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01. März 2005

Charme und Erblasten

Das größte Problem ist der Vertrauensverlust zwischen Europa und den USA

Eine der bissigeren amerikanischen Karikaturen zeigt Außenministerin Condoleezza Rice, die an einem Tisch sitzt und ihren deutschen, französischen und russischen Zuhörern liebenswürdig erklärt: „Der Präsident hat entschieden, Ihnen zu vergeben, dass Sie Recht hatten mit den Massenvernichtungswaffen.“ Autsch.

Nein, es ist nicht nur eine Charmeoffensive. Die Regierung von George W. Bush ist tatsächlich entschlossen, ihr miserables Verhältnis zu Europa zu verbessern, und sie hat einen Einsatzplan, wie die Wiederannäherung bis zum Sommer dieses Jahres vonstatten gehen soll. Botin Rice hat bereits erstmals klar gemacht (wie auch der „neue“ Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, durch Unterlassung), dass die Bush-Regierung die weitere EU-Integration und den Aufbau eines starken Europas eher fördern als bekämpfen will. Das ist ein transatlantisches Plus. Es ist den Europäern willkommen, die ebenfalls seit mehr als einem Jahr ihr „Vergangenheit vergessen, in die Zukunft schauen“ gepredigt haben.

Zwei Wolken überschatten allerdings die gewollt rosigen Szenarien. Die erste ist eine substanzielle politische Uneinigkeit, vor allem über den richtigen Umgang mit Irans Bestrebungen, sich Know-how zum Atomwaffenbau zu verschaffen, und mit dem Wunsch der EU, das 15 Jahre alte Waffenembargo gegen China zu beenden. Die zweite ist die Besorgnis erregende psychologische Erblast, welche die heftigen transatlantischen Scharmützel über den Irak-Krieg hinterlassen haben.

Mit den offenen politischen Differenzen lässt sich im Grunde einfacher umgehen als mit den unausgesprochenen Erblasten. Wie wütend die vergangenen politischen Auseinandersetzungen auch waren, außer in ungewöhnlichen Zeiten wie den vergangenen drei Jahren blieben sie immer vereinzelt und an spezifische Themen gebunden. Sie brauten kein angereichertes Gift zusammen (wie in Rices berühmter Bemerkung vor zwei Jahren). Vor allem da die Europäer nun überzeugt sind, dass die Vereinigten Staaten in den Iran weder einmarschieren noch ihn bombardieren werden – z.B. aus Gründen der Überlastung, der Unmöglichkeit, diffuse Brennstoff-Kreislaufprozesse und Know-how überhaupt zu treffen u.ä. – ist kein existenzieller Krach in Sicht, der den alten existenziellen Krach über den Irak-Krieg verlängern könnte. Es gibt Streitereien über die Frage, ob man die Iraner härter oder weicher unter Druck setzen sollte, ihr Brennstoff-Kreislaufprogramm zu beenden. Aber die sind handhabbar, vor allem vor der nahöstlichen Kulisse des erneuerten US-Einsatzes für einen israelisch-palästinensischen Dialog, auf den die Europäer lange gehofft haben.

Ebenso wenig gibt es grundsätzlichen Streit über die Frage, wie man mit Bushs drittem Land der „Achse des Bösen“ umgehen sollte, einem Nordkorea, das nun behauptet, die Atombombe zu besitzen. Die Europäer glauben weiterhin, wie sie von Anfang an vorhergesagt haben, dass der Irak-Krieg den globalen Krieg gegen den Terror und die nukleare Proliferation nicht befördert, sondern ihn sogar behindert hat. Sie sind der Ansicht, dass der Krieg den Irak, der unter dem säkularen Saddam Hussein die islamistische Al-Qaida eher verschmäht hatte, in einen Nährboden für Terroristen verwandelt hat. Er hat zudem nuklearen Möchtegern-Proliferatoren gezeigt, dass, wenn ein Aspirant wie der Irak noch Jahre vom Bombenbesitz entfernt ist, dieser als schwach genug für eine Invasion der Vereinigten Staaten betrachtet wird. Wenn er jedoch, wie Nordkorea, die Bombe schon hat, wird ihn das vor einem US-Angriff oder sogar der ernsthaften Drohung schützen. Das, so denken die alten Europäer, wenn sie die nordkoreanische Militanz und die Rekrutierung und das Training von Dschihadisten im Irak beobachten, sind genau die falschen Lektionen für Unruhestifter.

Diese fortbestehende unterschiedliche Einschätzung allein beschädigt die transatlantischen Beziehungen nicht mehr. Die beiden Seiten des Atlantiks sind stillschweigend übereingekommen, über den Irak verschiedener Meinung zu sein, und die Europäer haben gar kein Interesse daran, unterschiedliche Einschätzungen, die im Moment geringe operative Relevanz besitzen, groß aufzublasen. Im Fall Nordkoreas haben sie zudem auch keine besseren Ideen als die Amerikaner, wie man verhindern könnte, dass Japan oder die anderen nichtnuklearen Staaten Asiens jetzt ein Wettrennen um den Erwerb kompensatorischer Atomwaffen beginnen. Die Europäer sind froh, dass sie dieses Dilemma den Amerikanern überlassen können.

Die relative amerikanisch-europäische Ruhe über die Nachwirkungen des Irak-Krieges ist deshalb ein zweiter transatlantischer Pluspunkt. Was die Sachlage dort angeht, wollen die Europäer dringend, dass die Vereinigten Staaten den Irak erfolgreich an die Iraker übergeben und ihre Truppen solange wie nötig dort lassen, um die Sicherheit in der Übergangszeit aufrecht zu erhalten und einen Bürgerkrieg vermeiden zu helfen. Die Franzosen und die Deutschen werden ihre eigenen Kampftruppen für diese Anstrengung nicht zur Verfügung stellen (nicht aus Schadenfreude, sondern aus Angst, dass noch mehr westliche Truppen im Land den Aufstand eher anheizen als bremsen könnten). Berlin hat endlich erreicht, dass Washington seine lange geäußerte These toleriert, dass Deutschlands begrenzte Truppen besser zum allgemeinen Wohlergehen beitragen, wenn sie den afghanischen Rückfall in ein gescheitertes Staatswesen und zum Al-Qaida-Gastgeber verhindern, anstatt zusätzliche Feuerkraft für den Irak bereit zu stellen. Nation-building und capacity-building sind im Rice- und Bush-Lexikon keine Schimpfwörter mehr.

In diesem Kontext sollten die China- und Iran-Dissenzen lösbar sein. Ein Außenstehender könnte sogar verlockt sein, einen Kuhhandel vorzuschlagen: Die EU, die ihren Wunsch, das Waffenembargo gegen China aufzuheben, auf keine erkennbare strategische Vision gründet und sowieso behauptet, dass ein Regelwerk dieselben Beschränkungen durchsetzen würde wie das Embargo, könnte ihre formellen Aktivitäten auf weniger sensitive Zeiten verschieben. Und der US-Kongress, empört angesichts des Gedankens, dass französische Raketen eines Tages auf amerikanische Marines in der Taiwan-Straße abgefeuert werden könnten, könnte sich auch erweichen lassen. Im Gegenzug könnten die USA ihre bemühte Neutralität gegenüber den britisch-französisch-deutschen diplomatischen Bemühungen in Teheran aufgeben und ihre bekannte Peitsche mit dem ein oder anderen Zuckerbrot garnieren, etwa indem sie den Iran, wenn er sich gut benimmt, Mitglied der WTO werden lassen – oder sogar durch die Anerkennung der iranischen Regierung nach zwei Jahrzehnten Eiszeit in den bilateralen Beziehungen. Und die EU könnte ihr eigenes Zuckerbrot vorzeigen als Teil einer kohärenten westlichen Strategie, die von Belohnung bis Bestrafung reicht.

Selbst so viel gutes Einvernehmen würde jedoch die Erblast der über drei Jahre andauernden Erosion des ein halbes Jahrhundert lang aufgebauten transatlantischen Vertrauens nicht heilen können. In den USA hegt ein politisches Spektrum, das weit über die Neokonservativen hinausgeht, inzwischen den dunklen Verdacht, dass die Europäer, wenn die Amerikaner mit dem Rücken an der Wand stünden, ihnen nicht zu Hilfe eilen würden. Diese Ansicht spiegelt sich deutlich wider in den Klagen amerikanischer Regierungsbeamter, dass die USA immer noch keine substanzielle  Belohnung – etwa einen drastischen Zuwachs an französischen und deutschen Ausbildern für irakische Truppen – für ihr Nettsein zu Europa bekommen haben.

Umgekehrt werden von manch einem Mitglied der außenpolitischen Elite des alten Europa heute sowohl die Ehrlichkeit als auch das Urteilsvermögen der USA angezweifelt. Hierbei geht es weniger um die offensichtliche Frage, ob Washington fehlerhafte Erkenntnisse über Iraks Besitz von Massenvernichtungswaffen 2002/03 absichtlich aufgeblasen hat, sondern um das beleidigte Beharren der Administration gegenüber ihren Allierten lange nach ihrem Entschluss, im Irak einzumarschieren, dass keine solche Entscheidung getroffen worden sei. Einige europäische Diplomaten meinen, dass solche Behauptungen taktische Notlügen weit übersteigen und den Tatbestand fundamentaler Irreführung erfüllen. Das transatlantische Grundvertrauen wieder herzustellen, das ein halbes Jahrhundert lang für selbstverständlich gehalten wurde, selbst während der härtesten politischen Querelen, wird für die Allierten die schwierigste Aufgabe von allen sein.

In diesem Zusammenhang sind gegenseitiger Charme und guter Willen zwar willkommen und sicherlich besser als ihr Gegenteil. Ausreichen werden sie aber nicht.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, März 2005, S. 65 - 67.

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