Ausweitung der Kampfzone
Zur Geschichte des Genozid-Begriffs
Nach dem Zweiten Weltkrieg fanden zwei Begriffe Eingang in das internationale Strafrecht: Genozid und Verbrechen gegen die Menschheit. Ihre Auslegung ist bis zum heutigen Tag umstritten. Besonders der Genozid-Begriff birgt riesiges Mobilisierungspotenzial und dient der Rechtfertigung zweifelhafter Militärinterventionen.
Vor 65 Jahren, kurz vor der endgültigen Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg, tauchte der Begriff Genozid erstmals auf. Raphael Lemkins „Axis Rule in Occupied Europe“ (1944) enthielt ein Kapitel mit der schlichten Überschrift „Genocide“, und innerhalb weniger Monate fand der Fachterminus Eingang in die englische und in weitere Sprachen. Als im Juni 1945 in London die Charta des Internationalen Militärtribunals unterzeichnet wurde, verwendete Robert H. Jackson, Richter am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten, den Begriff Genozid, um die Gräueltaten der Nazis zu beschreiben. Als aber im Oktober 1946 das Nürnberger Tribunal die Angeklagten wegen ihrer Verbrechen gegen die Menschheit verurteilte, ging es ausschließlich um Verbrechen, die nach Kriegsausbruch begangen worden waren. Lemkin, dem 1939 als polnischer Jude die Flucht aus Warschau gelungen war und der Jackson während des Prozesses assistiert hatte, war außer sich. In New York warb er vor der ersten UN-Generalversammlung für eine Resolution, die Genozid als internationales Verbrechen festschrieb – in Kriegs-, aber auch in Friedenszeiten. Im Dezember 1946 wurde diese Resolution verabschiedet. Sie bereitete der zwei Jahre später beschlossenen Konvention über die Verhütung und Bestrafung von Völkermord den Weg.
Lemkins Verärgerung über das Nürnberger Urteil rührte von der Doppelmoral der vier Siegermächte, die das internationale Militärtribunal errichtet hatten. Denn ursprünglich weigerten sie sich, die Zuständigkeit des Tribunals auf in Deutschland und an deutschen Staatsbürgern begangene Verbrechen auszuweiten. Dies sei, argumentierten sie, eine interne Angelegenheit, die nicht unter das Völkerrecht falle. Unumwunden gab der amerikanische Hauptankläger Robert H. Jackson auf der Londoner Konferenz zu, dass die Vereinigten Staaten selbst Schwierigkeiten mit der Unterdrückung von Minderheiten hätten und nicht gewillt seien, einen Präzedenzfall zu schaffen, der im Zweifelsfall nicht nur auf die Nazis, sondern auch auf die eigene Regierung anwendbar sei. Jackson spielte damit auf die Situation der Afroamerikaner in den USA an. Seine Kollegen aus Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion verhielten sich zurückhaltender. Doch alle vier Siegermächte – davon zwei Kolonialmächte – scheuten sich, einen Präzedenzfall zu schaffen, der ihrer eigenen politischen Führung zum Verhängnis werden konnte. Gleichzeitig schien es angesichts der Schwere der nationalsozialistischen Verbrechen undenkbar, die Angeklagten ungestraft davonkommen zu lassen. Daher wählten die vier Siegermächte den Begriff Verbrechen gegen die Menschheit, begrenzten seine Anwendung aber auf Verbrechen, die im Rahmen eines Angriffskriegs begangen worden waren. Auf diese Weise entsprachen sie dem moralischen Imperativ, die angeklagten Nazis auch für ihre Verbrechen an der deutschen und insbesondere an der jüdischen Bevölkerung zu verurteilen, schützten sich aber gleichzeitig vor vergleichbaren Vorwürfen.
Auf Auslöschung begrenzt
Lemkin versuchte gewissermaßen, das Konzept des Verbrechens gegen die Menschheit zu umgehen, das in Nürnberg künstlich auf Angriffskriege begrenzt worden war, und ein völlig neues Paradigma einzuführen, das des Genozids. Doch obwohl 1946 die Genozid-Resolution und 1948 die Konvention zur Verhütung und Bestrafung von Völkermord verabschiedet wurden, hatte Lemkin mit seinem Anliegen nur teilweise Erfolg. Denn die vier Siegermächte, die sich in Nürnberg der Anerkennung von Genozid in Friedenszeiten widersetzt hatten, waren nicht bereit, zwei Jahre später in der UN-Generalversammlung das genaue Gegenteil zu akzeptieren. Ergebnis war eine Konvention, die zwar auch Verbrechen berücksichtigte, die zu Friedenszeiten begangen wurden, Verbrechen jedoch äußerst restriktiv definierte. Während der in Nürnberg verwendete Begriff Verbrechen gegen die Menschheit eine ganze Reihe von Vergehen – von Diskriminierung und Unterdrückung bis zu Verfolgung und Massenmord – umfasste, wurde Genozid in der Konvention auf die physische Auslöschung von nationalen, ethnischen und religiösen Gruppen beschränkt. Damit deckte die Konvention weder die Nürnberger Rassengesetze noch die Reichskristallnacht ab, da es sich dabei nach verbreiteter Auffassung zwar um Verfolgung von Minderheiten, nicht aber um einen groß angelegten Auslöschungsplan handelte. Es gilt als unwahrscheinlich, dass es vor der Wannsee-Konferenz bereits einen konkreten Vernichtungsplan gab. Aus diesem Grund sprach 1961 das Jerusalemer Bezirksgericht Adolf Eichmann vom Vorwurf des Genozids in den Jahren vor 1942 frei, verurteilte ihn aber wegen seiner Verbrechen gegen die Menschheit im gleichen Zeitraum. Das zeigt, wie inkonsequent der Umgang mit Menschenrechtsverbrechen in der Umbruchphase nach dem Zweiten Weltkrieg war.
Nun standen zwei Begriffe im Raum: Verbrechen gegen die Menschheit umschloss eine Reihe von Tatbeständen, die sich generell gegen die Zivilbevölkerung richteten, nicht nur gegen eine ethnische Minderheit. Das Konzept wurde allerdings durch die Bedingung eingeschränkt, dass die Verbrechen im Zusammenhang mit einem Angriffskrieg begangen worden sein mussten. Obwohl sich die Charta des internationalen Militärtribunals nur auf die Verbrechen der europäischen Achsenmächte (Deutschland, Italien) bezog, etablierte sie Prinzipien von allgemeiner Gültigkeit, die Rechtsexperten heute als internationales Gewohnheitsrecht bezeichnen. Genozid dagegen wurde in der Konvention von 1948 als Verbrechen festgeschrieben. Er sollte auch dann unter internationales Strafrecht fallen, wenn er in Friedenszeiten begangen wurde. Seine Ahndung erforderte jedoch die Überwindung einer hohen Beweisschwelle: Es musste nachgewiesen werden, dass die Absicht der physischen Auslöschung einer nationalen, ethnischen oder religiösen Gruppe vorlag.
Zwischen diesen beiden Regelungen klaffte von Anfang an eine riesige Lücke. Manche behaupten gar, dass ein Großteil der schrecklichen Menschenrechtsverletzungen und Massenmorde, die in dem halben Jahrhundert nach Nürnberg und nach der Verabschiedung der Genozid-Konvention begangen wurden, von keinem der beiden Konzepte abgedeckt wurde – für Menschenrechtsaktivisten ein ewiger Quell der Frustration. Aktivisten kämpften für eine Erweiterung des Genozid-Begriffs, entweder durch einen Nachtrag zur Konvention oder eine proaktivere juristische Auslegung. Letztendlich wurden die Mängel im internationalen Strafrecht aber auf andere Weise ausgebessert, ohne Änderung der Konvention. In den neunziger Jahren wurde der Begriff „Verbrechen gegen die Menschheit“ drastisch erweitert, erst in den Urteilen des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien und anschließend im Zuge des Verrechtlichungsprozesses, der schließlich in das Rom-Statut zur Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofs mündete. Inzwischen herrscht kein Zweifel mehr daran, dass Verbrechen gegen Zivilisten in Friedenszeiten unter internationales Strafgesetz fallen. Wenn Lemkin heute noch lebte, sähe er vermutlich wenig Sinn darin, weiterhin für den von ihm geprägten Genozid-Begriff zu kämpfen und ihn zu erweitern. Denn 65 Jahre nach seiner Prägung wird er gewissermaßen unter das artverwandte Konzept der Verbrechen gegen die Menschheit subsumiert. Es gibt praktisch kaum einen Unterschied zwischen beiden Begriffen, zumindest nicht im Hinblick auf ihre strafrechtlichen Konsequenzen. Beide beinhalten die Pflicht zu ermitteln, Angeklagte strafrechtlich zu verfolgen und gegebenenfalls auszuliefern. Und beide beinhalten laut einer UN-Resolution von 2005 eine „Schutzverantwortung“.
Allzweckwaffe Genozid-Begriff
Neben dem völkerrechtlichen Genozid-Begriff und dem drastisch erweiterten Konzept der Verbrechen gegen die Menschheit gibt es auch einen populären Genozid-Begriff, der oft völlig realitätsfern verwendet wird. In der öffentlichen Debatte und als Instrument von Interessenpolitik hat der ursprüngliche Begriff, der in einem internationalen Prozess der Rechtsgenese entstanden ist, eine veränderte Bedeutung angenommen. Vor knapp einem Jahr wurde ein Bericht mit dem Titel „Preventing Genocide: A Blueprint for US Policy Makers“ veröffentlicht, der auf den Ergebnissen einer von Madeleine Albright und William Cohen geleiteten Tagung beruhte.1 Dort heißt es: „Um die legalistischen Argumentationen zu vermeiden, die wiederholt ein effektives und schnelles Eingreifen verhindert haben, erweitert die Task Force zur Genozid-Prävention die Definition von Völkermord, womit großangelegte und absichtsvolle Angriffe auf Zivilisten gemeint sind.“ Damit verwischt die Trennschärfe zwischen Genozid und Verbrechen gegen die Menschheit. Die Autoren des Berichts rechtfertigen sich nicht für die Absicht hinter dieser rechtlichen und sprachlichen Unschärfe. Ihr Ziel ist, das Mobilisierungspotenzial des Begriffs für politische Zwecke auszuschöpfen.
Doch den Genozid-Begriff zu erweitern ist ein zweischneidiges Schwert. In Verbindung mit den grausigen Menschenrechtsverletzungen in Darfur oder auch andernorts ruft der Begriff weltweit heftige Reaktionen hervor. Einerseits verweisen diejenigen, die zum Handeln aufrufen, auf Erfolge von Interventionen, die in der Vergangenheit schreckliche Verbrechen verhinderten. Doch auch Schuldgefühle, bei vergangenen Genoziden versagt zu haben, beispielsweise in Ruanda, spielen eine Rolle. Es gibt allerdings einen Haken: Die meisten Lösungen, die der Albright-Cohen-Bericht vorschlägt, erfordern den Einsatz der amerikanischen Streitkräfte. Wenn sich mächtige Staaten mit ihren großen Armeen aus noblen humanitären Beweggründen engagieren, ist das beunruhigend – zumindest, wenn eine erweiterte Definition von Genozid lediglich als Vorwand für eine militärische Intervention dient. Darin liegt der inhärente Zwiespalt der Diskussion: Der Einsatz bewaffneter Streitkräfte zur Verhinderung von Völkermord wird akzeptabler und oft auch ausdrücklich gewünscht. Doch in dem Maße, in dem die Akzeptanz für bewaffnete Einsätze steigt, muss sich die Definition von Genozid in präzise Grenzen einfügen. Sonst drohen Militärinterventionen schlimmstenfalls die Glaubwürdigkeit der Schutzverantwortung zu untergraben. Ruanda steht nicht zur Debatte – die Ereignisse von 1994 werden zu Recht als einziger unstrittiger Genozid der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts bezeichnet. Doch schaut man sich Kambodscha, Gaza, Sudan, Simbabwe und Sri Lanka an, wird die Einordnung schwieriger. In Brasilien, Mexiko und Argentinien gab es in den vergangenen Jahren Gerichtsurteile zu vermeintlichen Genoziden, deren Hintergründe sich stark von denen in Ruanda oder im Dritten Reich unterschieden. Von wohlmeinenden Aktivisten werden diese Urteile begrüßt; sie sehen in jeder Erweiterung des Genozid-Begriffs einen Schritt in die richtige Richtung. Doch ist es wirklich in ihrem Sinn, die USA mit einer humanitären Rechtfertigung für militärische Eingriffe zu versorgen?
Es herrscht ein regelrecht obsessiver Glaube an die Wirksamkeit militärischer Interventionen als Mittel, die Schutzverantwortung wahrzunehmen. Doch selbst das schreckliche Massaker in Ruanda ist kein Beleg dafür, dass Militärinterventionen die einzig mögliche Maßnahme zur Verhinderung von Genozid sind. Zwar unterstützt ein von einem amerikanischen Think-Tank veröffentlichter Bericht die Auffassung, die zuerst von Romeo Dallaire, Befehlshaber der UN-Blauhelme, geäußert wurde: Man hätte den Genozid in Ruanda mit einer Truppenstärke von 5000 Soldaten und einem eindeutigen Mandat verhindern können. Mag sein. Doch hätte der Genozid nicht ebenso von einer entschlossenen politischen Intervention seitens jener europäischen Macht verhindert werden können, die das ruandische Geschehen jahrelang dominiert hatte? Hätte Frankreich rechtzeitig mit seinen loyalen Bündnispartnern in Kigali verhandelt, hätte es wohl das Schlimmste verhindern können.
Nach fast 50 Jahren des Schweigens hat die internationale Gemeinschaft in den Neunzigern ihre Vision von Gerechtigkeit wiederbelebt. Von den UN-Tribunalen und dem Internationalen Strafgerichtshof werden Genozid und Verbrechen gegen die Menschheit als Straftaten geahndet. Im Zuge dieses Prozesses entwickelte sich die Doktrin der Schutzverantwortung. Sie gilt als Ergänzung eines Prinzips, das in die Genozid-Konvention integriert wurde, aber dessen Tragweite lange Zeit nicht ausgelotet wurde: die Pflicht, Genozid zu verhindern. Diese Prinzipien bergen großes Potenzial. Doch ihre Ausarbeitung ist noch unvollständig.
Prof. WILLIAM A. SCHABAS leitet das Center for Human Rights an der National University of Ireland, Galway.
- 1Unter http://www.ushmm.org/genocide/taskforce/report.php findet sich der vollständige Bericht der Genocide Prevention Task Force. Veranstalter der Tagung waren das U.S. Holocaust Memorial Museum, die American Academy of Diplomacy und das U.S. Institute of Peace.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2011, S. 23 - 27