Das Verschwinden der Landespolitik
Welche Rolle spielen eigentlich noch die Bundesländer?
Die Bedeutung der Bundesländer scheint rapide abzunehmen – ein Prozess, den es zu beobachten gilt.
Die Bundesrepublik ist, wie der Name schon sagt und das Grundgesetz präzisiert, ein föderales Gemeinwesen. Doch in der politischen Wirklichkeit ist diese Tatsache in den letzten zwei Jahren immer weniger sichtbar gewesen. Wenn nicht ohnehin internationale Entwicklungen die Schlagzeilen machen und die innere Agenda mitbestimmen, ist es in jedem Fall die Bundespolitik, die fast alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Gegen den Sog von „Berlin“ hat kaum eine Landeshauptstadt eine Chance. Das Wechselspiel zwischen Bund und Ländern, das jahrzehntelang die politische Dynamik der Bundesrepublik geprägt hat, scheint zugunsten der Zentrale entschieden zu sein. Welche inhaltlichen Signale gehen noch von der Politik einzelner Bundesländer aus, die in der ganzen Nation wahrgenommen würden? Es ist wohl nur eine leichte Überspitzung, wenn man von einem Verschwinden der Landespolitik spricht.
Natürlich liegen einige Gründe für diese Entwicklung auf der Hand, zumal auf der Ebene des politischen Tagesgeschäfts. Landtagswahlen stehen in wichtigen Flächenstaaten wie Niedersachsen und Hessen bevor, und je näher der Wahltermin rückt, desto zahmer agieren Christian Wulff und Roland Koch, für die – gemessen an hervorragenden Wahlergebnissen des letzten Urnengangs – viel auf dem Spiel steht; ähnlich wie für Ole von Beust in Hamburg. Im Land mit dem bundespolitisch traditionell wichtigsten Akteur auf der nationalen Bühne hat sich gerade ein Wechsel vollzogen, Günter Beckstein muss seine Rolle erst noch finden. Die CDU ist auf ihre Parteivorsitzende Angela Merkel ausgerichtet. Ihre Popularität im Kanzleramt lässt den potenziellen Mitbewerbern um Aufmerksamkeit in den Ländern – zehn Ministerpräsidenten stellt derzeit die CDU, die SPD nur fünf! – keine Chance. Immerhin ist der Vorsitzende der SPD ein „Landesfürst“, der sich sogar dafür entschieden hat, dieses Amt höher zu bewerten als eine mögliche Position im Bundeskabinett. Wir nehmen Kurt Beck als Rheinland-Pfälzer wahr. Aber kennen wir ihn wirklich als Gestalter seines Landes? Wer wüsste auf Anhieb zwei, drei Kernpunkte einer rheinland-pfälzischen Agenda zu nennen, die Beck aus der Mainzer Staatskanzlei heraus betreibt? Das ist ihm kaum persönlich anzukreiden, denn für die Politik der übrigen 15 Länder sieht es nicht viel anders aus. Die Ministerpräsidenten fallen derzeit wenig auf – aber wenn, dann am ehesten mit bundespolitischen Vorschlägen, wie Jürgen Rüttgers aus Nordrhein-Westfalen mit seinen sozial- und arbeitsmarktpolitischen Interventionen.
Viele Ursachen der Gewichtsverschiebung, das deutet sich damit schon an, liegen tiefer. Die Mechanik der Großen Koalition spielt eine Rolle, in der der Bundesrat sich nicht mehr als „Gegen-Mehrheit“ aufspielen kann. Das könnte sich mit einer normalen, „kleinen“ Koalition wieder ändern – aber wohl nur teilweise. Denn zum einen ist unverkennbar, dass die „Berliner Republik“ einen stärkeren Zentralismus entwickelt als es für Bonner Zeiten jemals gegolten hat. Als Folge der Föderalismusreform hätte man eigentlich ein selbstbewussteres Agieren der Länder in neuen Freiräumen erwarten müssen.
Aber diese Spielräume werden nicht genutzt – oder sind in der „ersten Stufe“ enger geblieben als oft vermutet, so dass der Bund der größere Gewinner dieser Reform ist. Die wichtigsten Gestaltungsbereiche der Bundesländer sind zudem nicht so schlagzeilenträchtig wie viele nationale Themen: Die Hochschul- und Wissenschaftspolitik, in der sich auf Länderebene vieles bewegt, ist ein Beispiel dafür.
Wir müssen uns aber auch gewissermaßen an die eigene Nase fassen. Das Verschwinden der Landespolitik hat auch Ursachen, die in gesellschaftlichen Veränderungen liegen. Für viele politisch-soziale Probleme ist ein Landes- oder Regionalbewusstsein nur schwach ausgeprägt; wir denken „national aggregiert“, ob es sich um die PISA-Ergebnisse handelt, um Arbeitslosigkeit oder Kinder-armut. Allenfalls werden West-Ost-Unterschiede wahrgenommen, und ein Süd-Nord-Gefälle. Dabei scheint die reale Entwicklung eher von jener „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ wegzuführen, die für die „alte“ Bundesrepublik (und die DDR) galten. Insofern müssten wir eigentlich das Gegenteil erleben: einen Bedeutungsgewinn der Landespolitik, denn die Probleme Bremens sind nicht die Baden-Württembergs, die von Sachsen nicht die von Nordrhein-Westfalen. Doch der Gedanke eines Wettbewerbs der Länder – um industrielle Standorte, um beste Bildung, um innovative Sozialpolitik – will nicht recht Fuß fassen.
Hier liegt also ein weites Gelände brach für eine Umkehrung des beschriebenen Trends – einerseits. Denn andererseits steht der Bedeutungsverlust der Länder auch im Sog einer Globalisierung, die von kleinräumigen regionalen Identitäten nicht mehr so viel wissen will. In den jüngeren Generationen, und gerade bei den gut Qualifizierten, weicht die gestiegene Mobilität solche Loyalitäten auf. Wer für Studium oder Beruf nach Brüssel oder Barcelona geht, für den ist der Unterschied zwischen Hamburg und München weniger wichtig. Die gelegentlich gehörte These, im Prozess der internationalen Integration würden die Regionen wichtiger werden, trifft so offenbar nicht zu. Die Nationalstaaten verlieren ihre Kraft nicht, eher im Gegenteil; sie sind die Akteure in einem neuen, supranationalen Föderalismus. Das gilt zumal für neue Themen wie Klima, -Energie und Sicherheit. Darüber sollten wir mehr als bisher nachdenken.
Prof. Dr. PAUL NOLTE, geb. 1963, war von 2001 bis 2005 Professor für Geschichte an der International University Bremen und lehrt seit Juli 2005 als Professor für Zeitgeschichte an der FU Berlin. Jüngste Veröffentlichung: „Riskante Moderne. Die Deutschen und der neue Kapitalismus“ (2006).
Internationale Politik 1, Januar 2008, S. 64 - 65