Das Ende der Wall Street
Die Finanzkrise und ihre Folgen werden Washingtons Politik auf Jahre prägen
Banken stürzen, die Börse fällt, der Staat wird zum Verstaatlicher: Die Zeit des ungebremsten Kapitalismus in den USA ist vorbei. Ihr neuer Präsident muss die Wirtschaft regulieren und eine Depression verhindern. Und den wohl wichtigsten Posten in seinem Kabinett besetzen: Denn über das Schicksal der Weltwirtschaft wird im amerikanischen Finanzministerium entschieden.
Am Ende der Ära George Bush ist Amerikas Wirtschaft nicht wiederzuerkennen. Die größte Finanzkrise seit 80 Jahren – eine globale Krise, die aber in ihrem Kern made in USA ist – hat die Grundvoraussetzungen der amerikanischen Wirtschaftspolitik fundamental verändert. Ausgerechnet unter einem der konservativsten Republikaner seit Jahrzehnten wird der amerikanische Staat gezwungenermaßen seinen Einfluss auf die Wirtschaft in einem Ausmaß ausweiten, wie es zuletzt unter Franklin D. Roosevelt in den dreißiger Jahren geschehen ist. Die Wall Street als feste Größe des US-Wirtschaftslebens gibt es nicht mehr. Finanzminister Henry Paulson führt de facto den gesamten amerikanischen Finanzsektor.
Die Folgen der Krise dürften die gesamte Amtszeit von Bushs Nachfolger prägen. Der 44. Präsident der USA könnte gar nicht mehr so wirtschaften wie sein Vorgänger, selbst wenn er wollte. Durch das Versagen der Finanzmärkte wurde der Staat auf den Plan gerufen, und er wird dort so schnell nicht mehr verschwinden.
Wie sehr sich die Welt in Washington geändert hat, zeigt niemand so gut wie Paul Volcker. Der 81-Jährige ist eigentlich eine konservative Ikone. Von 1979 bis 1987 stand er der Notenbank Federal Reserve vor. In dieser Position besiegte er die Inflation und schuf so die Voraussetzung für die marktwirtschaftlichen Reformen Präsident Ronald Reagans. Zuletzt hatte sich Volcker jedoch zunehmend kritisch mit der Deregulierung der Finanzmärkte auseinandergesetzt; in diesem Wahlkampf stellte sich der alte Republikaner gar an die Seite des jungen Demokraten Barack Obama. Er unterstützte ihn nicht nur, sondern machte Wahlkampf und beriet ihn tagtäglich über den Umgang mit der Finanzkrise. Die Bedeutung dieses Schrittes für die amerikanische Öffentlichkeit lässt sich kaum überschätzen. Die Zeit des ungebremsten Kapitalismus in Amerika ist vorbei.
Das Muster ist für die amerikanische Politik nicht ungewöhnlich: Wirtschaftskrisen haben immer wieder Paradigmenwechsel ausgelöst. Die Finanzkrise von 1907 beendete die Zeit der Räuberbarone und führte zu einer regulierteren Form des Kapitalismus: Die Notenbank Federal Reserve wurde 1913 gegründet, zuvor zerschlug Präsident Theodore Roosevelt das Öl-Kartell John D. Rockefellers. Der Börsenkrach von 1929 beendete die wilden zwanziger Jahre, die anschließende Weltwirtschaftskrise führte 1933 zum „New Deal“ Franklin Roosevelts und zu einer beispiellosen Regulierung des amerikanischen Wirtschaftslebens. Viele der damaligen Neuerungen haben sich, im Guten wie im Schlechten, bis heute erhalten: die Börsenaufsicht SEC, die Sozialversicherung, der Hypothekenaufkäufer Fannie Mae. 1980, fast zwei Generationen später, ließen die Stagnation Amerikas nach dem Vietnam-Krieg und dem ersten Ölpreisschock das Pendel wieder nach rechts ausschlagen. Ronald Reagan besiegte Jimmy Carter, die Zeit der Deregulierung begann.
Der neue Präsident wird, ganz unabhängig von seinen weiteren Intentionen, nun eine Reregulierung des Wirtschaftslebens einleiten müssen. Kurzfristig geht es darum zu verhindern, dass sich die Finanzkrise nicht doch noch zu einer großen Depression auswächst. Die Verbündeten werden die USA drängen, irgendeiner Form der globalen Finanzmarktaufsicht zuzustimmen; im Inneren sind eine Vereinheitlichung und Modernisierung der völlig antiquierten Finanzmarktregulierung erforderlich. Paradoxerweise muss er sich dabei auch mit den deformierten Überbleibseln früherer Staatsinterventionen, wie etwa der Bank Fannie Mae, herumschlagen. In einer noch langfristigeren Perspektive geht es um den Abschied von der Kreditkultur der letzten Jahre: Amerika muss sparen und sich auf höhere Steuern einstellen. Offen ist, wie die unabwendbare Reform des desolaten amerikanischen Gesundheitssystems unter diesen Voraussetzungen finanziert werden soll.
Wer zieht in die Treasury?
Die dringendste Aufgabe des neuen Präsidenten aber wird schieres Krisenmanagement sein, und zwar noch ehe er am 20. Januar ins Weiße Haus einzieht. Um nicht neue, gefährliche Unsicherheiten an den Kapitalmärkten entstehen zu lassen, wird er rasch sagen müssen, wer neuer Finanzminister wird. Auch in normalen Zeiten ist der Chef der Treasury einer der wichtigsten Kabinettsposten in Washington. Der Minister führt nicht nur die Haushaltspolitik, er bestimmt zusammen mit dem Vorsitzenden des Rates der Wirtschaftsberater auch den ökonomischen Kurs der Regierung im weitesten Sinne. In diesem Jahr aber wird in der Treasury über das Schicksal der Weltwirtschaft entschieden. Deshalb wurde schon vor Wochen darüber spekuliert, wer den Schlüsselposten wohl übernehmen wird.
Im Lager Obamas gab es zuletzt zwei heiße Kandidaten: Timothy Geithner und Jamie Dimon. Geithner, 47, ist Präsident der Federal Reserve Bank of New York. Innerhalb des Systems der US-Notenbank ist die New York Fed zuständig für den direkten Kontakt zu den Akteuren der Finanzmärkte. Damit war Geithner während der vergangenen 15 Monate qua Amt und de facto der oberste Krisenmanager von Fed-Präsident Ben Bernanke. Geithner konzipierte die Rettung der Investmentbank Bear Stearns im März 2008, war aber auch mitverantwortlich dafür, dass im September Lehman Brothers keine Hilfe vom Staat bekam und deshalb unterging, was das Weltfinanzsystem an den Rand des Kollapses brachte. Geithner ist ein Zögling des früheren Finanzministers Robert Rubin. Unter ihm und unter dessen Nachfolger Larry Summers diente er von 1999 bis 2001 als Staatssekretär für internationale Angelegenheiten. Er ist damit aufs engste dem Establishment der Demokratischen Partei verbunden.
Jamie Dimon, 52, ist Chef der amerikanischen Großbank JP Morgan Chase. Die Tatsache, dass einer wie er überhaupt für den Posten in Frage kommt, scheint zunächst überraschend. Schließlich sind sich die meisten Amerikaner einig in ihrer Wut über die Exzesse der Wall-Street-Banker. Für Dimon aber spricht, dass es eines Mannes mit profunden Kenntnissen von der Wall Street bedarf, um aus der Krise herauszuführen. Zweitens hat er seine Bank bisher vergleichsweise gut durch die Krise geführt. JP Morgan ist jedenfalls so stark, dass Dimon zwei Opfer der Krise, Bear Stearns und die Sparkasse Washington Mutual, zu Spottpreisen kaufen konnte. Zudem stand Dimon stets der Demokratischen Partei nahe und unterstützte im Vorwahlkampf Hillary Clinton.
In John McCains Team wäre Senator Phil Gramm, 66, aus Texas ein Kandidat für die Treasury. Er kämpft seit Jahren für einen ausgeglichenen Haushalt, allerdings auch für Deregulierung, was heute in Washington als ziemlich unmodern gilt. Zudem bereitete Gramm McCains Wahlkampfmaschine in diesem Frühjahr erhebliche Probleme, als er die Wirtschaftskrise als „mentale Rezession“ bezeichnete und behauptete, die Amerikaner seien eine „Nation von Jammerern“. Andere Namen klingen eher überraschend: Meg Whitman, 52, die frühere Ebay-Chefin, und John Chambers, 59, Chef des Telekommunikationskonzerns Cisco.
Hoffen auf die „Main Street“
Als durchaus möglich gilt allerdings auch noch eine völlig andere Lösung, und zwar unabhängig vom Wahlausgang: Dass der jetzige Minister Henry Paulson als Krisenmanager einfach im Amt bleibt. Dafür gibt es einen Präzedenzfall: Nicholas Brady, der eine führende Rolle bei der Lösung der Schuldenkrise der achtziger Jahre spielte, diente unter Ronald Reagan und wurde von dessen Nachfolger George Bush Senior einfach übernommen.
Und schließlich sagten sowohl Obama als auch McCain, dass sie sich jemanden wie Warren Buffett im Kabinett vorstellen könnten. Aber dies dürfte eher Ausdruck der Stimmungslage der Nation als eine ernsthafte Idee gewesen sein. Der legendäre Investor aus Omaha und reichste Mann Amerikas verachtete schon immer die Exzesse der Wall Street. Die komplexen Finanzprodukte, mit denen dort gehandelt wurde, bezeichnete er einmal als „Massenvernichtungswaffen“. Für viele Amerikaner gilt Buffet als guter Geist des Kapitalismus, als Vertreter von „Main Street“, des durchschnittlichen, einfachen Amerikas. Wer dessen Namen nennt, setzt darauf, dass die Werte des Landes noch intakt sind und man dort auf anständige Weise reich werden kann. Und genau darauf hofft Amerika jetzt nach dem Ende der Wall Street.
NIKOLAUS PIPER ist Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in New York. Sein jüngstes Buch: „Geschichte der Wirtschaft“ (Beltz & Gelberg)
Internationale Politik 11, November 2008, S. 71 - 74