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01. Jan. 2008

Déjà vu im Zweistromland

Das britische Mandat als "Blaupause" des neuen Irak?

Lassen sich aus der Geschichte Schlüsse für die Zukunft des Irak ziehen? Ja, sofern man den richtigen Bezugspunkt wählt. Der ist nicht Vietnam, sondern der Irak selbst, etwa die britische Mandatszeit in den zwanziger Jahren. Ein seriöser Wiederaufbauplan hätte zudem die Resultate aus 80 Jahren irakischer Entwicklung berücksichtigen müssen.

Wie viele andere moderne Staaten des Vorderen Orients und Nordafrikas entstammt auch der Irak der territorialen Hinterlassenschaft des Osmanischen Reiches. Großbritannien hatte im Ersten Weltkrieg u.a. die osmanischen Provinzen Bagdad, Basra und Mosul erobert und aufgrund des britisch-französischen Sykes-Picot-Geheimabkommens von 1916 vereinnahmt. Am 25.4.1920 bestätigte der Völkerbund die britische Herrschaft in Form eines Mandats: die Geburtsstunde des modernen Irak.

Während des Krieges hatte London davon profitiert, dass viele Einheimische die osmanische Herrschaft ablehnten. Das arabische Nationalbewusstsein war in dem Maße gewachsen, in dem sich die osmanische Elite ihres Türkentums besonnen hatte. Die kurdische Bevölkerung der Provinz Mosul hoffte sogar, mit Hilfe der Ententemächte einen eigenen Staat zu bekommen. Ähnlich wie die beiden größten ethnischen Gruppen verhielten sich auch Sunniten und Schiiten, die vorherrschenden Konfessionen des Irak. Viele der vor allem in der Provinz Bagdad siedelnden arabischen Sunniten begeisterten sich für die Taten von Faisal Bin Hussein, dem Sohn des Scherifen von Mekka, der an der Seite der Briten gegen die Osmanen kämpfte. In seinem Korps dienten auch zahlreiche irakische Offiziere. Die arabischen Schiiten, die Mehrheitsbevölkerung im Mandatsgebiet, hatten noch gewichtigere Gründe für die Ablehnung der Osmanen. Seitdem der iranische Nachbar 1501 den Schiismus als Staatsreligion übernommen hatte, galten die schiitischen Einwohner des osmanischen Reiches, namentlich in den Grenzprovinzen, in Istanbul als „unsichere Kantonisten“, wenn nicht gar als „5. Kolonne der Perser“. Obwohl die Hohe Pforte ihren schiitischen Untertanen – spät genug – 1908 immerhin das Recht auf freie Religionsausübung zugestanden hatte, änderte das wenig daran, dass die Schiiten diskriminiert und unterdrückt blieben.

Über die Konfessionsgrenzen hinweg erschien der Kampf gegen die Osmanen also vielen Arabern als lukrativ, galt es doch als ausgemacht, dass die Briten ihre Verbündeten am Ende des Krieges mit der Unabhängigkeit belohnen würden. Bis zum Waffenstillstand von Mudros im Oktober 1918 war London natürlich an der Aufrechterhaltung der Fiktion von der britisch-arabischen Waffenbrüderschaft interessiert. Noch im Januar 1918 hatte die britische Regierung, gemeinsam mit der französischen, eine Deklaration über die „Befreiungsmission“ verfasst, die den „von den Türken unterdrückten Völkern“ die Souveränität nach dem „Sieg über den gemeinsamen Feind“ verhieß.1 Als allerdings nach Kriegsende klar wurde, dass Londons Pläne weder Befreiung noch Unabhängigkeit vorsahen, sondern die Schaffung von Einflusszonen aus der osmanischen Konkursmasse, kam es zu ersten Unruhen im Irak. Die Veröffentlichung der Sykes-Picot-Bestimmungen durch Sowjetrussland tat ein Übriges. Letzte Zweifel zerstreute die Mandatserteilung im April 1920. Kurz danach kam es zu einem Aufstand der arabischen Bevölkerung. Sunniten und Schiiten bildeten eine gemeinsame Führung. Die Kurden beteiligten sich allerdings nicht, weil sie die britische Fürsprache für ihre Unabhängigkeit nicht aufs Spiel setzen wollten und die Revolte überdies als Ausdruck von arabischem Nationalismus ansahen.

Obwohl den Briten die Niederschlagung des Aufstands gelang, erschien ihnen nun die direkte Machtausübung als zu kostspielig. Für die indirekte Herrschaftsausübung bot sich der ehemalige Verbündete Faisal Bin Hussein an. Am 27.8.1921 erfolgte seine Krönung, der Irak wurde eine Monarchie.

Land der tausend Scheichs

Als erfahrener Kolonialmacht stand Großbritannien am Ende des Ersten Weltkriegs ein erprobtes Instrumentarium zur Verfügung, um ein Mandatsgebiet wie den Irak auch gegen den Willen der Einheimischen zu regieren. Natürlich mussten – wie stets – einige lokale Besonderheiten berücksichtigt werden; im Falle des Irak etwa die außerordentliche soziale, politische und wirtschaftliche Rückständigkeit, das Fehlen nahezu jeglicher Affinität zwischen den Provinzen und die dadurch bedingte Bedeutung der Stämme sowie der konfessionellen und ethnischen Faktoren für die Durchsetzung der Herrschaft.

Aufgrund der geringen sozialen Differenzierung war die Stammeszugehörigkeit das wichtigste gesellschaftliche Strukturmerkmal. Die Briten waren daher daran interessiert, die noch weit verbreiteten egalitären Elemente des Stammeslebens zu schwächen und sich eine Schicht loyaler Stammesführer und Grundbesitzer zu schaffen. Schon 1916 hatte die britische Armee Stammeschefs in den eroberten Gebieten zu Herren über Leben und Tod ihrer Klientel erklärt. Die „Tribal Criminal and Civil Disputes Regulation“ wurde 1925 in die Verfassung übernommen und blieb bis zum Sturz der Monarchie 1958 gültig.2 1919 überführte eine „Bodenreform“ bisheriges Gemeineigentum an Boden in den Besitz von Stammesführern, Großgrundbesitzern und reichen Städtern. Etwa tausend Personen erhielten damit mehr als 90 Prozent aller Ländereien und machten den Irak zum „Land der tausend Scheichs“. Sie scherten zwar aus der Unabhängigkeitsbewegung aus, waren zahlenmäßig aber zu schwach, um das Freiheitsstreben in Gänze zu unterdrücken. Für die Kontrolle der Mehrheit wurde – einmal mehr – „Teile-und-herrsche“ praktiziert.

Unter ethnischen Vorzeichen spielten die Briten die Kurden gegen die Araber aus. Nachdem die kurdische Abstinenz den arabischen Aufstand von 1920 geschwächt hatte, schlug sich die britische Mandatsverwaltung danach sukzessive auf die Seite der Araber, weil sich deren Bestreben der Einbeziehung der erdölreichen Provinz Mosul in den Irak mit den britischen Interessen deckte. Der Vertrag von Lausanne begrub 1923 die mit dem Vertrag von Sèvres drei Jahre zuvor geweckten Hoffnungen der Kurden auf einen eigenen Staat. Was die Konfessionen angeht, so trachteten die Briten danach, die Gräben zwischen Schiiten und Sunniten zu vertiefen. Hochkommissar Percy Cox war die Niederschlagung des Aufstands von 1920 nicht zuletzt deshalb gelungen, weil er sunnitische Notabeln mit dem Angebot, eine „nationale Regierung“ zu bilden, zur einseitigen Beendigung der Kampfhandlungen bewegt hatte. Die probritische Regierung trat am 27.10.1920 zusammen.

Damit übernahmen die Briten faktisch die auch unter den Osmanen praktizierte einseitige Begünstigung der arabischen Sunniten. Das hing jedoch nicht mehr mit Glaubensfragen zusammen, sondern mit erprobtem politischen Kalkül. Es hatte sich bewährt, in abhängigen Gebieten die Minderheit gegen die Mehrheit zu unterstützen. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im irakischen Mandatsgebiet bot sich aus britischer Sicht die Bevorzugung der etwa 20 Prozent arabischer Sunniten geradezu an. Hier kulminierte die bewährte Methode in der Inthronisierung Faisal Bin Husseins. Als Haschemit aus dem Hedschas besaß er im Irak selbst unter den einheimischen Sunniten keine eigene Basis und war daher a priori auf britisches Wohlwollen angewiesen. Natürlich bedeutete Faisals Krönung auch einen zusätzlichen Affront für die schiitische Mehrheit, die vergeblich auf ein Ende ihrer Diskriminierung hoffte.

In den turbulenten Jahren bis zum Ende des formalen Mandats (1932) waren die wechselnden britischen Hochkommissare deshalb zusätzlich daran interessiert, Widersprüche und Konflikte im schiitischen Mehrheitsblock zu schüren. Der größte Erfolg gelang ihnen in dieser Hinsicht 1921 mit der temporären Ermutigung des „Basra Separatist Project“. Ziel des Projekts war die Schaffung von „kuwaitischen Bedingungen“ für die kosmopolitische Kaufmannschaft Basras, die die nunmehrige „Nähe“ Bagdads angesichts der früheren „Ferne“ Istanbuls als Rückschritt empfand. Die vorgeschlagene „Konföderation Irak und Basra“ sollte im Teilstaat Basra ein Reglement wie im britischen Protektorat Kuwait einführen. Immerhin schwächte der separatistische Impetus die schiitische Schlagkraft bis zum Ende der zwanziger Jahre.3 Erst danach bildeten die Schiiten wieder die entscheidende numerische Basis für das irakische Streben nach Unabhängigkeit. Sie stellten die Mehrheit in den Oppositionsparteien, nicht zuletzt in der 1934 gegründeten Kommunistischen Partei und in der seit 1950 im Irak wirkenden Baath-Partei.

Irak befreien heißt sich selbst befreien

In den Jahrzehnten nach dem Ende der formalen Mandatsherrschaft bildete sich in den Kämpfen gegen die fortdauernde britische Bevormundung ein irakisches Nationalbewusstsein heraus. Zwar wirkte das Erbe der fremdbestimmten Staatsgründung nach, weil die Auflehnung gegen die Fremdherrschaft in den von ebenjener fremden Macht gezogenen Grenzen stattfand. Doch in der Abwehr des britischen Einflusses fand die sozial, ethnisch und konfessionell weiterhin sehr heterogene irakische Bevölkerung ihren kleinsten gemeinsamen Nenner. Irak zu befreien hieß, sich selbst zu befreien. Selbst als das im Jahr 1958 politisch gelungen war, schweißte der Kampf um die Kontrolle der reichen Naturressourcen Kurden und Araber, Sunniten und Schiiten weiter zusammen. Die Konflikte zwischen ihnen lösten sich mitnichten auf, aber sie bestimmten nicht mehr primär Sein und Bewusstsein. Den überzeugendsten Beweis für diese Entwicklung lieferten die unvermindert diskriminierten irakischen Schiiten, als sie im achtjährigen Krieg gegen den Iran (1980–1988) nicht zu den iranischen Glaubensbrüdern überliefen, sondern ihr Heimatland Irak verteidigten.

Die Verstaatlichung der Erdölwirtschaft 1972, die praktisch mit der Preisexplosion auf dem Welterdölmarkt ein Jahr später zusammenfiel, lieferte die Grundlage für einen rasanten Wirtschaftsaufschwung in den siebziger Jahren. Die seit 1968 an der Macht befindliche Baath-Partei investierte in Industrie und Landwirtschaft, aber auch in Bildung und Gesundheit. Das allgemeine Bildungsniveau der Bevölkerung stieg merklich, Wissenschaft und Forschung blühten auf, im Irak entstand die stärkste Mittelschicht der arabischen Welt; auch in Sachen Frauenemanzipation er-oberte der Irak einen regionalen Spitzenplatz.4 Die Machtübernahme Saddam Husseins 1979 und seine zunehmend diktatorische Herrschaft brachten diese Entwicklungen zu einem abrupten Halt. Schon 1980 begann Saddam den Krieg gegen den Iran, 1991 annektierte er Kuwait.

Faktisch lebte eine ganze irakische Generation zwischen 1980 und 2003 entweder direkt oder indirekt im Krieg oder hatte mit den Folgen, insbesondere dem seit 1991 herrschenden rigiden UN-Sanktionsregime, zu kämpfen. Die Regression traf Intellektuelle und Mittelschichten besonders hart, doch selbst Krieg und Diktatur trugen zu einer Nivellierung der ethnischen und konfessionellen Widersprüche bei, wenngleich natürlich unter negativen Vorzeichen. Jahrzehntelang forcierte Binnenmigration, Regimeterror und insbesondere die Auswirkungen des internationalen Embargos resultierten in neuen Trennlinien innerhalb der irakischen Gesellschaft (etwa zwischen Stadt und Land, staatlichen und Stammesstrukturen sowie vor allem zwischen Arm und Reich), die die traditionellen Linien nicht ersetzten, aber doch überlagerten. Folgerichtig hätte nach dem Sturz der Diktatur eigentlich die 1979 abgebrochene Entwicklung fortgesetzt werden müssen.

Aufbruch in die Vergangenheit?

Mit dem zeitlichen Abstand zur angloamerikanischen Intervention im Irak mehren sich die Stimmen, die den Einmarsch nicht so sehr im Kontext von 9/11 sehen, sondern eher davon ausgehen, George W. Bush habe dadurch die 1991 von seinem Vater abgebrochene Kampagne zum Sturz Saddam Husseins zu einem Abschluss bringen wollen.5 Angesichts des weltweiten Widerstands gegen die Angriffspläne auf einen souveränen Staat (selbst die ständigen Sicherheitsratsmitglieder Frankreich, Russland und China stellten sich vehement gegen die Pläne) war in Washington und London klar, dass die Invasion wohlbegründet sein musste. Die zunächst bemühten „harten“ Kriegsgründe, Saddam Hussein die Verfügungsgewalt über Massenvernichtungswaffen zu entziehen und seine Verbindungen zu Osama Bin Ladens Terrornetzwerk zu kappen, erwiesen sich schon vor Kriegsbeginn als haltlos. Erst aus dieser Notsituation heraus wurde knapp drei Wochen vor dem Angriff ein dritter Grund für den Waffengang angeführt, nämlich der Wunsch, dem irakischen Volk „Freiheit und Demokratie“ zu bringen.6

Abgesehen von der ethischen Fragwürdigkeit dieses Versuchs einer externen Demokratisierung mit militärischen Mitteln gemahnt das Anliegen – wiewohl sicherlich unbeabsichtigt – an den Geist der anglofranzösischen „Befreiungsmission“ von 1918. Diese Analogie stand am Beginn einer erstaunlichen Reihe weiterer Parallelen zwischen Mandats- und Nachkriegsirak. Ähnlich wie im Falle Faisal Bin Husseins 1921 hatten Briten und US-Amerikaner auch dieses Mal Personen für die Wahrnehmung politischer Funktionen nach dem Regimesturz vorgesehen, die im Irak – bis auf die Kurdenführer Massud Barzani und Jalal Talabani – faktisch unbekannt waren. Ahmad Chalabi, der vor allem vom Pentagon favorisierte Chef des „Iraqi National Congress“, der vermeintlichen Dachorganisation der irakischen Opposition, war seit dem Ende der Monarchie 1958 nicht mehr im Irak gewesen. Chalabi und seine Begleiter zeigten sich rasch außerstande, die ihnen zugedachte Rolle der indirekten Machtausübung auszufüllen. Deshalb sahen sich die Eroberer gezwungen, anders als 1920 den Irak direkt zu regieren. Diese Aufgabe übernahm ab Mai 2003 die „Coalition Provisional Authority“ (CPA). Im kollektiven Gedächtnis der Iraker wurden jetzt allerdings Erinnerungen an die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg wach, als sich die „Befreiungsmission“ als Camouflage für die Ersetzung der einen durch eine andere Fremdherrschaft entpuppte. Ebenso wie die Mehrheit der Einheimischen 1918 das Ende der osmanischen Oberhoheit begrüßt hatte, feierte sie auch 2003 das Ende der Diktatur Saddam Husseins: Allerdings wurden in beiden Fällen aus Befreiern Besatzer. Der Perspektivwechsel führte jedes Mal zu erbittertem Widerstand – mit dem Unterschied, dass die USA als tonangebende Macht innerhalb der CPA weit weniger auf diesen Widerstand vorbereitet waren als weiland Großbritannien.

Fataler Schritt

Schon die ersten Tage und Wochen nach dem Regimewechsel vermittelten den Eindruck, als stünde das Engagement, das man in Washington bei der Vorbereitung des Militärschlags an den Tag gelegt hatte, in einem krassen Missverhältnis zu dem Eifer, mit dem man den Wiederaufbau danach geplant hatte. Ob Überheblichkeit, Dilettantismus oder beides, die fehlende Strategie veranlasste die CPA zu einem fatalen Schritt: der Wiederbelebung der britischen „Teile-und-herrsche“-Politik entlang ethnischer und konfessioneller Trennlinien. Als seien 80 Jahre folgenlos vergangen, besetzte die CPA im Juli 2003 den „Interim Governing Council“ (IGC), die erste irakische Selbstverwaltungsinstitution nach dem Regimewechsel, nach einem strikten ethnisch/konfessionellen Proporz.7 Der Proporz war für alle weiteren administrativen Einrichtungen bis zu den Wahlen von 2005 verbindlich, wirkte aber auch danach – Stichwort Verfassungskommission – nachhaltig weiter.

Der unmittelbar intendierte Zweck, das Ausspielen der ethnischen und konfessionellen Gruppen gegeneinander für die eigene Machtsicherung zu nutzen, funktionierte nicht einmal in Ansätzen. Die von den Briten favorisierten arabischen Sunniten hatten das gerade gestürzte Baath-Regime getragen, die arabischen Schiiten kamen ob ihres numerischen Übergewichts gut ohne US-Unterstützung aus und wurden zudem – einmal mehr – verdächtigt, im Sold des Iran zu stehen. Die Kurden zeigten sich zwar überwiegend loyal, mit ihnen allein war aber kein irakischer Nationalstaat wiederzubeleben. Nicht genug, dass Ethnisierung und Konfessionalisierung der politischen Landschaft keine Vorteile für die CPA mit sich brachten, sie sorgten dafür, dass sich innergesellschaftliche Widersprüche weiter zuspitzten. Gerade durch die forcierte Reduzierung der Iraker auf ihre ethnische Herkunft oder ihr Glaubensbekenntnis erhielten Optionen einer neuen ethnisch/konfessionellen Diktatur oder eines Bürgerkriegs neue Nahrung. Die Verzweiflung über ausbleibende oder nur schleppende Erfolge veranlasste das US-Oberkommando in Bagdad auch nach der formalen Wiederherstellung der irakischen Souveränität zu weiteren Rückgriffen in das britische Arsenal der Mandatszeit. General David Petraeus schwört unterdessen auf den Nutzen der Stämme bei der Bekämpfung des islamistischen Untergrunds.8

Die tiefen Gräben zwischen den verschiedenen Volksgruppen und Konfessionen ließen sich auch 2003 nicht leugnen, aber gerade weil sich im Kampf um nationale Souveränität und gegen äußere Feinde ein gemeinsames irakisches Nationalgefühl herausgebildet hatte, war der Irak längst mehr als die Summe aus kurdischem Norden, sunnitisch-arabischer Mitte und schiitisch-arabischem Süden. Die in den siebziger Jahren rapide gewachsene, gebildete urbane Mittelschicht war durch Kriege, Sanktionen und Diktatur zwar erheblich geschwächt, blieb für eine reale Demokratisierung aber unverzichtbar. Deshalb wäre ihre Stärkung das Gebot der Stunde gewesen und nicht die Hofierung von Exilpolitikern, Geistlichen und Stammesführern. Ein seriöser Wiederaufbauplan hätte – gegen alle Widerstände und mit wesentlich längerem Zeithorizont – die Resultate aus 80 Jahren irakischer Entwicklung wesentlich stärker berücksichtigen müssen. Der Versuch, Geschichte zu wiederholen, endet dagegen unweigerlich in einer Farce,9 wie ein berühmter Trierer pointiert feststellte.

Prof. Dr. HENNER FÜRTIG, geb. 1953, arbeitet am German Institute of Global and Area Studies (GIGA), Institut für Nahoststudien, in Hamburg.

  • 1 Vgl. Fenner Brockway (Hrsg.): Saddam’s Iraq: Revolution or Reaction? London 1986, S. 3.
  • 2Vgl. Toby Dodge: Inventing Iraq: The Failure of Nation-Building and a History Denied, London 2003, S. 144.
  • 3Vgl. Reidar Visser: Basra, the Failed Gulf State, Münster 2005, S. 63–74.
  • 4Vgl. Tareq und Jacqueline Ismael: The Republic of Iraq, in: dies. (Hrsg.): Politics and Government in the Middle East and North Africa, Gainsville 1991, S. 169.
  • 5So behauptete der Ende 2002 entlassene US-Finanzminister Paul O’Neill, dass bereits während erster Kabinettssitzungen Anfang 2001 der militärische Sturz Saddam Husseins diskutiert worden sei. Vgl. http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,281451,00.html.
  • 6http://www.whitehouse.gov/news/releases/2003/02/20030226-11.html.
  • 713 arabische Schiiten, fünf arabische Sunniten, fünf kurdische Sunniten, ein turkmenischer Sunnit, ein Christ (23 Männer, zwei Frauen). Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.7.2003.
  • 8Vgl. Al-Hayat, 10.5.2007.
  • 9Vgl. Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Frankfurt a.M. 2003, S. 9. Prof. Dr. HENNER FÜRTIG, geb. 1953, arbeitet am German Institute of Global and Area Studies (GIGA), Institut für Nahoststudien, in Hamburg.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar 2008, S. 45 - 51

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