Wachsen, aber wie?: Schröder-Effekt und Merkel-Mythos
Als Kronzeuge für Sparpolitik taugt Deutschland nur bedingt
Angela Merkel als „Terminator“ – halb Mensch, halb Roboter – wie einst Arnold Schwarzenegger in seinem gleichnamigen Film: So präsentierte die britische Zeitschrift New Statesman Angela Merkel schon vor einem Jahr auf ihrem Titelbild. Dazu die polemische Schlagzeile: „Europe’s most dangerous leader“.
Und noch immer entzweit die Bundeskanzlerin die öffentliche Meinung in Europa wie niemand sonst. Für die einen ist sie die einzige ernst zu nehmende Kämpferin gegen die verheerende Schuldenpolitik in weiten Teilen der Europäischen Union, vor allem in den Südländern. Für die anderen Brünings Widergängerin, die einen ganzen Kontinent in eine wirtschaftliche Abwärtsspirale stürzt.
Auf jeden Fall hört Merkel nicht auf, den Europäern immer die gleiche Rezeptur vorzusetzen: Ohne beinharte Konsolidierung der Staatsfinanzen kein Ende der Euro-Krise und keine Rückkehr zu Wirtschaftswachstum und mehr Beschäftigung – so lautet das Credo der Kanzlerin. Merkwürdig daran aber ist vor allem eines: Deutschland selbst kann gar nicht als Kronzeuge für dieses Glaubensbekenntnis herhalten.
Am Anfang des kleinen Wirtschaftswunders in Deutschland, das uns bisher weitgehend von den ökonomischen Katastrophen in Südeuropa abschirmt, stand eben nicht die Haushaltskonsolidierung. Wenn man die deutschen Erfahrungen der vergangenen zehn Jahre auf eine kurze Formel für Europa bringt, dann kann sie nur so lauten: Strukturreformen bringen mehr Wachstum, mehr Wachstum ermöglicht eine schnelle Haushaltskonsolidierung. Wobei man gleich hinzusetzen sollte: Mehr Wachstum ist die notwendige Voraussetzung für eine Verringerung der Etatdefizite, aber keineswegs eine hinreichende. Der eiserne politische Wille muss hinzukommen.
Das falsche Bild der eisernen Kanzlerin, der Mythos Merkel, verzerrt die ganze europäische Debatte. Es geht im Kern eben nicht um „Haushaltskonsolidierung oder Wachstum“, sondern um die richtigen Strukturreformen, die erst Wachstum und dann anschließend einen schnellen Defizitabbau ermöglichen. Die deutsche Wirtschaft profitiert bis heute von dem Schröder-Effekt: Die Senkung der Einkommens- und Unternehmersteuern, die Liberalisierung des Arbeitsmarkts und die niedrigen Tarifabschlüsse über viele Jahre hinweg machten das kleine Wirtschaftswunder der vergangenen Jahre in Deutschland überhaupt erst möglich.
Deutschlands Wiederabstieg hat bereits begonnen
Es war ein Sozialdemokrat, Gerhard Schröder, der mit klassischer wirtschaftsliberaler Politik in den Jahren 2003 bis 2005 die Bedingungen für mehr Wachstum heute geschaffen hat. Leider brachte Schröder durch seine Politik erst die eigene Partei, dann die Wähler gegen sich auf. Je länger seine Reformen zurückliegen, umso eindrucksvoller erscheint aber seine damalige Bilanz. Daraus ergibt sich auch bereits eine Antwort auf die Frage, was man denn den gebeutelten Südeuropäern empfehlen sollte: nicht Merkel, sondern Schröder. Wie die Reformen in den einzelnen Ländern aussehen müssen, können nur die dortigen Regierungen bestimmen. Ein deutsches Universalrezept für alle gibt es nicht.
Wir sollten auch allen Versuchungen widerstehen, uns wie Wilhelm II. zu gebärden. Im Endeffekt geht es aber zumindest um die gleichen Werte wie einst unter Schröder: mehr Flexibilität und niedrigere Belastungen für die Unternehmen.
Und in Deutschland? Da ist ausgerechnet Angela Merkel dabei, die Erfahrungen der Schröder-Jahre Stück für Stück zu negieren. Die Belastungen der deutschen Unternehmen steigen, die Lohnabschlüsse liegen deutlich über den Produktivitätsgewinnen. Explodierende Energiepreise nach der verfehlten Atomwende, höhere Steuerbelastungen und eine immer stärkere Regulierung der Volkswirtschaft drücken die Wettbewerbsfähigkeit.
Oder mit einem Wort: Während der Rest Europas dabei ist, notgedrungen etwas deutscher zu werden, stellt die deutsche Politik die Weichen dafür, dass unsere Wirtschaft etwas südeuropäischer wird. Man kann das im Sinne der Harmonisierung in der Union begrüßen oder im Sinne eigener nationaler Interessen strikt ablehnen. Aber es ist ein Fakt: Deutschland bleibt wahrscheinlich noch eine ganze Weile wirtschaftlich stark, aber der Wiederabstieg hat bereits begonnen.
Bernd Ziesemer ist Publizist und war lange Jahre Chefredakteur des Handelsblatts.
Internationale Politik 4, Juli/August 2013, S. 22-23