Das Dollar-Paradoxon
Die Finanzkrise macht die Volksrepublik mächtiger und abhängiger zugleich
Als Staatsgeheimnis behandelt die chinesische Staats- und Parteiführung viele, auch sehr triviale Dinge wie die Gesundheit von Präsident Hu Jintao oder das Datum ihrer Sitzungen im Regierungsviertel Zhongnanhai. Den Stempel „Nur für den internen Gebrauch“ drücken chinesische Bürokraten jeden Tag auf Tausende von Dokumenten. Aber neben diesen vielen kleinen Staatsgeheimnissen gibt es auch Großgeheimnisse der ganz besonderen Art – etwa die chinesischen Währungsreserven. Zwar wissen wir aus den regelmäßigen Berichten der chinesischen Zentralbank, dass sie bis Ende September dieses Jahres auf den unvorstellbaren Wert von 1,9 Billionen Dollar angestiegen waren. Kein Land verfügt damit auch nur annähernd über so hohe Devisenreserven wie die Volksrepublik China.
Als Mysterium gilt allerdings die genaue Zusammensetzung dieser Reserven: Wie viel Gold liegt in den Tresoren der Nationalbank? Wie viele amerikanische Regierungsanleihen besitzt sie, wie viele Wertpapiere aus dem Euro- und wie viele aus dem Yen-Raum? Seit langem rätseln Ökonomen aus aller Welt über diese Frage. In der jetzigen Finanzkrise aber geht es nicht mehr um ein akademisches Interesse an diesen Details, sondern um ein zentrales Thema für die globalen Märkte: Wie die Volksrepublik China in den nächsten Monaten und Jahren ihre Währungsreserven einsetzt, entscheidet in großem Maße mit über die Lage der Weltwirtschaft. Sollten die Chinesen zum Beispiel nur fünf Prozent ihrer Währungsreserven aus dem Dollar-Raum in Euroanlagen umschichten, wären damit aller Wahrscheinlichkeit nach gewaltige Verwerfungen auf den Kapitalmärkten verbunden.
Weil wir nicht genau wissen, wie viele und welche Art von Dollar-Anlagen der chinesische Staat hält, wissen wir auch nichts Genaues über die Verluste der Zentralbank in der jetzigen Finanzkrise. Der deutsche Finanzminister Peer Steinbrück prophezeit auf jeden Fall, in Peking finde bereits ein Umdenkungsprozess statt: Nach einem gewaltigen Abschreibungsbedarf bei Dollar-Wertpapieren werde China über kurz oder lang stärker im Euro-Währungsraum investieren.
In Wahrheit aber ist das viel einfacher gesagt als getan: Die Chinesen machen in diesen Monaten die gleichen Erfahrungen wie vor ihnen in den achtziger und neunziger Jahren die Japaner, die damals über die höchsten Währungsreserven der Welt und vor allem über die höchsten Bestände an amerikanischen Staatsanleihen verfügten. Die Japaner stellten damals fest: Jeder Versuch, sich wieder von größeren Teilen dieser Vermögenswerte in den USA zu trennen, führt unvermeidlich zur schnellen Entwertung der restlichen Dollar-Anlagen. Das gleiche gilt heute für die Chinesen: Ein massiver Verkauf von amerikanischen Staatsanleihen würde eine Panik an den Finanzmärkten auslösen, die selbst die jetzige Krisenstimmung noch in den Schatten stellen könnte. Und je schneller die Devisenreserven wachsen, um so mehr verstärkt sich dieser Hebeleffekt. Allein in den ersten drei Quartalen 2008 nahmen sie um 377 Milliarden Dollar zu. Die meisten Experten vermuten, dass die -Chinesen bisher zwei Drittel aller Devisenreserven in amerikanischen Staatsanleihen angelegt haben.
Man kann deshalb mit Fug und Recht von einem Dollar-Paradoxon sprechen: Die gewaltigen Währungsreserven und die dahinter liegenden gigantischen Exporterfolge machen die Volksrepublik China wirtschaftlich und politisch mächtiger denn je – liefern sie aber zugleich mehr denn je auch der Abhängigkeit vom Weltmarkt aus. Schon jetzt zeigt sich: China kann sich weder von der Finanzkrise im engeren Sinn abkoppeln noch von den starken Rezessionstendenzen in der Realwirtschaft. Zwar wuchs die chinesische Wirtschaft im dritten Quartal dieses Jahres immer noch mit einer Jahresrate von acht bis neun Prozent, im Vergleich zu den entwickelten Industrienationen und den meisten Schwellenländern ein sehr starker Wert. Doch die Bremsspuren waren auch in der chinesischen Konjunktur im Oktober bereits heftig. Vor der Finanzkrise lag das Wachstum in China bei zehn bis elf Prozent. Allein sechs bis sieben Prozent Wachstum braucht das Riesenreich nach Expertenschätzungen, um genügend Arbeitsplätze für das ständig wachsende Heer der städtischen Industriearbeiter zu schaffen. Inzwischen gilt es unter China-Experten als durchaus möglich, dass die gesamtwirtschaftliche Wachstumsrate im nächsten Jahr unter diesen kritischen Wert fallen könnte. Vor allem die neuesten Zahlen zur chinesischen Industrieproduktion signalisieren heftige Probleme: Im Oktober lag der Zuwachs der Industrieproduktion mit 8,2 Prozent auf dem niedrigsten Wert seit sieben Jahren. Im März verzeichnete die chinesische Industrie noch einen doppelt so hohen Wert.
Der Verfall der Aktienkurse in Schanghai und die einstürzenden Immobilienpreise in chinesischen Großstädten zeigen der chinesischen Führung eindrucksvoll, wie stark das Riesenreich bereits von der globalen Konjunkturentwicklung und der Nachfrage in den Vereinigten Staaten abhängig ist. Sie versucht nun mit allen Mitteln gegenzusteuern: Im November verkündete die Staats- und Parteiführung ein Gesamtpaket zur Ankurbelung des Binnenmarkts in Höhe von 4000 Milliarden Yuan oder umgerechnet fast 500 Millionen Euro. Mit staatlichen Finanzspritzen will sie dafür sorgen, dass das Vertrauen der chinesischen Verbraucher nicht vollständig zusammenbricht. Im Westen, vor allem in den USA, wurden diese Ankündigungen mit großem Beifall aufgenommen.
In der Vergangenheit gab es in der chinesischen Führung immer wieder vereinzelte Stimmen, die für eine schnelle Abkehr vom Dollar-Raum oder gar den Einsatz der Devisenreserven als politische Waffe plädierten. Mal konstatierte ein chinesischer Staatsbanker öffentlich, der Status des Dollar als internationaler Leitwährung „wanke“ und die Kreditwürdigkeit amerikanischer Wertpapiere falle. Mal empfahl ein Vizevorsitzender des Ständigen Ausschusses des Nationalen Volkskongresses vor laufenden Kameras, China solle mehr Geld im Euro-Raum anlegen. Mal drohte ein konservativer Dozent der Parteihochschule in Peking in einem Aufsatz damit, die USA könnten das „scharfe Schwert“ der chinesischen Wirtschaftsmacht zu spüren bekommen, wenn sie weiterhin an einer Politik der Isolierung gegenüber China festhalten sollten. Aber all diese Einzelstimmen sollte man nicht mit der chinesischen Regierungslinie verwechseln, die nach wie vor sehr verantwortlich mit den Devisenreserven umgeht. Bisher kann man in den offiziellen Verlautbarungen zu diesem Thema keinen wirklichen Gesinnungswandel feststellen. Lediglich eine Änderung ist seit zwei Jahren deutlich erkennbar: Die Chinesen wollen bessere Renditen mit ihren Devisenreserven verdienen. Als Vorbild gelten dabei die sehr erfolgreichen Investitionen Singapurs, das mit seiner Staatsholding Temasek in den letzten drei Jahrzehnten unglaubliche Renditen von durchschnittlich 18 Prozent pro Jahr erzielte.
Riskanter Wechsel der Anlagepolitik
Deshalb erklärte der chinesische Finanzminister Jin Renqing im Oktober 2006, die staatliche Devisenverwaltung werde die „Struktur der Devisenreserven optimieren“. Die Folge in der Praxis waren einige deutlich riskantere Investitionen – vor allem in den USA. Weltweite Schlagzeilen machte die direkte Beteiligung eines chinesischen Staatsfonds an dem Finanzinvestor Blackstone, der 2007 in New York an die Börse ging. Im Nachhinein muss man sagen, dass der Wechsel der chinesischen Anlagepolitik hin zu renditeträchtigeren und damit auch riskanteren Wertpapieren und Beteiligungen genau zum falschen Zeitpunkt erfolgte: kurz vor dem Ausbruch der offenen Finanzkrise und dem Kurssturz an den internationalen Börsen. Viele chinesische Investitionen in den USA und anderswo sind heute deutlich weniger wert als zum Zeitpunkt des Einstiegs – und werden wohl viele Jahre brauchen, um die Einstandspreise wieder zu erreichen. Die chinesische Führung hat sich beim ersten Versuch, die globalen Finanzmärkte besser zu nutzen, die Finger verbrannt.
Trotzdem haben die Chinesen von Anfang an der Versuchung widerstanden, die Finanzkrise für ein „US-Bashing“ zu instrumentalisieren oder anderweitig politisch auszuschlachten. Die offiziellen Kommentare blieben in den vergangenen Monaten sehr zurückhaltend und ohne jede Spur von Triumphgeheul. Ganz anders in Europa: Hier wurden das Versagen des Interbankenmarkts und die staatlichen Rettungsaktionen von einer Welle regierungsamtlicher Kritik am „Scheitern des angelsächsischen Kapitalismus“ überzogen. Vergleicht man etwa die Verlautbarungen des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy mit den Bemerkungen seines Amtskollegen Hu Jintao, dann fragt man sich unwillkürlich, wer von den beiden als Konservativer und wer als Kommunist durchgeht. So beeilte sich Sarkozy zum Beispiel mit dem Vorschlag, Europa müsse den Vereinigten Staaten nun die Vorherrschaft über die Kapitalmärkte entwinden. Die Volksrepublik China agierte in der Finanzkrise dagegen sehr viel zurückhaltender, als es ihr als Wirtschaftsmacht eigentlich schon heute zukäme, kommentierte die britische Wirtschaftszeitung Financial Times im Oktober.
Ministerpräsident Wen Jiabao betonte auf dem Höhepunkt der Finanzkrise noch einmal ausdrücklich, China sei noch keine Supermacht. Sein Land könne nicht aktiver in die internationale Finanzkrise eingreifen, weil nach wie vor Millionen Chinesen in bitterer Armut lebten. Die Führung in Peking werde sich deshalb weiterhin ganz auf die eigene Entwicklung konzentrieren. Natürlich kann man diese Worte auch als Scheu interpretieren, internationale Verantwortung zu übernehmen. Möglicherweise fürchtet Wen, der Westen könne China für teure Rettungsaktionen zur Kasse bitten. China hat auch in dieser Frage das Vorbild Japan vor Augen, das seit Jahrzehnten in internationalen Krisen nicht schlecht fährt mit einem sehr niedrigen politischen Profil. Trotzdem kann man unter dem Strich festhalten, dass die chinesische Führung seit dem Ausbruch der Finanzkrise eigentlich alles richtig macht – auch in westlichen Augen: Sie unterlässt alles, was zu weiteren Verwerfungen führen könnte. Sie agiert mit ihren Devisenreserven als Stabilitätsanker für das internationale Finanzsystem. Und selbst mit ihrer Konzentration auf die eigenen wirtschaftlichen Probleme tun die Chinesen dem Westen gegenwärtig einen Gefallen: Sollte die Binnennachfrage in der Volksrepublik, stimuliert durch das große Konjunkturpaket, tatsächlich anspringen und das exzessive Sparverhalten der Bevölkerung etwas zurückgehen, käme diese neue Konsumlust in der gegenwärtigen Phase der Weltkonjunktur genau recht. China könnte zum ersten Mal die Rolle der internationalen Konjunkturlokomotive übernehmen.
Schon jetzt verstärkt sich die internationale Diskussion über die Rolle Chinas in der Weltwirtschaft. Auf dem Verhandlungstisch liegt der Vorschlag, die Weltwirtschaftsgipfel der sieben führenden Industrienationen (G-7) künftig nicht nur regelmäßig um Russland zu erweitern, sondern auch um China. Der Weltbank-Präsident und ehemalige Welthandelsbeauftragte George Bushs, Robert Zoellick, macht sich für diesen Vorschlag stark. Und auch bei der Neujustierung der internationalen Finanzordnung, die nach der Jahrhundertkrise unumgänglich geworden ist, wird von nun an die Stimme Pekings gehört. Beim Gipfeltreffen in Washington zur Reform der internationalen Finanzordnung spielte Hu Jintao Mitte November bereits eine wichtige Rolle im Kreis der G-20. In dieser Entwicklung liegt eine große außenpolitische Chance für die Volksrepublik China.
Bisher waren die Chinesen noch nicht reif, eine internationale Führungsrolle zu übernehmen. In vielen Konflikten verhält sich die chinesische Führung sehr kurzsichtig und über weite Strecken kontraproduktiv – man denke nur an die Gewaltandrohungen gegenüber Taiwan oder an die negative Rolle in einigen Regionen Afrikas. Die fortlaufenden und systematischen Verstöße gegen die Menschenrechte in China und die Unterstützung diktatorischer Regime überall auf der Welt durch China machen es für die westlichen Staaten insgesamt nach wie vor schwer, die Volksrepublik als vollwertigen Partner auf der Weltbühne zu akzeptieren. In globalen Wirtschafts- und Finanzfragen aber sind die Konfliktlinien mit China deutlich weniger ausgeprägt. Hier kann die Führung in Peking außenpolitische Verantwortung einüben, ohne einen Gesichtsverlust zu riskieren.
Der amerikanische Außenminister Henry Paulson erklärt in einem Aufsatz in der September/Oktober-Ausgabe der amerikanischen Zeitschrift Foreign Affairs: Eine der ersten Herausforderungen des nächsten US-Präsidenten werde es sein, eine geeignete Antwort auf Chinas Aufstieg zur Weltmacht zu formulieren. Der Republikaner wendet sich ausdrücklich gegen die Haltung vieler Mitglieder der scheidenden Bush-Administration, das Reich der Mitte vor allem als globale Bedrohung wahrzunehmen, die man eindämmen müsse: Die „unauflösliche Abhängigkeit“ zwischen dem Wachstum Chinas und der Weltwirtschaft erfordere vielmehr „a policy of engagement“, schreibt Paulson. Das Riesenreich müsse schon jetzt mehr politische Verantwortung übernehmen als andere Entwicklungsländer mit einem vergleichbar niedrigen Pro-Kopf-Einkommen, weil die substanziellen Folgen der chinesischen Politik für die ganze Weltwirtschaft schon heute so viel größer seien. Dieser Einschätzung kann man sich nur anschließen.
BERND ZIESEMER ist Chefredakteur des Handelsblatts und war während der neunziger Jahre Asien-Korrespondent mit Sitz in Tokio.
Internationale Politik 12, Dezember 2008, S. 36 - 39