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01. Juli 2005

Das Jahrhundert der Marine

Die NATO ist tot, es lebe PACOM: Wie man China bekämpft, um es zum Partner zu machen

Einen neuen Kalten Krieg prophezeit Robert D. Kaplan. Sein Zentrum wird im Pazifik liegen. Seine Auswirkungen reichen bis nach Europa. Der neue große Gegner wird weder ein wiedererstarktes Russland sein noch der globale Terrorismus. Der strategische Schwerpunkt hat sich längst vom Nahen und Mittleren Osten auf den ostasiatischen Raum verlagert. Der potenzielle Feind des 21. Jahrhunderts heißt China. Wie Amerika China bekämpfen könnte, fragt Kaplan in der Juni-Ausgabe des Atlantic Monthly. Man wird ihm prophezeien können, wie schon wiederholt nach dem Ende des Kalten Krieges ein Stück geschrieben zu haben, das Amerikas Blick lenken wird.

Zum ersten Mal seit Ende des Zweiten Weltkriegs sei die Seeherrschaft der USA bedroht – nicht global, aber in den Gewässern rings um China. Die chinesische Marine, die den Gegner und dessen Militärgeschichte eingehend studiert, befindet sich auf einer rasanten Aufholjagd. Der Grund dafür ist legitim, so Kaplan: China will sich nicht auf die USA oder Indien verlassen müssen, was die Nachschubwege für den eigenen Energiebedarf betrifft. Und so wächst in China die „größte konventionelle Bedrohung für das liberale amerikanische Imperium“ heran. Der drohende Verlust regionaler maritimer Vorherrschaft verweist auf einen strukturellen Wandel. Sie ist mehr als ein Symbol – doch nichts drückt Amerikas globale Hegemonie deutlicher aus als die 24 Flugzeugträgerverbände, die Herrscher über die Weltmeere. Sie verkörpern Amerikas Macht, in ebenso vielen Stunden fast jedes Ziel auf der Welt erreichen zu können, ohne je festen Boden betreten zu müssen. Nach den verheerenden Landkriegen des 20. Jahrhunderts gilt, wenn wir Kaplan beim Wort nehmen: Das 21. Jahrhundert wird wieder ein Jahrhundert der Marine sein.

Die USA haben den größten Teil ihrer Truppen im pazifischen Raum stationiert. Das Operationszentrum des neuen Kalten Krieges ist PACOM, das United States Pacific Command in Honolulu. Dort hat man die strategische Grundlektion unserer Tage verstanden: Das nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaute Allianzsystem ist tot. Bilaterale Militärbündnisse sind den neuen Herausforderungen viel angemessener. Bei PACOM gehen die Vertreter Vietnams, Singapurs, Thailands, Kambodschas oder der Philippinen ein und aus. Das neue flexible System besteht aus einem Netz untereinander mehrfach verknoteter bilateraler Abkommen, die alle bei PACOM zusammenlaufen. Die Einsicht Bismarcks, der einst erfolgreich Europa in sein Bündnissystem einband, hat sich durchgesetzt, wie Kaplan unter Berufung auf Josef Joffe anmerkt: Die anderen Mächte brauchen Amerika dringender als sich gegenseitig. Sie alle fühlen sich bedroht von Chinas Aufstieg.

Niemand kann einen Krieg zwischen China und den USA wünschen. Er würde die Weltwirtschaft zum Kollaps bringen. Kaplans strategische Erwägungen zielen vielmehr darauf, Chinas selbstbewussten Auftritt auf der Weltbühne zu „managen“ und einzudämmen. Dazu verwirft er die ideologische Beschränkung von Außenpolitik, sei sie liberal-internationalistisch oder neokonservativ-interventionistisch. Kaplans pazifische Marineoffiziere verkörpern den Idealtypus des einzigen außenpolitischen Paradigmas, das mit China zurechtkommen könne: eines pragmatischen Realismus. Der Rhetorik der Politiker dürfe man nicht allzu großen Glauben schenken. Selbst wenn der Irak noch zum Erfolg wird – er werde kein strategisches Modell sein. Zu viel Energie wurde dort verbraucht. Niemand will eine Wiederholung. Wir kehren zurück zur Stabilitätspolitik. Dass die mancherorts Demokratisierung verlangt, besonders dort, wo Tyrannei und Armut herrschen oder wo Staaten in von Terroristen genutzte, anarchische Leerräume zu zerfallen drohen, ist eine der Lehren aus jüngerer Zeit. Aber Demokratisierung als Selbstzweck wird nicht der Kern der amerikanischen Strategie sein, klärt uns Kaplan auf.

Die wirtschaftlichen Interessen Amerikas decken sich mit der PACOM-Strategie, China abzuschrecken, ohne es unnötig zu provozieren. China ist zum Meister der „soft power“ avanciert, es weiß seine wirtschaftliche Rolle zu nutzen. Gegen subtile und offene chinesische Drohungen wenden sich Staaten wie Singapur um Hilfe an PACOM. Singapur ist ein Beispiel von vielen, das zeigt, wie heute die flexible pazifische Bündnisstruktur dem NATO-Modell überlegen ist. Singapur verfügt über hochspezialisierte Truppen für den Dschungelkampf, die mit den Amerikanern zusammen eingesetzt werden können. Außerdem bietet Singapur wie sonst nur noch Japan in der Region einen Stützpunkt, der auch die nuklear angetriebenen Flugzeugträger versorgen kann.

Der „militärische Multilateralismus“ ist das Geheimnis der Strategie. Japan und Australien sind die engsten, aber nicht die einzigen Partner, und die meisten verfügen über spezielle Kapazitäten, die Amerika auch von Nutzen sind. Sie alle stehen unter dem Schutz der bedrohten maritimen Vorherrschaft der USA. Amerikas Marine sichert den Welthandel, ohne sie gäbe es keine Globalisierung, wie Kaplan zuspitzt. Das haben die Chinesen begriffen. Sie setzen darum, solange ihre eigene Marine den Vorsprung nicht aufgeholt hat, für die nächsten Jahre oder Jahrzehnte auf einen asymmetrischen Ansatz, der Amerikas Seeherrschaft faktisch außer Kraft setzt. China beherrscht die Kunst asymmetrischer Kriegführung auf hohem Niveau: Strategische Ziele werden weit ins Landesinnere oder tief unter die Erde verlegt; die Raketenstreitkräfte zielen auf Flugzeugträger; beinahe lautlose Unterseeboote lauern im Chinesischen Meer, die ihre militärische Überalterung wettmachen, indem sie sich als mobile Minenfelder einsetzen lassen; Cyberkriegseinheiten könnten die taiwanesische Stromversorgung lahm legen. Mit Mitteln wie diesen kann China auf ein Ende amerikanischer Stationierungsrechte in der Region hinwirken. Kaplan erwartet für die nächste Zeit vermehrt chinesische Demonstrationen militärischer Macht, die Amerika provozieren sollen. China hat auch die Mechanismen des Medienkriegs verstanden.

Der alte Grundsatz divide et impera gilt weiterhin. Man muss China mit vielen Problemen konfrontieren. Kann sich China auf nur eines konzentrieren, wird es dies lösen. Konkret heißt das: Die US-Marine muss sich weiter modernisieren und ihre Fähigkeiten vervielfältigen. Amerika muss seine Stützpunktstruktur im Pazifik verändern. Die gewaltigste aller globalen US-Basen auf Guam sollte künftig nur noch das „Hub“ im einem Netzwerk weltweiter Stützpunkte sein. Das Netz von Stützpunkten spannt sich jetzt bereits von Usbekistan bis Palau, von Kirgistan bis Mikronesien. Das Erfolgsgeheimnis der neuen Struktur vieler kleinerer Stützpunkte heißt CSL (Co-operative Security Location) – nicht massierte permanente Stationierung, sondern flexible Nutzungsrechte.

Die US-Streitkräfte gehen diskret vor; meistens sind ehemalige, mittlerweile im lokalen Kontext verwurzelte amerikanische Soldaten als Privatunternehmer zwischengeschaltet. So profitiert das Gastland etwa durch Bauaufträge, aber eine permanente amerikanische Truppenpräsenz, die Proteste hervorrufen könnte, gibt es nicht – so sind alle zufrieden. In diese Strategie fügt sich auch der humanitäre Einsatz der amerikanischen Marine für die Opfer des Tsunami. Dieser Erfolg war auch ein Etappensieg im Kalten Krieg gegen China. Die Lage bleibt unsicher: Wendet sich Amerika beispielsweise vom usbekischen Diktator Karimow ab, stieße sofort China in den Freiraum vor.

Was Kaplan vorträgt, läuft nicht da-rauf hinaus, eine bipolare Spaltung der Welt vorauszusagen, die irgendwie dem einstigen amerikanisch-sowjetischen Dualismus gleichkäme. Aber die Konfrontation mit China wird das Organisationsprinzip der amerikanischen Verteidigung werden. Das langfristige Ziel dabei: China als potenziellen Aggressor einzudämmen und es so gezähmt am Ende als Partner in das pazifische Allianzsystem einzubinden. Und hier kommt auch Europa wieder ins Spiel. Denn Kaplan sagt „deutlicher, als es viele Politiker und Experten wagen“: Die NATO, wie es sie bisher gab, ist tot. Eine unabhängige europäische Verteidigungsstruktur und die NATO als transatlantisches Verteidigungsbündnis schließen sich gegenseitig aus. Eine militärische Zukunft habe Europa nur in einer NATO, die sich als amphibisches Expeditionskorps neu definiert. Darum dürfe die NATO sich nur dann weiter nach Osten ausdehnen, wenn die Streitkräfte neuer Partner durch Training und Berater auf den Stand der Allianz gebracht worden sind. Die NATO soll nicht „politischer“ werden, sie kann nur als schlagkräftiges militärisches Bündnis überleben, so Kaplan.

Ihre militärische Aufgabe finde sie zur See: Die NATO werde vermehrt die Weltmeere sichern und die USA dort entlasten – wo Europa auch kaum in Konflikte hineingezogen werden kann, denn „Armeen fallen ein, Flotten besuchen Häfen“. Schweden, Holländer, Deutsche oder Norweger investieren bereits in die Modernisierung ihrer Flotten. Amerika kann sich unterdessen auf den Pazifik konzentrieren und dafür sorgen, dass China nicht zum Deutschland des 21. Jahrhunderts wird – durch Einhegung und Einbindung, damit Chinas Ambitionen nicht das internationale Ordnungsgefüge ins Wanken bringen. Eine NATO als „globale Armada“ kann dabei helfen.

Dieses strategische Szenario verheißt eine Rückkehr der Realpolitik und ein Jahrhundert der Marine, ihres Hauptinstruments. Kaplan erklärt: „Die Vorstellung, wir würden uns nicht länger am ‚zynischen‘ Spiel der Machtpolitik beteiligen, ist illusorisch, genauso wie die Vorstellung, wir wären in der Lage, eine Außenpolitik zu verfolgen, die ausschließlich auf wilsonianische Ideale gestützt ist.“

Den großen Entwurf Kaplans ergänzt Benjamin Schwarz in derselben Nummer des Atlantic um einige nüchterne Erwägungen. Er erinnert an Chinas innenpolitische Probleme, an seine drohende Umweltkatastrophe, an die Schwäche seines Militärs. Es bleiben demnach noch mindestens 25 Jahre, um sich auf einen ernsthaften Rivalen China einzustellen. Amerika könne sich darum Zeit nehmen, die eigene Rolle nach dem Ende des Kalten Krieges zu definieren. Wenn es vom Interventionismus der letzten Jahre wieder ablasse, werde es leichter fallen, internationale Zustimmung zu finden und China die Angst vor amerikanischer Einmischung zu nehmen.

An den strategischen Paradigmenwechsel mag Lawrence F. Kaplan in der New Republic (6./13. Juni) nicht glauben. Er beschwört den Erfolg des idealistischen Ansatzes. Die Strategie der Demokratisierung werde sich weiter durchsetzen, lautet seine Voraussage. In der Ausgabe vom 30. Mai sekundiert Gregg Easterbrook, dass vermutlich eine Welt des Friedens vor uns liege. So unglaublich es klinge, alle wissenschaftlich erhobenen Fakten sprächen dafür, dass Kriege und bewaffnete Konflikte seit 30 Jahren, besonders seit 1989, gewaltig abgenommen hätten. Zugenommen habe lediglich die Aufmerksamkeit mittlerweile global agierender Medien. Dem Eindruck permanenter Gewalt stehe der statistische Beweis gegenüber: Noch nie sind so wenige Menschen in Kriegen umgekommen wie 2004, bei seit Jahren abnehmender Tendenz. Auch Gründe für den Rückgang von Kriegen können Forscher bestimmen: wirtschaftliche Prosperität; freie Wahlen; eine stabile, professionelle Zentralregierung; bessere Kommunikation; internationales Engagement und „peacemaking“-Institutionen.

P. H. Liotta und R. M. Lloyd zeigen in der Naval War College Review (Frühjahr 2005), dass jede strategische Planung mit der Bestimmung des nationalen Interesses beginnen muss. Es ist wieder die Marine, die eine Unsicherheit der amerikanischen Strategie offenbart. Denn der Bau von Schiffen dauert lange und macht so die Planung sichtbar. Es mangelt demnach zunehmend an den schwimmenden Einheiten, die man derzeit braucht. Für das nationale Interesse als zentrale Kategorie der Außenpolitik plädiert vehement Nikolas K. Gvosdev (The SAIS Review of International Affairs, Winter/Frühjahr 2005). Er greift Walter Lippmanns Definition auf: Das nationale Interesse einer Demokratie ist das, wofür die Nation bereit ist zu sterben. Es sei an der Zeit für eine Rückkehr zum Realismus. Der Realist sei nicht gefühllos, auch er wolle Unterdrückten helfen oder Freiheit verbreiten. Aber er wisse, dass er nicht alles schaffen kann, und so muss er auch tun oder zulassen, was ihm nicht gefalle. Denn ein Staat dürfe nun einmal nicht, so Hans Morgenthau, wie ein Individuum nach dem Prinzip verfahren: fiat iustitia, pereat mundus. Das Ergebnis zählt in der Außenpolitik, nicht das Motiv. Skepsis gegenüber utopischen Projekten bleibe angebracht.

Und war da nicht noch etwas in Europa? Gerard Baker schreibt für den Weekly Standard (20. Juni), Amerika dürfe sich nach den Referenden nicht der „Schadenfreude“ hingeben. Stattdessen muss es der EU helfen – indem es wirtschaftliche Reformen unterstützt, so weit aus der Ferne möglich. Ob Europa sich politisch näher kommt oder nicht, bleibt Sache der Europäer. Aber eine wirtschaftlich starke EU liegt im amerikanischen Interesse. Und so wird auch hier ein Strategiewechsel gefordert – nämlich „die wirtschaftliche Gesundung Europas und nicht seine politische Integration“ zu einem zentralen Ziel der amerikanischen Außenpolitik zu machen.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7, Juli 2005, S. 108 - 111

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