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01. Juli 2014

David gegen Goliath

Die Ukraine zwischen gesteuerten Unruhen im Osten und Staatsaufbau

Hat Wladimir Putin eingelenkt oder gönnt sich der „Meisterstratege“ im Kreml nur eine Ruhepause, um den Westen und die Regierung in Kiew bald aufs Neue auf dem falschen Fuß zu erwischen? Wer auch immer recht behält: Die Ukraine steht vor unmöglichen Aufgaben, kann aber auf seine jungen Bürger bauen – und hoffentlich auf die EU.

Für den New York Times-Kolumnisten Thomas Friedman ist die Angelegenheit klar: In der Auseinandersetzung um die Ukraine war es Russlands Präsident Wladimir Putin, der zuerst gezuckt hat. Sein Kollege von der Los Angeles Times, Doyle McManus, schreibt dagegen, die erste Runde ginge an Putin, der den Westen an der Nase herumgeführt habe. Beide haben wenigstens in Einem recht: Es gab einen Wendepunkt, mit dem die Dynamik des russischen Vorstoßes auf ukrainisches Gebiet zwar unterbrochen, aber nicht umgekehrt wurde.
Beide Kolumnisten beziehen sich auf Putins Entscheidung Ende Mai, russische Truppen von der ukrainischen Grenze abzuziehen und nach der Krim-Annexion letzten Endes doch nicht erneut im Nachbarland einzufallen. Und das, nachdem diese Verbände zwei Monate lang dort stationiert waren und es lange so ausgesehen hatte, als könnten – und würden – sie in einem 300-Grad-Bogen von Norden, Osten und Süden aus ein­marschieren: Für Friedman war der Abzug der erste Moment der Unsicherheit Putins, das „Zucken“. Für McManus’ war es ein Trick. Da wir uns jetzt auf ein langes Ringen einstellen müssen, mit verdeckten, bewaffneten russischen Destabilisierungsversuchen im Osten und dem Versuch demokratischer Stabilisierung im Westen, wird die Frage immer spannender: Welches der beiden Argumente wird sich als richtig erweisen?

Das Glas ist halb voll

In einem Punkt liegt die eher optimistische Interpretation sicherlich richtig: Der eskalierende Schattenkrieg im Osten der Ukraine ist einer offenen russischen Attacke klar vorzuziehen. Auch kann man  durchaus Putins eher zähneknirschende Anerkennung des überwältigenden Wahlsiegs von Petro Poroschenko im Mai begrüßen. Sie verleiht dem neuen ukrainischen Präsidenten eine Legitimität, die Putin der „Junta“ in Kiew nie zuerkannte. So titulierte Moskau die Übergangsregierung, die das Parlament eingesetzt hatte, nachdem der Putin-loyale Präsident Viktor Janukowitsch nach Russland geflohen war. Wer Friedmans Argumentation folgt,  geht meist auch davon aus, dass sich Russlands Aggressivität auf längere Sicht als kontraproduktiv erweisen wird. Sie führt ja genau jene stark proeuropäische Einheit im 23 Jahre alten Staat Ukraine herbei, die Putin versucht zu untergraben.
Das optimistische Szenario für die Ukraine und den Westen sieht folgendermaßen aus: Putin handelte taktisch brillant, als er mit der Krim-Annexion die erste militärische Landnahme in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vollzog. Doch im Grunde genommen versuchte er nur zu retten, was noch zu retten war, nachdem er eine strategische Niederlage erlitten hatte: Nach einer tausendjährigen Phase, in der sie ihren russischen, ostslawischen größeren Brüdern gefolgt waren, wollten viele Ukrainer nun partout Europa in die Arme sinken.
Die Hinwendung zum Westen begann 2004 mit der Orangenen Revolution auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz Maidan, den erfolgreichen Protesten gegen die von Janukowitsch manipulierten Wahlen. Nachdem sich die Anführer der Orangenen Revolu­tion jedoch untereinander zerstritten hatten und es nicht schafften, den Lebensstandard zu verbessern, wählte eine Mehrheit 2010 Janukowitsch an die Macht. Er spielte Russland gegen die EU aus um zu sehen, wer sich mehr um Kiews Gunst bemühen würde. Nachdem er im November 2013 abrupt die unterschriftsreifen Verhandlungen über ein EU-Assoziierungsabkommen absagte, füllte sich nun recht schnell der zum „Euromaidan“ gewordene Unabhängigkeitsplatz wieder mit Demonstranten jeglicher Couleur, die eine proeuropäische Zeltstadt voller ukrainischer und EU-Flaggen errichteten. Nachdem 70 Protestierende in der Nacht vom 20. Februar erschossen wurden, ließ seine eigene Partei Janukowitsch fallen.

Flächendeckende Propaganda

Als Strafe für die Abwendung der ­Ukrainer begann Putin eine flächen­deckende Propagandakampagne gegen die westukrainischen „Faschisten“, die zuweilen aber auch „bezichtigt“ werden, Juden sein), und entsandte maskierte und schwer bewaffnete Soldaten in Uniformen ohne Erkennungsmarken; in kürzester Zeit wurden die Krim eingenommen, die ukrainische Marine unter Kontrolle gebracht, eine neue Regionalregierung eingesetzt und ein Referendum abgehalten. Als Nächstes schickte er mehr maskierte „kleine grüne Männchen“, wie die Ukrainer sie bezeichneten, um Verwaltungsgebäude in den beiden östlichsten Oblasten der Ukraine, Lugansk und Donezk, zu besetzen, sie an örtliche Milizen zu übergeben, die größtenteils aus kriminellen Banden und Söldnern rekrutiert waren, und die ukrainischen Beamten vor die Tür zu setzen.
Doch selbst die erstaunlich effiziente Unterwanderung von Lugansk und Donezk, die mit verhältnismäßig wenig direkter militärischer Hilfe aus Russland stattfand, war für Putin eine Niederlage. Informationen der ukrainischen Interimsregierung zufolge zeigen Geheimdienstberichte, dass der russische Präsident zunächst vorhatte, alle acht südöstlichen Oblaste zu übernehmen, die er nun als „Novorossiya“ („Neu-Russland“) bezeichnet. Kiew zufolge glaubte er anscheinend der eigenen Propaganda von der Verfolgung ethnischer Russen durch die „faschistische Junta“ und ging davon aus, dass sich die unzufriedene russischsprachige Bevölkerung in der Region erheben würde, um sich von der Ukraine abzuspalten, sobald „prorussische“ Außenposten errichtet wären.
Die Revolte fand jedoch nie statt – nicht einmal nachdem ein Feuer, dessen Ursache ungeklärt ist, in einem Gebäude in Odessa für etwa 40 prorussische Märtyrer sorgte. Stattdessen musste sich Putin damit zufrieden geben, seine „Zugewinne“ in den beiden Provinzen zu konsolidieren. Für den Westen aber war diese Niederlage Putins auch gleichzeitig ein Sieg seiner rücksichtslosen Politik. Mit der Annexion der Krim hatte er internationales Recht gebrochen und gegen einen Eckpfeiler in der internationalen Politik verstoßen – die 1975 von der Sowjetunion, den Vereinigten Staaten und allen europäischen Ländern verabschiedete Schlussakte von Helsinki –, die jegliche gewaltsame Veränderung europäischer Grenzen ausschließt. Zudem hatte Putin das Budapester Abkommen, die gemeinsame sowjetisch-amerikanische Garantie von 1994 verletzt, die der Ukraine im Gegenzug für die Aufgabe aller aus den Zeiten der Sowjetunion stammenden Nuklearwaffen Sicherheit und Unabhängigkeit in ihren existierenden Grenzen versprach. Damit zerstörte er die Friedensordnung eines so lange in desaströsen Konflikten befangenen Kontinents, die stolze 70 Jahre gehalten hatte. Und er zerstörte die Annahme des Westens gleich mit, die auf dem Abkommen von 1994 ruhte: dass nämlich das Atomwaffenarsenal der Ukraine, damals das drittgrößte der Welt, in russischen Händen sicherer als in ukrainischen sei.
Ein schockierter Westen musste für seine Antwort plötzlich wieder entscheiden: Handelte es sich um einen „1938-Moment“? Wollte Putin, wie einst Hitler bei der Annexion des Sudetenlands, westlichen Widerstandswillen auf die Probe stellen? Schließlich klang der Vorwand zur Annexion der Krim, man schütze ethnische Russen in der Ukraine, wie ein Echo von Hitlers Vorwand, er schütze „Volksdeutsche“ vor der Tschechoslowakei. In diesem Fall müsste sich der Westen dem großen Tyrannen in den Weg stellen, bevor er sich ermutigt fühlte, sich weitere Gebiete mit russischen Minderheiten in Nachbarländern einzuverleiben.
Oder war die Annexion der Krim nicht Teil eines großen Planes, sondern eine zufallsgesteuerte Anomalie (wie schon die unvorbereitete Übergabe der Krim an die damalige Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik durch Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow von 1954)? Dann gälte es unter allen Umständen einen „1914-Moment“ zu vermeiden und schlafwandlerisch in einen nächsten Krieg zu geraten. Der Westen erkannte keine eigenen strategischen Interessen in der Ukraine. Russland legte eine bemerkenswerte Eskalationskontrolle an den Tag, dank seiner riesigen Armee und der Tatsache, dass für Moskau im „Nahen Ausland“ mehr auf dem Spiel stand.
Hundert Jahre nach dem Abdriften in den Ersten Weltkrieg entschied sich der Westen deshalb zur Besonnenheit. Jegliche militärische Antwort zur Verteidigung eines Landes, das nicht bereits NATO-Mitglied ist, wurde öffentlich ausgeschlossen. David war gegen Goliath auf sich allein gestellt. US-Präsident Barack Obama, der Verwicklungen im Ausland ohnehin als Ablenkung von seiner Hauptaufgabe, des „nation building“ daheim sieht, bewilligte nur eine bescheidene Stärkung der ­NATO-Präsenz in den baltischen Staaten und Polen. Anfänglich verboten die USA die Lieferung von Treibstoff oder sogar von Schutzwesten und Nachtsichtgeräten, die die unorganisierte ukrainische Armee dringend benötigte. Realistischen Einschätzungen zufolge hätte sie eine Verteidigung gegen den Ansturm russischer Divisionen bestenfalls eine Woche lang durchhalten können.
So entschied sich der Westen für eine rhetorische Ablehnung der Krim-Annexion, die zugleich eine De-facto-Duldung ist – und für finanzielle Sanktionen gegen eine kleine Zahl von Putin-Vertrauten. Die westliche Diplomatie spielte auf Zeit, in der Hoffnung, dass sich Putins Wut über die Abkehr der Ukraine abkühlen und Russlands Präsident zu einer weniger emotionalen Kosten-Nutzen-Analyse zurückkehren würde, wenn man ihm vor Augen führte, dass eine Fortsetzung der russischen Aggression eine Ausweitung westlicher Sanktionen nach sich ziehen würde.
Die bedrängte Übergangsregierung in Kiew vermied es ihrerseits, den Fehler Georgiens von 2008 zu wiederholen; sie ließ sich nicht dazu verleiten, auf russische Soldaten auf der Krim zu schießen. Erst nach mehreren Wochen der schleichenden „prorussischen“ Übernahme von Gebäuden in mittelgroßen Städten im Osten der Ukraine schickte Kiew Truppen, um die Rebellen zu vertreiben. Sie wurden leicht zurückgeschlagen – teils, weil die Armee seit Jahren unterfinanziert und unzureichend ausgestattet ist; teils, weil sie noch immer sowjetisch geprägt ist und nicht erwartet hatte, dass andere ostslawische Russen je zu Feinden werden würden; teils, weil russische Loyalisten bis zu einem Drittel der Führungspositionen in den ukrainischen Sicherheitskräften besetzten und den prorussischen Einheiten im Vorfeld Informationen zukommen ließen.

Das Glas ist halb leer

Die eher pessimistische Interpretation akzeptiert zwar, dass Putin eine Niederlage erlitt, als er schließlich am 29. Mai seine Eurasische Union nur mit Belarus und Kasachstan als weiteren Gründungsmitgliedern ins Leben rief. Die Unterzeichnung fand vier Tage nach dem klaren Wahlsieg von Petro Poroschenko statt, der der ukrainischen Politik einen Neuanfang ermöglicht. Der wesentliche Baustein der Union, die Ukraine, fehlte sichtbar bei der Unterzeichungszeremonie im kasachischen Astana.
Nichtsdestotrotz erschien Doyle McManus’ Kolumne am gleichen Tag unter der Überschrift: „Wladimir Putin, Master Player“. Darin argumentierte McManus, dass Putin das Geschehen bestimme, ein langfristiges Spiel treibe und es gewinne: „Er hat seine waghalsige Politik stolz zur Schau gestellt. Er erlaubt sich nun einen Augenblick des Luftholens und liefert damit dem unaufmerksamen Westen einen Vorwand, nicht ernstere Sanktionen gegen Russland zu verhängen. Durch den Einsatz der kleinen grünen Männchen, die er – wie er behauptet – nicht kontrolliert, hat er die Kunst perfektioniert, Militäraktionen durchzuführen, die geleugnet werden können.“ Putin habe die Krim „einfach einkassiert“ und dafür gesorgt, dass der Großteil von Russlands Westgeschäften unbeschadet ­weiterlaufe. Er besitze „wichtige Druckmittel mit Blick auf die wirtschaftliche und politische Stabilität der Ukraine: beinahe die gesamte Energieversorgung, den Hauptabsatzmarkt für ihre Industrieerzeugnisse, Milliardenschulden bei Moskau und dazu noch all diese schwer bewaffneten Separatisten in Donezk“.
McManus hätte noch eines hinzufügen können. Putin zählt darauf, dass London nicht bereit sein wird, Finanzgeschäfte mit russischen Oligarchen aufzugeben oder gar bestehende Gesetze gegen Geldwäsche strikt anzuwenden; Paris den Verkauf von amphibischen Angriffshelikopterträgern der Firma Mistral an Russland nicht stoppen wird; und deutsche Geschäftsleute auf den Export von Investitionsgütern nicht verzichten möchten.
In dieser Denkschule ist Putin, selbst wenn er aus Schwäche gehandelt hat, zu einem versierten „spoiler“ geworden. Mit der Schnelligkeit seiner getarnten Übernahme der Krim hat er den Westen kalt erwischt – und zugleich die Annahme widerlegt, dass Russland seinen alten Status als Supermacht mit Freuden gegen westliche Hilfe bei der Modernisierung seiner Petro- und Rentenwirtschaft eintauschen und sich der globalisierten Welt anschließen würde. Geradezu lustvoll hat Putin die gesamte europäische Nachkriegsordnung gesprengt und – indem er vorgeführt hat, dass man in aller Welt wieder mit Moskau rechnen müsse – 85 Prozent an Zustimmung unter der russischen Bevölkerung gewonnen. Die baltischen Staaten, Polen und Moldau haben wieder Grund zur Furcht vor Moskau.
Darüber hinaus hat er vorsichtig kalkuliert, wie er die Ukraine weiterhin durch den stets zu leugnenden Einsatz von Stellvertretern untergraben und so weit unterhalb der Gewaltschwelle bleiben kann, damit härtere Sanktionen des Westens ausbleiben. Dabei gibt es für eine russische Steuerung der „kleinen grünen Männchen“ längst Belege – in Form eines lobhudelnden Interviews, das die Kreml-nahe Zeitung Komsomolskaya Prawda mit dem Kommandeur der „Irregulären“, Oberst Igor Girkin-Strelkow vom russischen Militärgeheimdienst, geführt hat; von Putins Auszeichnung von Soldaten, die an der Eroberung der Krim beteiligt waren; der Tatsache, dass sich nach einem Kampf um den Flughafen Donezk 30 der gefallenen Aufständischen als Russen entpuppten; und neuerdings schließlich in Form von Panzern, einer Abordnung tschetschenischer Soldaten in der Ukraine, für die Russland einen breiten Grenzstreifen öffnete. Obwohl Putin weiter abstreitet, dass er ihn anfache, erhitzt sich der „hybride Krieg“, wie ihn die Ukrainer nennen.

Unmögliche Aufgaben

Die russische Destabilisierung der Ostukraine dürfte sich auf absehbare Zeit fortsetzen. Ukraines Präsident Poroschenko und die neue Regierung, die Ende 2014 gewählt werden wird, werden vor der unmöglichen Aufgabe stehen, im Schatten dieses unerklärten Krieges die schmerzhaften wirtschaftlichen und politischen Reformen durchzuführen, die in den 23 Jahren des Bestehens der Ukraine vernachlässigt wurden.
Ganz oben auf der langen To-do-Liste steht, die ukrainischen Oligarchen zu überreden, freiwillig einen Großteil ihres Vermögens für den Aufbau der Nation zur Verfügung zu stellen und Steuern zu zahlen; Sicherheitsdienste von prorussischen Offizieren zu säubern; die Armee zügig in eine echte Streitkraft umzubauen; die alles durchdringende Korruption zu beenden; den Osten mit dem Westen der Ukraine auszusöhnen und den Kommunen mehr Selbstbestimmung zuzugestehen; der Wirtschaft Starthilfe zu geben; überlebensfähige Institutionen und Rechtsstaatlichkeit aufzubauen; die klientelistischen Parteien von Kommando-Patronage-Systemen in von unten nach oben organisierte Institutionen öffentlicher Repräsentation zu verwandeln; aus dem Parlament statt einer Versammlung, die am Schutz von Pfründen und garantierter Immunität interessiert ist, einen verantwortungsvollen Urheber von Gesetzen zu machen; und die bemerkenswerte Energie, den Idealismus und die Selbstorganisation der Euromaidan-Zivilgesellschaft in einen gebündelten politischen Aktivismus münden zu lassen.
Was immer sonst der Westen noch unternimmt beim Versuch, die Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa wiederherzustellen, oder beim Verhängen von neuen Sanktionen, falls sich die russischen Destabilisierungsbemühungen in der Ostukraine fortsetzen: Nichts ist wichtiger als sicherzustellen, dass die Ukraine beim ­dritten Versuch seit ihrer Unabhängigkeit Erfolg hat, ein funktionierendes Staatswesen aufzubauen.

Die Ukraine fängt ganz unten an

Bei diesen Bemühungen haben die Ukrainer den traurigen Vorteil, ganz unten anzufangen. Es kann nur aufwärts gehen. Jeder weiß, dass dies die letzte Chance der Ukraine ist, ein Land zu werden, in dem man angemessen leben kann. Der Schock der russischen Einschüchterung hat die Ukrainer ernüchtert und ihnen genau jenen Stolz auf einen europäischen Nationalpatriotismus eingehaucht, den Putin zu zerstören versucht.
Die EU, die immer noch überrascht ist, dass Putin sie als geopolitische Macht betrachtet, muss nun die Führung übernehmen, wenn die ukrainische Regierung das EU-Assoziierungsabkommen in Kürze unterzeichnet, das vergangenen November Putins Fehde auslöste. Durch die Assoziierung wird nicht nur Geld für die wirtschaftliche und institutionelle Entwicklung bereitgestellt, der Ukraine wird auch der reiche Erfahrungsschatz der EU bei der Unterstützung von Übergangsländern in den vergangenen zwei Jahrzehnten zuteil. Und die Ukrainer erwarten hoffnungsvoll eine erfolgreiche Transformation unter europäischer Anleitung, denn sie haben aufmerksam verfolgt, welche Entwicklung Polen erlebt hat. Das Nachbarland begann 1991 auf dem gleichen niedrigen Wirtschaftsniveau wie die Ukraine, verzeichnet heute aber ein dreimal höheres BIP pro Kopf als noch eine Generation zuvor. Die Ukraine hingegen stagnierte praktisch im gleichen Zeitraum. Polen hat der Korruption Einhalt geboten, eine dynamische Demokratie entwickelt und den Rechtsstaat durchgesetzt. Polnische Berater arbeiten seit mehreren Jahren in verschiedenen ukrainischen Ministerien; diese Bemühungen werden weiter fortgesetzt.
Schließlich hat die Ukraine noch den Vorteil der besten Ressource überhaupt – der ersten Gene­ration junger Leute, für die ein ukrainischer Staat seit ihrer Geburt selbstverständlich ist. Sie sind bereit, die schwierige nächste Runde des Um­setzens ihrer demokratischen Träume in Angriff zu nehmen, auch unter der ständigen Bedrohung russischer Waffen.

Eilzabeth Pond 
lebt als freie Publizistin in Berlin. Sie berichtet seit drei Jahrzehnten über die Ukraine und 
ist Autorin des Buches „The Rebirth of Europe“.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2014, S. 77-83

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