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01. Apr. 2008

»Demokratie ist instabil«

Wie verträgt sich der Islamismus mit unserer Freiheit? Gibt es Gründe, Politikern zu vertrauen? Welche Schönheiten birgt die Globalisierung?
Ein Gespräch mit der ungarischen Philosophin Ágnes Heller über die Schwächen demokratischer Gesellschaften, die radikale Absage an Utopien und die Wurzeln des europäischen Antiamerikanismus.

IP: Frau Professor Heller, Sie haben in ihrem Leben immer wieder über Glauben und Vertrauen in der Politik geschrieben – und in die Politik. Gibt uns die Politik noch Anlass zum Glauben, zum Vertrauen?

Heller: Man braucht an Politiker nicht zu glauben. Man glaubt ja nur an einen Diktator oder einen König. Aber in der Demokratie glaubt man nicht an einen Politiker, der fordert das auch gar nicht. Glaube ist etwas Unbedingtes. Und in der demokratischen Politik gibt es nichts Unbedingtes, nur Bedingtes. Vertrauen kann man geben, und man kann es wieder nehmen. Dem demokratischen Politiker kann man vertrauen, so er denn ein redlicher Politiker ist. Aber das ist nie absolut, das ist nicht unbedingt.

IP: Kann man denn an die Demokratie als Ideal glauben?

Heller: Demokratie ist kein Ideal. Ich denke, Churchill hatte recht: Die Demokratie ist eine schlechte politische Ordnung, aber noch immer die beste, die wir haben. Warum? Weil niemand für das ganze Leben einen Staat lenken und beherrschen kann. Man wählt Menschen auf Zeit, für drei Jahre oder fünf Jahre. Politiker haben Zeit und die Möglichkeit, Gedanken zu entwickeln, Programme zu verwirklichen, und die Leute sehen, ob sie dies tun oder nicht. Das heißt nicht, dass ich in die Bevölkerung größeres Vertrauen habe als in die Politiker – nur ebenso großes Vertrauen. Und ich glaube auch nicht, mit Aristoteles, dass, wenn tausend Menschen zusammen sind, ihr Urteil besser ist als das Urteil eines einzigen Menschen.

IP: Aristoteles irrte?

Heller: Ja, das stimmt doch nicht! Politik ist eben etwas, wo es keine festen Regeln gibt, auch keine Gesetze, sondern allein die Größe der Prozentzahlen. Da passiert sehr viel zufällig. Wir können wählen, wir können etwas zurücknehmen, wir können unsere Fehler einsehen. Dass alles veränderbar ist, allein das ist stabil. Und in der Demokratie kann man etwas verändern, auch radikal verändern.

IP: Auch ohne Gewalt?

Heller: Ich möchte nicht mit Habermas behaupten, dass rationale Argumentation Gewalt ersetzen kann – da ist er utopisch. Aber Kompromisse, egoistische Interessen, auch rationale Begründungen – das alles zusammen kann Gewalt ersetzen. In diesem Sinne ist Demokratie die beste politische Form, die wir haben, obwohl sie sehr labil ist.

IP: Wo sehen Sie ihre größte Schwäche?

Heller: Klassische Monarchien waren stabil, das ist die Stabilität der Tradition. Die heutige Gesellschaft und ihre politischen Einrichtungen, ob Demokratie oder Diktatur, sind nicht mehr stabil. Nichts in der modernen Welt kann mehr stabil sein.

IP: Hat das auch mit einer Veränderung des Individuums zu tun? Auch in Ihrem eigenen Denken hat sich das Verständnis des Einzelnen in der Gesellschaft stark verändert.

Heller: Mit meiner Philosophie passierte etwas, das mit der heutigen Demokratie und mit der Moderne im Allgemeinen zusammenhängt. Wir alle wissen, dass metaphysische Systeme nicht mehr möglich sind. Systeme kann man nicht konstruieren, besonders, wenn es Systeme sind, die nicht zeitlich, sondern räumlich sind. Metaphysische Systeme sind räumlich, wir aber denken immer in der Zeit, auf die Zukunft hin. Zeit wurde eine der wesentlichsten philosophischen Kategorien der Moderne. Hinzu kommt, dass es heute keine philosophischen Schulen mehr gibt. Wir, die Budapester Schule, waren eine der letzten.

IP: Sie haben unlängst einmal gesagt, dass für Sie die Arbeit an der Philosophie eine Schuld ist, die Sie für den Umstand abtragen, die Schoa überlebt zu haben. Und dass Sie irgendwann in den letzten Jahren den Zeitpunkt gesehen haben, wo diese Verpflichtung erfüllt ist und Sie sich noch einmal anderen Themen zuwenden können.

Heller: Das stimmt. Aber ich glaube, es war mehr als die Pflicht der Überlebenden. Natürlich hat man ein schlechtes Gewissen: Andere starben, ich überlebte. Aber mir ging es vor allem um die Frage: Wie war das moralisch, wie war das geschichtlich möglich? Es war mein Lebensziel geworden, auf diese Fragen zu antworten.

IP: Haben Sie eine Antwort gefunden?

Heller: Natürlich habe ich auf diese Fragen keine Antwort gefunden. Das heißt, ich habe viele Antworten gefunden, aber keine Antwort ist „die“ Antwort. Aber die wesentliche Sache ist doch, die Fragen zu stellen.

IP: Ist eine Philosophie, die solche Fragen stellt, eine radikale Philosophie?

Heller: Alle Philosophie ist radikal. Es gibt nichts Radikaleres, als den Menschen zu sagen, dass alles, was sie denken und glauben, nur ein Schein ist. Gute Philosophie ist wie das Fragen der Kinder. Sie stellen immer radikale Fragen: Warum ist das so? Warum muss ich dies machen, warum kann ich nicht das machen? Und die Erwachsenen werden nervös und sagen: Weil es eben so ist! Stell keine dummen Fragen! Aber das Kind hinterfragt das Selbstverständliche. Die Radikalität der Philosophie liegt darin, stets solche Fragen zu stellen.

IP: Ist es heute nicht auch Aufgabe der Philosophie, die Frage nach dem Ort des Politischen zu stellen? Nach Räumen und Orten politischen Handelns in einer von ökonomischen und funktionalen „Sachzwängen“ beherrschten globalisierten Welt?

Heller: Es gibt doch solche Räume des Politischen. Schauen Sie nach Pakistan, schauen Sie nach Jerusalem, schauen Sie auf die Vorwahlen in den USA – da geht es um Politik. Um politisches Handeln, das in gemeinsamem Tun und Sprechen entsteht, ganz im Sinne Hannah Arendts. Wie funktionieren diese Wahlen? Die Menschen sitzen in einem Saal, sie sprechen, sie diskutieren. Es gibt keine geheime Wahl, die Bürger wählen öffentlich. Das ist Politik, demokratische Politik!

IP: Und wie verhält es sich mit der Globalisierung? Mit der Bedeutung des Ortes? Des Raumes?

Heller: Wenn mich heute jemand danach fragt, dann wird immer unterstellt, Globalisierung sei eine schlechte Sache. Aber ich schelte sie nicht. Es geht hier doch um ganz unterschiedliche Dinge: In der Unterhaltungsindustrie etwa haben wir ein amerikanisch geprägtes Modell. Aber auch die so genannte „hohe Kunst“ wurde globalisiert. Wenn ich in Stockholm in eine Ausstellung afrikanischer Gegenwartskunst gehe, was sehe ich? Ganz ähnliche Installationen, Videokunst, Gemälde wie in Amerika. Wenn wir in Amerika im Konzert Musik japanischer Komponisten hören, wenn ungarische Komponisten in China oder in Tunesien berühmt sind, was ist schlecht daran?

IP: Gar nichts, sagen Sie.

Heller: Heute sagen wir, wir haben den Bezug zum Ort, die Volkskunst verloren. Vielleicht stimmt das, vielleicht aber auch nicht. Denn die so genannte Volkskunst geht ja in die „hohe Kunst“ und ins Entertainment hinein – denken wir an den Jazz, den Rock. Das geht alles ineinander über, warum sollte man da über Verlust klagen? Auch die Philosophie wurde in diesem Sinne globalisiert – sie war europäisch, heute ist sie nicht mehr allein eurozentriert. Was ist also schlecht daran? Wenn man in der Globalisierung nur die Probleme sieht, dann entgehen einem ihre Schönheiten.

IP: Wo liegen denn die Probleme?

Heller: Das Problem der Globalisierung liegt in der Ökonomie, nicht in der Kultur. Und auch nicht in der Globalisierung des Marktes, denn der Markt ist doch die Form der Verteilung in der modernen Welt. Nein, es geht um das Problem der Redistribution, der Wiederverteilung auf globaler Ebene. Dafür fehlt es an Institutionen. Es gibt Armut und Reichtum, weil es nicht zur Wiederverteilung kommt. Das ist ein wirkliches, konkretes Problem. Aber die Globalisierung als solche nicht.

IP: Hört man Globalisierungskritikern zu, etwa Antonio Negri und Michael Hart, dann wird der Marxismus – oder präziser: der Neomarxismus – als Möglichkeit gesehen, sich diesen Problemen zu stellen. Analytisch, aber auch auf der Ebene praktischer Problemlösung.

Heller: Es gibt keinen Marxismus! Es gab einen großen Denker namens Karl Marx. Wer heute von Marxismus redet, der beweist nur, dass ihm nichts Originelles einfällt. Karl Marx ist eine große Inspiration, er hat viele inspiriert, auch mich, und er inspiriert mich noch heute. Alles, was Marx über die Gegenwart gesagt hat, stimmt doch. Er sagte: Es wird zur Zentralisierung des Kapitals kommen, zur Kapitalisierung der Landwirtschaft, zur Globalisierung. Für Marx war Globalisierung eine positive Entwicklung, nicht partikularistisch, sondern universal. Sobald er aber von der Überwindung des Kapitalismus sprach, hat er Dinge gesagt, die überhaupt keinen Sinn machen.

IP: Der Kommunismus, ein grandioser Irrtum?

Heller: Was er über Kommunismus gesagt hat, ist wunderschön, aber es macht überhaupt keinen Sinn. Es ist nicht nur unrealistisch – es ist auch nicht wünschenswert. Es ist ein Traum, wie das Schlaraffenland. Mit seiner Beschreibung des Kapitalismus kann man hingegen sehr viel anfangen. Marx kann helfen, Phänomene zu beschreiben. Aber wie man die Phänomene verändert – dazu hat er nichts gesagt, was wir heute nützen könnten. Alles was in dieser Welt geschieht, passiert in der Moderne. In dieser Welt, in der wir geboren sind, wo wir sterben werden. Wenn man aber von einer transzendenten Welt träumt, dann verwirkt man die Gelegenheit, diese Welt zu verbessern.

IP: Wie verhält sich diese Absage an das Utopische mit Ihrer Arbeit zur Religion? Sie haben gerade eine kleine Kritik des Metaphysischen entwickelt …

Heller: Marx war ein Metaphysiker, das ist keine Neuigkeit. Aber die Religion hat damit gar nichts zu tun. Die Transzendenz, die Unsterblichkeit der Seele, die Auferstehung des Fleisches – das ist in unserer Welt nur ein sehr zweitrangiger Aspekt der Religion. Religion ist heute vor allem Gottverhältnis. Deswegen liebe ich Kierkegaard so sehr, der wusste darum.

IP: Was lässt sich aus der Religion für den Umgang mit Vielfalt lernen? Die Pluralität ist als positiver Aspekt der Globalisierung immer auch bedroht von Fundamentalismen, der Verabsolutierung eigener Wahrheitsvorstellungen.

Heller: Institutionalisierte Religionen haben nicht notwendigerweise ein Verhältnis zum Glauben der Menschen, oder dem Gottverhältnis, dem unbedingten Vertrauen. Dort geht es um Traditionen, Zeremonien, die Schaffung eines sozialen Verhältnisses. Alle Menschen, die im Geiste einer Religion an Gott glauben, sind der Überzeugung, dass sie die Wahrheit besitzen. Doch kann man dies nicht als Gemeinsamkeit verstehen? Alle monotheistischen Religionen glauben an einen Gott. Darüber sollten wir sprechen. Das ist etwas, was uns verbindet.

IP: Auch mit dem Islam?

Heller: Den Islam missbraucht man doch jetzt als ideologische Waffe. Man übersetzt die Sprache einer Religion in die Sprache einer totalitären Ideologie. In derselben Weise, wie man zum Beispiel die Sprache der Klasse oder die Sprache der Rasse in eine fundamentalistische Ideologie verändert hat. Fundamentalistische Ideologien können atheistisch, aber sie können auch religiös sein. Heute ist der Islamismus eine fundamentalistische Ideologie, die den Islam aus- und abnützt.

IP: Können demokratische Gesellschaften auf diese Form des Fundamentalismus reagieren?

Heller: Nur sehr schwer. Es ist eine konfliktvolle Lage, deswegen ist auch die Demokratie labil. Denn Demokratie darf nicht fundamentalistisch sein, sie soll vielmehr Pluralismus anerkennen. Aber wenn man Fundamentalismen anerkennt, anerkennt man auch eine fundamentalistische Ideologie. Das ist ein Paradox der Demokratie: Man kann mit diesen Fundamentalismen keine Kompromisse machen, muss sie aber doch innerhalb der Demokratie tolerieren.

IP: Und wenn man sie nicht toleriert – was passiert dann mit unseren Freiheiten und Rechten?

Heller: Das hängt immer von der konkreten Situation ab. Doch wo die Gefahr einer manifesteren Entwicklung zur Gewalt besteht, kann die Demokratie dies nicht tolerieren. Ein Beispiel: Es gibt eine ungarische Webseite, die antisemitische, rassistische, gewaltverherrlichende Propaganda veröffentlicht, Propaganda gegen Sinti und Roma. Die Regierung wollte etwas gegen sie unternehmen, aber der Server befindet sich in den USA. Und dort sagen Gerichte und Behörden: Das gehört zur freien Meinungsäußerung, und die Ameri-kaner sind der festen Überzeugung, dass nichts wichtiger ist als sie.

IP: In der amerikanischen Verfassungstradition ist die Freiheit der Rede Ursprung und Kern des Schutzes der Grundrechte. Heute kann man in Europa im Verhältnis zu den USA fast von einer Art enttäuschter Liebe sprechen: Amerika ist für uns noch immer das Land der Menschenrechte, obwohl diese im „Krieg gegen den Terror“ erheblich beschnitten werden.

Heller: Ich möchte dagegen halten, dass gerade die Meinungsfreiheit nicht eingeschränkt ist. Natürlich gab es Dinge, die man nicht hätte tun sollen, Guantánamo etwa. Das ist jedoch etwas, das die Amerikaner selbst nicht tolerieren, die amerikanische Presse schreibt Tag und Nacht darüber – viel mehr als die europäische. Aber der Antiamerikanismus in Europa, besonders in Deutschland, hat mit diesen Dingen nur sehr wenig zu tun.

IP: Ist er ein neues Phänomen?

Heller: Nein, Antiamerikanismus gab es schon vor Clintons Präsidentschaft! Bereits 1981 konnte ich das im Bonner Hofgarten erleben, bei den Demonstrationen gegen den NATO-Doppelbeschluss. Ich habe die Reden der Friedensbewegung gehört, die spritzten vor Antiamerikanismus! Sie sagten uns damals, Amerika sei eine Gefahr für die Welt – und die Sowjetunion der friedensliebendste Staat in der Welt. Das hatte mit dem Irak noch überhaupt nichts zu tun! Heute ist der Antiamerikanismus in Europa sehr stark, und er wird auch nach dem Ende der Amtszeit von Bush nicht verschwinden. Das hat psychologische Gründe – wahrscheinlich geht es um Kränkungen.

IP: Welcher Art?

Heller: Es hängt wohl damit zusammen, dass Amerika Europa zweimal von totalitären Mächten errettet hat. Ein Mensch wird es nicht verzeihen, wenn er einem anderen immer dankbar sein muss. Wir verzeihen dem anderen nicht, dass er uns gerettet hat. Warum sollten Völker anders handeln? Churchill kniete beinah vor Roosevelt und flehte um Hilfe, damit nicht Europa und mit ihm die ganze humane Idee verloren sei. Sie wissen, wie schwer es Roosevelt fiel, Amerika in den Krieg zu bringen. Die Amerikaner wollten nicht, der Kongress wollte nicht, niemand wollte. Er hat all seine Kraft aufgewendet.

IP: Mit Erfolg …

Heller: Ja, die Amerikaner haben Europa wirklich gerettet, erst vor Hitler, später vor Stalin. Wären die amerikanischen Soldaten nicht gewesen, wären die Europäer unter die Herrschaft der Sowjets gefallen. So war die Situation, und das kann man eben nicht verzeihen. Nicht nur in Deutschland – auch nicht in Frankreich, in Italien. Besonders die Linke nicht, die ist emotional komplett antiamerikanisch. Natürlich kritisiert man Bush auch in Amerika. Aber in Europa, in Westeuropa, ist damit ein solcher Antiamerikanismus verbunden, ein solcher Hass, das kann man rational überhaupt nicht verstehen.

IP: Die mittel- und osteuropäischen Staaten haben zu den USA ein anderes Verhältnis, denken wir an den Konflikt um den Irak-Krieg …

Heller: Ja, uns hat Amerika nicht gerettet, darum sind wir auch nicht antiamerikanisch.

IP: Und wie demokratisch ist heute das Fundament der Politik in den osteuropäischen Staaten – fast 20 Jahre nach dem Fall des eisernen Vorhangs?

Heller: In Ungarn politisieren alle, aber die Leute denken sehr wenig über die Politik nach. Es gibt zwei große Parteien, die sich durch Vorurteile und Hass formieren. Sie wollen die je andere Seite nicht verstehen. In all diesen Ländern, wo die Demokratie neu ist, hat man keine Ahnung davon, was die Amerikaner „public fiction“ nennen …

IP: „Public fiction“?

Heller: Wenn jemand etwas sagt, dann glaubst du, dass das, was er sagt, seine Meinung ist. Du stellst nicht in Frage, warum er das sagt – nur, was er sagt. Und wenn du es widerlegen willst, widerlegst du, was er sagt – nicht, warum er es sagt. Weil er ehrgeizig ist? Weil er Geld hat? Weil er dich hasst? Diese Fragen kann man nicht stellen – dabei wissen alle, dass es eine Fiktion ist. Denn natürlich haben die Leute unterschiedlichste Motivationen. Aber darüber darf man in der Demokratie nicht sprechen.

IP: Demokratietechnisch sind Ihre Landsleute also noch immer hilflose Anfänger?

Heller: Die Ungarn haben keine Ahnung von „public fiction“. Sie sprechen über die Motivationen, und immer nur über die Motivationen der anderen. Und zu jeder politischen Partei gehört der Hass, der tiefe Hass auf die Repräsentanten der anderen Partei. Es gibt Unterschiede, natürlich. Aber wir haben eben keine Übung in demokratischer Politik. Und Demokratie muss man einüben!

IP: Das mussten wir ja auch. Sehen Sie Parallelen zum Deutschland der Jahre nach 1945?

Heller: Wenn Sie über Deutschlands Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg nachdenken, werden Sie feststellen, dass in den ersten 15 bis 20 Jahren der deutschen Nachkriegspolitik demokratisches Verhalten noch nicht eingeübt war. Und in Osteuropa sind noch keine 20 Jahre vergangen. Gleich nach dem Systemwechsel wurde ein Mensch, der sich nie mit Politik beschäftigt hatte, Ministerpräsident und Chef einer Partei – so was kann nicht funktionieren. Sehr viele talentierte, kluge Leute sind politisch vollkommen ungebildet. Sie haben keine Ahnung von demokratischer Politik. Das sehen wir gerade in allen osteuropäischen Ländern – in Ungarn, in der Slowakei, in Polen, in Estland, von Russland gar nicht zu reden.

IP: Haben Sie denn Hoffnung, dass sich dennoch eine demokratische Form politischer Kultur entwickeln kann?

Heller: Das hängt von vielen unwägbaren Voraussetzungen ab. Wenn sich die wirtschaftliche Lage verbessert, sind die Menschen eher dazu geneigt, demokratisch zu handeln. Aber auf diese Frage kann ich wohl keine Antwort geben. Natürlich wollen wir die Geschichte beeinflussen – nicht die Weltgeschichte, nicht die große Geschichte, nicht die utopische –, sondern diese konkrete Geschichte, dass sich in Ungarn demokratische Strukturen und Traditionen entwickeln können. Das müssen wir mitbestimmen, dafür handeln, sprechen wir, gehen wir ins Fernsehen. Doch was es bewirkt – ich weiß es nicht.

Das Gespräch führte Alexandra Kemmerer.

ÁGNES HELLER, geb. 1929 in Budapest, verlor ihren Vater und weitere Verwandte durch den Holocaust. Die Meisterschülerindes marxistischen Philosophen Georg Lukács war als Mitglied der „Budapester Schule“ nach der Revolution 1956 wiederholt Repressionen ausgesetzt und verlor ihre Universitätsstelle. 1977 emigrierte sie nach Australien, 1986 folgte sie einem Ruf an die New School for Social Research in New York. Seit 1989 lehrt sie auch wieder in Budapest.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, April 2008, S. 114 -121

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