aus Großbritannien und Irland keine Gebiete außerhalb des Empire bereisen. Arbeiter in der Textilindustrie durften noch nicht einmal die britischen Inseln verlassen. Illegalen Auswanderern wurde die Staatsangehörigkeit entzogen, ihr Besitz wurde konfisziert, und im Falle einer Festnahme konnten sie des Landesverrats angeklagt werden.9
Das Exportverbot für Maschinen beschränkte sich nicht auf patentierte Erfindungen. Patente blieben nur für eine bestimmte Anzahl von Jahren und nur innerhalb der britischen Staatsgrenzen Eigentum des jeweiligen Erfinders. Nach dem Ende der Patentfrist wurden Neuerungen zu öffentlichem Eigentum und wurden den merkantilistischen Verordnungen des Empire unterworfen. Dieses Prinzip war noch schwieriger durchzusetzen. Der erfolgreichste englische Patentinhaber des 18. Jahrhunderts, Richard Arkwright, vermisste die Wertschätzung für seine Entwicklungsarbeit von Seiten des Parlaments und der Regierung und drohte damit, „Gebrauchsanleitungen und Kupferstichplatten aller Geräte und ihrer Einzelteile zu veröffentlichen, so dass sie auch fremden Nationen bekannt werden mögen.“ Als Arkwrights Patentmonopol 1785 ungültig wurde, blieben die Exportbeschränkungen gleichwohl bestehen. Voller Bitterkeit über eine solche Behandlung durch britische Gerichte teilte Arkwright sein Wissen William Pollard mit – im vollen Bewusstsein, dass dieser sich in die Vereinigten Staaten aufmachen würde.10
Wirtschaftswunder durch Piraterie
Der Versuch Großbritanniens, seine Wirtschaftsgeheimnisse zu bewahren, wurde von den Vereinigten Staaten gezielt unterminiert. Keiner der Gründerväter fühlte sich an die britischen Beschränkungen gebunden. Franklin bezeichnete sie als „haltlos“, „boshaft“ und „tyrannisch“ und beklagte, dass sie „England in ein Gefängnis verwandeln, in das man Männer einsperrt, deren einziges Verbrechen es ist, nützlich und fleißig zu sein.“11 John Adams, Alexander Hamilton, Thomas Jefferson und George Wa-shington waren der gleichen Meinung und verhängten keine Strafen über jene, die gegen die englische Geheimhaltungspolitik verstießen.
Als Washington Präsident wurde, betrieb die junge Nation eine zweigleisige Politik. Nachdem kurz in Erwägung gezogen wurde, Technikpiraterie direkt zu fördern, bekämpfte die Regierung offiziell diese Praxis. Der Kongress setzte 1790 einen wegweisenden Standard für das Urheberrecht, der die Voraussetzung für ein Patent in den USA so hoch wie nur möglich hängte: nämlich weltweite Neuheit und Originalität. Im Gegensatz zu anderen Ländern wie Großbritannien, die Urheberrechtsverletzungen belohnten, indem sie Patentprivilegien an Importeure von Technologie verliehen, die gar nicht die Erfinder waren, ließ die junge Republik keine importierten Patente zu. Obwohl die industrielle Entwicklung der USA auf den Import neuer Technologien angewiesen war, setzte das amerikanische Patentrecht ein einzigartiges und grundsätzliches Zeichen gegen Urheberrechtsverletzungen.
Doch dieses erste amerikanische Patentgesetz war bloße Fassade, hinter der die Republik geistigen Diebstahl und Industriespionage in großem Maßstab förderte. Piraterie fand unter den Augen von Regierungsbeamten statt – oftmals mit deren ausdrücklicher Ermutigung. Niemals schützte der Kongress das geistige Eigentum europäischer Schriftsteller und Erfinder; die Amerikaner zahlten nicht für den Nachdruck literarischer Werke oder den Gebrauch geschützter Patente.
Die Ausmaße dieses Phänomens und dessen breite Akzeptanz in der Öffentlichkeit werden durch eine wenig bekannte Anekdote aus dem Leben von Paul Revere illustriert. Der Bostoner Silberschmied hat seinen festen Platz in der amerikanischen Nationalgeschichte wegen seines wagemutigen Kurierritts, den er im April 1775 unternahm, um die Einwohner von Concord und Lexington vor den heranrückenden britischen Truppen zu warnen. Ein Vierteljahrhundert später nahm Revere allerdings an einem patriotischen Feldzug ganz anderer Art teil. Der ehrgeizige Handwerker entschloss sich zum Bau des ersten Kupferwalzwerks in der jungen Nation. Das brachte ihm ordentlichen Profit und machte Amerika gleichzeitig von britischen Importen unabhängig. Leider war das notwendige Know-how in Nordamerika nicht vorhanden. Folglich ließ Revere die englischen Walzwerke ausspionieren und eröffnete mit dem so gewonnenen Wissen und einem Kredit der Bundesregierung 1800 sein Kupferwalzwerk in Canton, Massachusetts. Ein Jahr später schaltete Revere in einer Bostoner Zeitung die folgende Anzeige: „Zu verkaufen: Schrauben, Bolzen, Nägel &c &c aus geschmiedetem Kupfer, ganz wie aus britischer Herstellung.“ Dieser Held der amerikanischen Revolution rühmte sich also selbst voller Stolz, ein Technologiepirat zu sein.12
Die laxe Umsetzung der Urheberrechtsgesetze war der Hauptmotor des amerikanischen Wirtschaftswunders. Die USA gaben sich keine Mühe, ihre bahnbrechenden Patentgesetze umzusetzen, und schon gar keine, sich an die britischen Restriktionen zum Schutz ihrer Wirtschaftsgeheimnisse zu halten. Samuel Slater und Francis Cabot Lowell, die berühmten Gründer der amerikanischen Textilindustrie, waren stolz auf die eigene Durchtriebenheit, mit der sie die entsprechenden englischen Gesetze umgingen. Zwar patentierten sie die Ergebnisse ihrer Raubzüge nicht auch noch, aber das wäre durchaus möglich gewesen, und andere taten es auch: Mehr als ein bisschen Papierkram und der Schwur, man sei wirklich der Erfinder, war dazu nicht nötig. William Thornton, der erste Patentbeamte, der das Patentamt von 1802 bis 1828 fast allein führte, hatte weder die Neigung noch die Mittel, das zu überprüfen. Obwohl die amerikanischen Gesetze es nicht erlaubten, in Europa bereits bekannte Erfindungen in den USA patentieren zu lassen, überprüfte das Patentamt entsprechende Anträge kaum. Sehr gut möglich, dass während der ersten Jahrzehnte der amerikanischen Unabhängigkeit die meisten erteilten Patente gestohlenes geistiges Eigentum betrafen.
Die englischen Merkantilisten versuchten unermüdlich, die Verbreitung von industrieller Technologie zu unterbinden. Das dichte Netz aus Gesetzen und Verordnungen, das Handwerker und Maschinerie im Land halten sollte, blieb in Kraft. Bisweilen gelang es den Behörden sogar, ein paar Handwerker an der Emigration zu hindern. Während des Krieges von 1812 versuchte die britische Regierung, die Anwendung dieser Gesetze zu verschärfen. Am 23. Juli 1814 verkündete das Königshaus, dass ausgewanderte britische Bürger vier Monate Zeit hätten, freiwillig in ihr Mutterland zurückzukehren; andernfalls würden sie wegen Hochverrats angeklagt. Das war ein Schuss ins Blaue, aber er landete einige Treffer. 1815 etwa wurden am Liverpooler Hafen fünf Linsenschleifer verhaftet, die sich nach Amerika eingeschifft hatten. Doch die gelegentliche Verhaftung eines Ausreisewilligen konnte die Ineffektivität der gesamten Politik nicht verschleiern.13 Der Kronrat versuchte zwischen 1814 und 1824 die Emigration aller ausgebildeten Arbeiter insgesamt zu verbieten. Aber man konnte mit der Angabe eines falschen Berufs die Verhaftung ganz einfach umgehen. Die Aussicht auf bessere Bezahlung und höheren sozialen Status war jedes Risiko wert. In Briefen bereits ausgewanderter Freunde und Verwandter war zu lesen, dass „jedermann, gleich welchen Berufs, ob in Handwerk oder Industrie, durch ehrlichen Fleiß und gewöhnliche Klugheit ein gutes Auskommen für sich und seine Familie erreichen kann. Die Löhne sind mindestens doppelt so hoch wie in England und viermal so hoch wie in Frankreich. Das Land ist arm an Bevölkerung, die Nachfrage nach jeder Art von Arbeit groß. So reich die Fülle an Grund und Boden, so gering der Preis. Die Steuern sind niedrig, die öffentliche Verschuldung ist kaum eine Last.“ Folgerichtig stieg die Zahl der Immigranten mit geschütztem industriellen Wissen, von Maschinenbauern bis zu Webern, die das Risiko der Atlantik-Überquerung auf sich nahmen, zwischen 1800 und 1820 signifikant an.14
Zwischen zweieinhalb und drei Millionen Immigranten aus Großbritannien ereichten bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs die USA. In Reiseberichten aus jener Zeit ist die Rede von einer „Blüte des Manufakturwesens“ in den USA und von unzähligen Erfolgsgeschichten von Einwanderern, die es zu Erfolg und Ansehen gebracht haben.15 Die britische Regierung musste die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen, die Ausreisewelle aufzuhalten, schließlich eingestehen. 1824 wurden alle Ausreisebeschränkungen für Handwerker aufgehoben.16 Die Ausfuhrbeschränkungen für Maschinen blieben bestehen, doch da die Auswanderer ihr Wissen mitnahmen, ließ sich der Abfluss britischen Know-hows nicht verhindern. In den 1820er Jahren gewann die Freihandelsbewegung an Einfluss, vor allem weil die britische Maschinenindustrie Druck auf die Regierung ausübte, den Export fortgeschrittener Technik zuzulassen. Zwei Jahrzehnte später schaffte das Parlament auch diese Gesetze ab.
Amerikaner und Europäer, die sich derzeit über ausländischen Wissensklau aufregen, vergessen dabei, dass es vor 200 Jahren genau anders herum lief. Piraterie ermöglichte erst die rasante Industrialisierung des Nordostens der USA in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die gezielten Anstrengungen der britischen Regierung, das Leck zu stopfen, durch das ihre Branchengeheimnisse abflossen, konnten diesen Prozess nicht aufhalten.
Das historische Erfolgsmodell
Können die USA und die EU mit einem Konzept Erfolg haben, mit dem Großbritannien damals gescheitert ist? Wohl kaum. Den britischen Regierungen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts standen weit größere Zwangsmittel zur Verfügung als den heutigen westlichen Demokratien, die die Bewegungsfreiheit ihrer Bürger nicht einschränken können. Und doch konnten die Briten die Welle nicht aufhalten. Der Transfer fortschrittlicher Produktionstechnologien in die Entwicklungsländer zeigt, dass kein Land im Alleingang den Schutz seiner Urheberrechte politisch durchsetzen kann. Wenn multinationale Firmen ihre Produktion in Entwicklungsländer auslagern, offenbaren sie damit gleichzeitig ihre Branchengeheimnisse den einheimischen Wettbewerbern. Fortschrittliche Produktionstechniken finden in Ländern statt, in denen Piraterie keineswegs verpönt ist. Die entsprechenden Firmen haben kaum Möglichkeiten, um zu verhindern, dass einheimische Unternehmer importierte Technologien abkupfern und ausländische Unternehmer dadurch verdrängen. Wenn sich die Muster der Vergangenheit nun innerhalb kurzer Frist wiederholen, werden Unternehmer aus der Dritten Welt mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln westliche Branchengeheimnisse knacken und die benötigten Produkte selber herstellen.
Die Industrieländer haben internationale Organisationen wie die WTO und die WIPO (World Intellectual Property Organization) gegründet, um Piraterie auf dem gesamten Erdball verfolgen zu können. Die USA setzen sich für einen Beitritt von Ländern wie Vietnam zur WTO vor allem deswegen ein, um sie zur Einhaltung von dessen Politik zum Schutz des Urheberrechts zu zwingen. Formal respektieren sämtliche WTO-Mitglieder Urheberrechte, und die WTO ist befugt, Länder mit Sanktionen zu belegen, die internationale Abkommen zum Schutz des Urheberrechts missachten. In der Realität bemühen sich die Entwicklungsländer indes kaum, solche Abkommen umzusetzen. Warum sollten sie auch nicht dem historischen Erfolgsbeispiel Amerikas folgen, Urheberrechte in der Theorie zu schützen und in der Praxis zu umgehen? Für die Regierungschefs von Entwicklungsländern lohnt es sich, zu besagten Abkommen Lippenbekenntnisse abzulegen, gelegentlich eine Lagerhalle voller schwarz gebrannter CDs auszuheben und besonders augenfällige Rechtsverletzungen zu bestrafen, im Übrigen aber groß angelegte Piraterie zuzulassen. Der Aufstieg der Vereinigten Staaten lehrt, dass das eine höchst erfolgversprechende Strategie ist.
In den USA hält man einen strengeren Urheberrechtsschutz oft für das Allheilmittel gegen strukturelle ökonomische Probleme. Außenministerin Condoleezza Rice versprach am 18. Januar 2005, die aus dem Gleichgewicht geratene sino-amerikanische Handelsbilanz wieder ins Lot zu bringen, indem sie die Chinesen dazu bringen wolle, „strengere Urheberrechtsgesetze einzuführen und, was noch wichtiger ist, sie auch durchzusetzen.“ Keiner der Senatoren fragte nach dem Sinn, der Machbarkeit oder der Effektivität dieses naiven Vorhabens.
Kein Gesetz kann einen qualifizierten Arbeiter, der seinen Beruf andernorts ausüben möchte, auf Dauer davon abhalten. Nach Schätzungen des FBI werden 70 Prozent aller Informationen, die amerikanische Firmen ohne Erfolg geheim halten wollten, von ehemaligen Mitarbeitern ausgeplaudert. Beim Schutz der wichtigsten technologischen Geheimnisse sieht unsere Bilanz schlecht aus. Einige der bedrohlichsten Regime konnten wir nicht davon abhalten, sich das Know-how und das Material zur Herstellung von Kernenergie zu beschaffen. Und letztlich ist es so scheinheilig wie nutzlos, knappe ökonomische und politische Ressourcen zur Durchsetzung westlicher Urheberrechtsstandards in Entwicklungsländern aufzubieten. Denn das wichtigste Kapital jedes Landes sind nicht die Erfindungen von gestern, sondern die Innovationen von morgen.
DORON BEN-ÅTAR ist Historiker an der Fordham University und Autor des Buches „Trade Secrets: Intellectual Piracy and the Origins of American Industrial Power“ (2004).
- 1Paul Kennedy: The Rise and the Fall of the Great Powers, New York 1987, S. 120.
- 2 Jacob Price: The Imperial Economy, in: The Oxford History of the British Empire, Band II, S. 87.
- 3 Robert B. Gordon und Patrick M. Malone: The Texture of Industry: An Archaeological View of the Industrialization of North America, New York 1994, S. 14–20; Christine McLeod: Inventing the Industrial Revolution, Cambridge (England) 1988, S. 108; David J. Jeremy: Transatlantic Industri- al Revolution: The Diffusion of Textile Technologies between Britain and America, 1790–1830s, Cam- bridge (MA) 1981, S. 43–49.
- 4 Robin Blackburn: The Making of New World Slavery: From the Baroque to the Modern, 1492-1800, London 1997, S. 515; Commissioners of Trade at the Plantations Report to Parliament, Mai 1701, in: Proceeds and Debates of the British Parliament, Band II, S. 386.
- 5Ray Nicholas: The Importance of the Colonies of North America, London 1766, S. 8.
- 6 Carl Bridenbaugh: The Colonial Craftsmen, New York 1950, S. 136; Leslie Page Moch: Moving Europeans. Migration in Western Europe since 1650, Bloomington/Indiana1992, S. 64; Richard Hofstadter: America at 1750: A Social Portrait, New York 1971, S. 3–4.
- 7Robert Owen: The Life of Robert Owen, London 1857, S. 31.
- 8 Doron Ben-Åtar: Trade Secrets; Intellectual Piracy and the Origins of American Industrial Power, New Haven 2004, S. 78–82.
- 9 William Smith: A Caveat against Emigration to America, London 1803, S. 15, 26, 31; Maldwyn A. Jones: Ulster Emigration, 1783–1815, in: E.R.R. Green (Hrsg.): Essays in Scotch-Irish History, London 1969, S. 54.
- 10 Anthony F.C. Wallace und David J. Jeremy: William Pollard and the Arkwrigth Patents, Wil- liam and Mary Quarterly, 3rd Series, Nr. 34 (Juli 1977), S. 404.
- 11 Benjamin Franklin an Henry Royle, Joseph Heathcote, John Rowbotham und John Schofield, 4. Januar 1782, Franklin Papers, Kongressbibliothek.
- 12 Columbian Centinel, 21. Februar 1801; National AEGIS, 28. Oktober 1807.
- 13 Raleigh Star, 22.12.1815; A.E. Musson: The ‚Manchester School’ and Exportation of Machinery, in: Business History XVI, Januar 1972, S. 19.
- 14 Robert Holditch: The Emigrant’s Guide to the United States of America, London 1818, S. 21.
- 15 An Englishwoman (Fanny Wright): Views of Society and Manners in America, London 1821, S. 389; S.H. Collins: Emigrant’s Guide to and Description of the United States of America, London 1830, S. 17, 75; Charlotte Erickson: Invisible Immigrants: The Adaptation of English and Scottish Immigrants in 19th-century America, Ithaca 1972, S. 230.
- 16 Robert Holditch, (Anm. 14), S. 41. Vgl. auch Thomas Young: A Course of Lectures on Natural Philosophy and the Mechanical Arts (2 Bde.), London 1807, I, S. 2; Lucy Brown: The Board of Trade and the Free Trade Movement, Oxford 1958, S. 161–165.
Internationale Politik 4, April 2006, S. 118 - 125