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01. Juli 2008

Brückenbauer am Ganges

Indien ist mehr als nur ein Verbündeter der USA im Konkurrenzkampf mit China

Auf dem Weg zu einer multipolaren Weltordnung tun sich Brüche auf: Die ressourcenhungrigen Schwellenländer beuten die wirtschaftlich Abgehängten aus. In Asien verbünden sich demokratische Staaten gegen autokratische Regime. Indien kann dank seiner demokratischen, konsensgeprägten Traditionen helfen, diese Spaltungen zu überwinden.

Die Weltordnung ist noch nicht multipolar und nicht mehr unipolar. Amerika hat es in dem Jahrzehnt seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion bis zum Ende der neunziger Jahre verpasst, unter seiner Ägide eine liberale Weltordnung zu etablieren. Das mag die Vermutung nahe legen, die heutige sei eine nichtpolare Ordnung, in der vielfältige Bündnisse zwischen verschiedenen Akteuren der strategische Imperativ sind. Aber durch das Auftreten neuer Protagonisten auf der geopolitischen Bühne ist es nur eine Frage der Zeit, bis Multipolarität zum Hauptmerkmal der neuen Weltordnung wird.

Die derzeitige Verschiebung der Machtverhältnisse ist vor allem mit dem wirtschaftlichen Aufstieg Asiens verbunden. 1820 betrug der Anteil des Kontinents an der Weltwirtschaft laut einer Studie der asiatischen Entwicklungsbank 60 Prozent. Heute liegt sein Anteil nach einem guten Jahrhundert der Flaute wieder bei 40 Prozent, und es gibt Szenarien, nach denen er innerhalb der nächsten 25 Jahre wieder auf 60 Prozent steigen wird. Solche Prozesse laufen selten friedlich ab. Sie bewirken, wenn auch nur kurzfristig, Schwankungen im internationalen System. Die zurzeit entstehenden Brüche reflektieren diese Tatsache. Der technologische Fortschritt des letzten Vierteljahrhunderts war geradezu revolutionär. Aber im Gegensatz zu früher ist die qualitative Neuordnung der Macht nicht Siegen auf dem Schlachtfeld oder militärischen Neuaufstellungen geschuldet, sondern einem zivilen Faktor, der die Moderne auszeichnet: schnellem Wirtschaftswachstum. Das Paradoxe daran ist, dass die Machtverhältnisse sich ändern, obwohl die USA nach wie vor die einzige Supermacht und militärisch überlegen sind. Waren sie in den neunziger Jahren noch siegessicher, so erodierte ihre Soft Power ebenso wie die Hard Power in der ersten Dekade des neuen Jahrtausends – Irak, Afghanistan, der Hurrikan „Katrina“ und das Chaos im Nahen Osten gelten als Symbole dafür. In einer Zeit internationaler Instabilität und politischer wie finanzieller Unwägbarkeiten „stöhnt das internationale Publikum entnervt auf, sobald die Amerikaner anfangen, von Idealismus und Optimismus zu sprechen“, wie Außenministerin Rice zugab.1 Die Brüche des Systems zeigen auch, dass Macht und Einfluss nicht mehr dasselbe sind. Trotz ihrer globalen Dominanz geht der Einfluss der USA stetig zurück – und dieser Trend wird sich auch mit einer neuen Regierung nicht ändern. Um Unterstützung für bestimmte Vorhaben zu bekommen, müssen sie andere als die traditionellen Partner einbinden. Gleichzeitig wird Amerika in naher Zukunft der wichtigste Akteur für die internationale Politik und Sicherheit bleiben.

Ein weiterer Faktor vertieft die Brüche: Wir wissen, die Welt ist im Wandel, aber wir haben noch keine Ahnung, wie die neue Ordnung aussehen wird. Der schnelle technologische und ökonomische Wandel ist eine Folge davon, dass Nationalstaaten miteinander konkurrieren und sich in einem System, das größtenteils auf nationaler Sicherheit beruht, Vorteile zu sichern suchen. Hat sich die internationale Wirtschaftsordnung einmal verändert, wird die militärische Macht ihr folgen, wenn auch nur schrittweise. Die transatlantische Ordnung der vergangenen 60 Jahre wird einer wirklich globalen Ordnung Platz machen. Diese entsteht dann, anders als ihre auf den Ruinen des Kalten Krieges errichtete Vorgängerin, in einer Ära des globalen Friedens und wird diesen festigen wollen. Das heißt: mehr Bewusstsein für den kleinsten gemeinsamen Nenner und demokratische Strukturen. Bis diese Entwicklung abgeschlossen ist, werden entlang der globalen Bruchlinien immer mehr geopolitische Risiken auftauchen. Wirtschaftlich wird aus dem Nord-Süd-Gefälle eine ökonomische Vierteilung: der reiche Westen, schnell wachsende Volkswirtschaften etwa in Asien, Staaten, die stagnieren, nachdem sie als Nation ein mittleres Einkommen erreicht haben, und die vergessene Milliarde, die an den Rändern der Globalisierung in Afrika südlich der Sahara lebt. Die Vernachlässigung Afrikas hat ein Vakuum geschaffen, das China nun ausnutzt, um auf aggressive Weise Wirtschafts- und politische Beziehungen mit einigen afrikanischen Staaten aufzunehmen. Diejenigen, die viele Ressourcen brauchen, exportieren Waffen ebenso wie Entwicklungshilfe, um sich Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Eine moderne Version des Great Game, zu Beginn des 19. Jahrhunderts ausgetragen zwischen Russland und Großbritannien um die Vorherrschaft in Zentralasien, entsteht in Afrika, Asien und Lateinamerika. Eine seiner wichtigsten Komponenten ist die Konkurrenz um Öl und Gas.

Eine weitere globale Bruchlinie verläuft entlang politischer Werte. Obwohl das Gleichgewicht der globalen Kräfte sich verändert, spielen einige seiner Hauptakteure diese Möglichkeit herunter. Sie behaupten, dass Pragmatismus und nicht politische Werte ihre außenpolitischen Strategien leitet. Aber im neuen Great Game ist der Charakter einer Regierung ein Schlüsselelement. Eigentlich sollte ja die Bereitschaft, sich an internationale Spielregeln zu halten, mehr zählen als die Regierungsform. Aber eben diese macht es oft schwierig, sich an die Regeln zu halten. In der modernen Geschichte wurde der Widerspruch zwischen Autokraten und Demokraten häufig von gemeinsamen geopolitischen Interessen überdeckt. Aber die heute vorherrschende Unfähigkeit der Staaten, sich auf Ziele zu einigen, birgt das Risiko, dass politische Werte die internationale Gemeinschaft spalten. In Bezug auf Asien wirkt das Szenario bedrohlich. Nur 16 der 39 vom amerikanischen Forschungsinstitut Freedom House untersuchten asiatischen Staaten sind frei.2

Die Asien-Pazifik-Region spaltet sich angesichts dieser strategisch-kulturellen Unterschiede zusehends. Die größeren Demokratien rücken zusammen und versuchen auf der Grundlage gemeinsamer Werte Stabilität zu erreichen. Auf der anderen Seite ist unbestreitbar, dass die treuesten Verbündeten Chinas ebenfalls autokratisch regierte Staaten sind, darunter einige „Schurken“.

Kooperative Ansätze sind vonnöten, die die bestehenden Institutionen, verwurzelt in einer Welt, die es nicht mehr gibt, überwinden. Die G-8 haben einen „Outreach“ in Richtung der Schwellenländer begonnen, um relevant zu bleiben, und die fünf nicht gewählten, sondern ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats können dem Rest der Welt nicht länger Regeln diktieren, sondern müssen ihre Macht mit den neuen Kräften teilen. Es war ein Fehler zu glauben, dass mehr ökonomische Verflechtung automatisch auch die internationale Politik verbessern würde. Daher sind Schritte notwendig, die bisher verhindert wurden: institutionelle Reformen, größere Transparenz in strategischen Doktrinen und Militärausgaben, kooperative Ansätze und gemeinsame Ziele.

Globaler Swing-State

Was ist Indiens Rolle vor diesem Hintergrund? Sein wachsendes geopolitisches Gewicht, seine hohe BIP-Wachstumsrate und die umfassenden Investitionsmöglichkeiten haben sein internationales Profil verbessert. Es wird inzwischen als wichtiger Swing-Staat in der internationalen Ordnung wahrgenommen. Als solcher hat Indien das Potenzial, eine konstruktive Rolle bei der Minderung geopolitischer Risiken zu spielen. Indien könnte eine Brücke zwischen Ost und West bilden. Es ist nicht nur die größte Demokratie, sondern auch das vielfältigste Land der Welt. Ein Sechstel der Menschheit lebt hier, und es gibt mehr verschiedene Sprachen als in Europa. Alte Traditionen gehen Hand in Hand mit der Postmoderne, wie ein Foto zeigt, auf dem eine elektronische Wahlmaschine auf dem Rücken eines Elefanten zum Wahllokal gebracht wird.

Natürlich gibt es Einschränkungen. Indiens Nachbarschaft ist explosiver denn je, gescheiterte Staaten stellen ein hohes Sicherheitsrisiko dar. Und die Demokratie mag zwar Indiens größtes Gut sein, aber sie wird teilweise von klientelistischen Strukturen beherrscht. Auf dieser Basis eine langfristige Agenda für die Zukunft aufzustellen, ist schwierig. Doch in seiner gesamten Geschichte hat Indien immer wieder bewiesen, dass es in der internationalen Politik eine ausgeglichene, einigende Rolle spielen kann. Es ist reich an philosophischen und kulturellen Strömungen, die Kompromisse, Versöhnung und kreative Lösungen propagieren

Diese Traditionen erklären unter anderem, warum Indien den US-amerikanischen Eifer für den Demokratieexport nicht teilt. Seine Haltung der Demokratie gegenüber ist eher pragmatisch. Henry Kissinger bezeichnet sie als „effektivste Art, die verschiedenen Komponenten eines Staates zu versöhnen“. Er führt aus: „Indien will weder seine Kultur noch seine Institutionen verbreiten und ist (den USA) daher kein geeigneter Partner für globale ideologische Feldzüge.“3

Nichtsdestoweniger wird Indien sich weiterhin als Modell einer nichtwestlichen Demokratie hervortun. Normalerweise beansprucht der Westen Ideen wie Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit für sich, aber auch Indien hat eine lange Tradition, die diese Werte respektiert. Der Ökonom Amartya Sen führt dafür den Herrscher Ashoka an, der „im dritten Jahrhundert vor Christus überall im Land Steintafeln aufstellen ließ, auf denen Regeln zu gutem Verhalten und weisem Regieren eingraviert waren. Dazu gehörte auch die Forderung nach grundlegenden Freiheiten für alle – er schloss tatsächlich weder Frauen noch Sklaven davon aus, im Gegensatz zu Aristoteles.“4 Sen fährt fort: „Die Behauptung, dass Ideen von Frieden und Toleranz durch die Jahrtausende in der westlichen Kultur zentral, aber den Asiaten irgendwie fremd sind, ist meiner Ansicht nach rundheraus abzulehnen.“

Viel ist schon darüber geschrieben worden, dass die USA ihre verbesserten Beziehungen zu Indien nutzen wollen, um ein Gegengewicht zu China zu bilden. Doch eine dauerhafte Partnerschaft mit den USA kann nur auf der Basis gemeinsamer Interessen und nicht aus strategischem Opportunismus heraus entstehen. Geteilte Interessen gehen über demokratische Werte, über die man sich einig ist, weit hinaus. Es ist unwahrscheinlich, dass Indien sich auf Dauer als Gegengewicht zu einer anderen Macht benutzen lässt.

Ökonomisch wird Indien in den nächsten Jahren näher an den Westen heranrücken. Doch strategisch hat es viele Möglichkeiten – von Nehrus Prinzip der Blockfreiheit bis hin zur aktuellen, globalisierten Sachlichkeit. Angesichts der neuen internationalen Ungleichheiten und Verschiebungen ist Blockfreiheit in ihrer ursprünglichen Form nicht mehr relevant. Aber viele Inder halten es nach wie vor für wichtig, eine unabhängige Außenpolitik zu verfolgen. Entsprechend dieser Priorität wird Indien sich wohl die Möglichkeit offen halten, verschiedene Partnerschaften einzugehen, um in unterschiedlichen Zusammenhängen seine jeweiligen Interessen verfolgen zu können. Vom blockfreien wird Indien also eher zum Multi-Block-Staat. Und obgleich es eher in Richtung Washington tendiert, bewahrt es doch das Herzstück der Blockfreiheit: die strategische Autonomie.

Im asiatischen Kontext bemüht sich Indien vor allem darum, dass sich der Wettbewerb zwischen den Hauptakteuren nicht zu einer größeren Konfrontation entwickelt. Die Herausforderung besteht darin, das Misstrauen zu überwinden und Wege für eine Zusammenarbeit zu öffnen, die allen Seiten Gewinn bringt. An der Spitze der neuen Bündnisbegeisterung in Asien stehen die aufstrebenden Mächte des Subkontinents und nicht, wie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, die USA. Entsprechend werden Sicherheit und Zusammenarbeit in Asien vor allem von dem Gleichgewicht zwischen diesen Mächten abhängen. Konkurrenz um Ressourcen darf die Rivalität zwischen den Staaten nicht vertiefen. Unternehmerische Anstrengungen, die Kontrolle über Öl- und Gasvorkommen sowie Transportwege zu sichern, bergen das Risiko, die Spannungen zu verschärfen. Da es in Asien noch kaum regionale Institutionen gibt, die sich mit diesen Konflikten beschäftigen könnten, ist es umso notwendiger, dass die Staaten kooperieren. Eine der Herausforderungen dabei ist es, Transport und Verbrauch effizienter zu gestalten und bezüglich der Importe besser zusammenzuarbeiten.

China, Japan, Indien und andere wichtige Akteure auf dem asiatischen Kontinent können ihre Interessen nicht verfolgen, wenn sie den Eindruck vermitteln, dass sie aus der Sicherheitspolitik ein Nullsummenspiel machen wollen. Diese drei großen Mächte könnten durch stabile politische Beziehungen ein Vorbild für andere asiatische Staaten sein. Sie sind als Führungsmächte unverzichtbar. Abschreckung, Stabilität und Frieden waren bisher das Herzstück des asiatischen Wachstums. Diese drei Elemente müssen gestärkt werden, damit die asiatische Renaissance sich voll entfalten kann.

Prof. Dr. BRAHMA CHELLANEY,  geb. 1957, ist Professor für strategische Studien am privaten Center for Policy Research in Neu Delhi.

Aus dem Englischen von Dinah Stratenwerth

 

  • 1US-Außenministerin Condoleezza Rice in ihrer Rede beim Weltwirtschaftsforum in Davos 2008, www.state.gov/secretary/rm/2ßß0/01/99624.htm.
  • 2Freedom House: Freedom in the world, Washington D.C. 2006.
  • 3Henry A. Kissinger: Anatomy of a partnership, Tribune Media Services, 10.3.2006.
  • 4Amartya Sen: East and West: The Reach of Reason, The NewYork Review of Books, 20.7.2000.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7-8, Juli/August 2008, S. 118 - 122

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