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01. März 2017

Ausgebremste Überflieger

Was einem neuen italienischen Wirtschaftswunder im Wege steht

Könnten italienische Unternehmer unter gleichen Bedingungen konkurrieren, dann wären sie unschlagbar. Nur werden sie durch Bürokratie und Protektionismus unnötig behindert. Welche Reformen sind nötig, um die drittgrößte Volkswirtschaft der Euro-Zone zu retten? Lorenzo Bini Smaghi, Ex-Direktor der Europäischen Zentralbank, im Gespräch.

Internationale Politik: Herr Bini Smaghi, anders als es etwa in Spanien der Fall ist, hat die Wirtschaftskrise Italien noch immer fest im Griff. Warum?

Lorenzo Bini Smaghi: Italiens Wirtschaft wächst zu langsam, und das schon seit etwa 20 Jahren. Aus diesem Grund hat sich die Krise hier auch stärker ausgewirkt. Italien kämpft mit alten Problemen, und das erschwert die notwendigen Reformen des Wirtschaftssystems – noch dazu in Zeiten eines globalen Wandels. Doch je länger man abwartet, desto schwieriger wird es.

IP: Man sagt oft, dass es insbesondere die Verwaltung und die Bürokratie seien, die einen wirtschaftlichen Aufschwung abbremsen …

Bini Smaghi: Es stimmt, verglichen mit anderen Ländern ist unsere Bürokratie ausgesprochen schwerfällig – auch weil die Gesetze häufig kaum verständlich sind. Das macht den Entscheidungsträgern das Leben schwer. Außerdem arbeitet jede Institution nur für sich, anstatt sich mit anderen abzustimmen. Daraus ergeben sich allzu lange Wartezeiten für Unternehmer und somit auch weniger Investitionen.

IP: Auch bei der Justiz vermissen viele Effizienz und Tempo. Mit Recht?

Bini Smaghi: Da sehe ich die Lage etwas anders. Zum Teil arbeitet unser Justizwesen ausgesprochen effizient und entspricht absolut den internationalen Standards. In anderen Sektoren hinkt es in der Tat hinterher. Auch das schreckt potenzielle Investoren ab.

IP: Glaubt man einigen italienischen Wirtschaftsexperten, dann sind es nicht nur hausgemachte Probleme, die dem Wachstum im Wege stehen. Auch die europäische Wirtschafts-, Finanz- und Fiskalpolitik tragen ihren Teil dazu bei. Viele Italiener stören sich insbesondere an einer Denkrichtung, die sie als Ordoliberalismus bezeichnen, als „typisch deutsche“ Strenge …

Bini Smaghi: Der Drang, dem anderen die Schuld in die Schuhe zu schieben, ist in Europa verbreitet. In der Regel muss Brüssel als Sündenbock herhalten. So übersieht man aber, dass die EU, von der Wettbewerbs- und Geldpolitik abgesehen, nur über einen begrenzten Handlungsspielraum verfügt. Im Wesentlichen bestimmen noch immer die Staaten die Politik, und zwar jedes Land für sich. Bei der Zusammenarbeit von nationaler und europäischer Politik sehe ich erheblichen Verbesserungsbedarf. Das europäische System selbst ist meines Erachtens ausreichend flexibel. Zuletzt hat man ja auch das Tempo der Sanierungsprogramme zurückgefahren, um die nötigen Strukturreformen in die Wege zu leiten. Italiens Problem ist, dass die Reformen nicht immer wie geplant umgesetzt wurden – zuweilen wurde das exakte Gegenteil daraus.

IP: Die internationalen Medien zeichnen von Italien gern das Bild eines Landes, das sich permanent am Rande des Abgrunds befinde und bei einem Absturz die ganze Euro-Zone mit sich reißen könnte. Ist die Lage wirklich so dramatisch?

Bini Smaghi: Es stimmt, dass man in Italien Entscheidungen gerne in der letzten Minute trifft. Indem man die dann fälligen Rettungsmaßnahmen als alternativlos darstellt, hofft man, auf weniger Widerstand zu stoßen. Das wird dem Land auf lange Sicht teuer zu stehen kommen.

IP: Wie sehen Sie Matteo Renzis Regierungsbilanz? Als Vorbild für seine Politik galten ja die Reformen in Deutschland unter Bundeskanzler Gerhard Schröder. Sehen Sie da Gemeinsamkeiten?

Bini Smaghi: Renzi hat den gleichen Weg eingeschlagen wie seinerzeit Schröder – aber unter völlig anderen Umständen. Heute wächst die Weltwirtschaft schleppender als zur Zeit der Jahrtausendwende; Italien hat weit höhere Staatsschulden. Außerdem darf man den politischen Aspekt nicht vergessen. Schröder wollte die Reformen, koste es, was es wolle, notfalls seine Kanzlerschaft. Renzi war es wichtiger, die Wähler nicht zu verärgern. Statt den Reformweg konsequent zu verfolgen, hat er das Land ein ganzes Jahr lahmgelegt. Und das für eine Verfassungsreform, die umstritten war und die Gesellschaft tief gespalten hat.

IP: Glauben Sie, dass Renzis Nachfolger Paolo Gentiloni dessen Kurs fortführen wird?

Bini Smaghi: Wünschenswert wäre, dass er dort wieder anknüpft, wo Renzi aufgehört, oder besser, wo er angefangen hat. Viel Hoffnung, dass es so kommen wird, habe ich aber nicht. Gentiloni ist weder dazu legitimiert noch verfügt er über die dafür nötige Durchsetzungsfähigkeit. Spätestens in einem Jahr sind Parlamentswahlen angesetzt, ich könnte also nicht einmal sagen, wie viel Zeit überhaupt noch bleibt, um Reformen durchzubringen.

IP: Welche Reformen sind denn jetzt unbedingt notwendig?

Bini Smaghi: Alle, die das Wirtschaftssystem betreffen – Wettbewerbsfähigkeit, öffentliche Verwaltung, Justiz. Was wir brauchen, ist eine völlige Neugestaltung der Beziehungen zwischen Unternehmen, Staat, Gewerkschaften und Arbeitnehmern. Ein großer Teil der Entlohnung ist nicht mehr an die Produktivität gekoppelt. Und das schwächt die Wettbewerbsfähigkeit.

IP: Matteo Renzi hatte sich vorgenommen, der Welt zu beweisen, dass sein Land sehr wohl reformierbar ist. Die Italiener haben aber im Dezember die Verfassungsreform abgelehnt. Heißt das, dass Renzi unrecht hatte?

Bini Smaghi: Ich glaube, dass die Italiener, wie die Menschen in jedem anderen Land, nicht prinzipiell gegen Änderungen sind. Sie wollen die positiven Auswirkungen allerdings sofort sehen. Da nun die globale Konjunktur schwächelt und wenig Dynamik zeigt, wächst die Ungeduld und mit ihr auch die Gefahr einer Enttäuschung, wenn die Reformen nicht sofort positive Effekte zeitigen. Diese Enttäuschung kann dazu führen, dass man sich zurück in die Vergangenheit sehnt und die schon beschlossenen Reformen verwirft.

IP: Mario Draghi, der Chef der Europäischen Zentralbank, hat in der Euro-Krise die Strategie verfolgt, Anleihen der Euro-Staaten zu kaufen. Bundesbankchef Jens Weidmann kritisiert das, weil es den Krisenländern nicht helfe und ihren Reformeifer bremse. Ist da was dran? Wie ginge es Italien ohne Draghis Strategie?

Bini Smaghi: Die eigentliche Frage, die man sich stellen müsste, ist eine andere, und zwar – wie ginge es Europa? Denn diese Geldpolitik kommt dem ganzen Kontinent zugute. Meiner Meinung nach stünde kein Land mit einer anderen Strategie besser da.

IP: Einmal angenommen, die US-Notenbank Fed würde die Zinsen weiter erhöhen, müsste dann Draghi nicht folgen? Und wenn auch er den Zinssatz höher schrauben sollte, was würde das für Italiens Staatsschulden bedeuten?

Bini Smaghi: Auch wenn die Fed die Zinsen weiter erhöhen sollte, könnte sich die EZB den Luxus leisten, an der Draghi-Strategie festzuhalten oder sie allenfalls schrittweise anzupassen. Zwar stimmt es, dass sich höhere Zinsen negativ auf die europäische Wirtschaft auswirken könnten. Die Entwertung des Euro gegenüber dem Dollar würde das aber mehr als kompensieren. Denn ein schwächerer Euro fördert die Wettbewerbsfähigkeit und den Export.

IP: Einer anderen Prognose zufolge dürfte Italien über kurz oder lang unter den ­Euro-Rettungsschirm schlüpfen und vom Stabilisierungsmechanismus ESM aufgefangen werden.

Bini Smaghi: Italien hat noch immer Zugang zu den Finanzmärkten und kann sich zu niedrigen Zinsen verschulden. So gesehen braucht das Land die Troika nicht bei sich zu Hause. Anders sähe es aus, wenn man sie riefe, weil man fürchtete, ohne diesen Druck keine Reformen durchsetzen zu können. Das wäre aber ein riskanter Schachzug – die Bürger würden erst recht gegen die EU rebellieren.

IP: Sie haben vorgeschlagen, Italiens Bankenkrise mit den Geldern der europäischen Steuerzahler zu bewältigen. Warum?

Bini Smaghi: Wir sind in einer Bankenunion mit einer europäischen Bankenaufsicht. Und das bedeutet, dass die Lösungen europäisch sein müssen. Es wäre doch allzu bequem, Gesetze wie die Verlustbeteiligung der Investoren europaweit durchzusetzen und gleichzeitig den Staaten zu sagen, sie müssten die Konsequenzen eines solchen „Bail-in“ schon selbst tragen.

IP: Glauben Sie, die Europäer teilen Ihre Ansicht, gerade die Deutschen?

Bini Smaghi: Zurzeit sicher nicht. Da Deutschland nicht auf die Hilfe Europas angewiesen ist, vertritt es die Meinung, dass jeder seine Probleme alleine lösen müsse. Sollte Deutschland aber eines Tages selbst vor einer Situation wie 2008 stehen, als gleich mehrere deutsche Banken Hilfe brauchten, dann wird es seine europäische Seele wieder entdecken. Wenn es dann nicht schon zu spät ist.

IP: Werfen wir nochmal einen Blick zurück. Wie konnte es in Italien überhaupt so weit kommen? Was ist aus dem „Miracolo Italiano“ geworden, dem Wirtschaftswunder der sechziger Jahre, als Firmen wie Pirelli, Fiat oder Falck durchstarteten?

Bini Smaghi: Die meisten dieser Unternehmen waren zu sehr auf den Binnenmarkt konzentriert und damit beschäftigt, sich vor der internationalen Konkurrenz zu verteidigen. Das sollte sich aber in einer globalen Welt und in einem Land mit negativer demografischer Entwicklung als Strategie erweisen, die zum Scheitern verurteilt war.

IP: Anfang der neunziger Jahre haben verschiedene italienische Regierungen mit der Idee eines mehr oder weniger entschärften Neoliberalismus gespielt …

Bini Smaghi: Der Liberalismus hat in Italien nie wirklich Fuß gefasst, dafür war die Präsenz des Staats zu stark, auch in so manchem Großunternehmen. Man ging lieber in die Defensive und setzte auf Protektionismus, wenn ausländische Käufer sich für italienische Unternehmen interessierten. Doch genützt hat das nicht viel; heute sind viele einheimische Firmen in ausländischem Besitz.

IP: Wenn es um die Größe von Unternehmen geht, lautet Italiens Motto: Klein ist fein. Doch gerade die Vielzahl von kleinen Unternehmen zählt zu den Schwächen des Landes, meinen viele Experten – sie sei der Grund dafür, dass Italien in Sachen Produktivität zu den Schlusslichtern in der EU gehört.

Bini Smaghi: Es stimmt, die Unternehmen sind zu klein, haben oft eine zu dürftige Kapitaldecke und können daher nicht investieren. Außerdem liegt es in der Natur des italienischen Unternehmers, alles unter Kontrolle haben zu wollen; man delegiert ungern. Doch das alles fördert nicht das Wachstum, im Gegenteil. Natürlich gibt es auch unter den Kleinen Erfolgsunternehmen, die sich im globalen Wettbewerb behauptet haben. Doch insgesamt haben sich Italiens Firmen weniger gut dem Wandel angepasst als ihre ausländischen Konkurrenten. Bei der Nutzung des Internets etwa hinken wir hinterher.

IP: Hinzu kommt die enorme Staatsverschuldung, die in den Achtzigern begann …

Bini Smaghi: 1980 betrugen die Staatsschulden noch 60 Prozent des BIP, erst in den darauffolgenden zehn Jahren haben sie sich verdoppelt.

IP: Warum? Weil man nicht mehr so einfach zur Entwertung der Lira greifen konnte?

Bini Smaghi: Ja. Mit Italiens Eintritt in das Europäische Währungssystem Ende der Siebziger wurde es deutlich schwerer, über die Währungsabwertung die Wettbewerbsfähigkeit zu fördern. Also mussten die Staatskassen herhalten. Leider oft auch für solche Industriezweige, die eigentlich abgewirtschaftet hatten.

IP: Irgendwann stieg dann auch die Steuerlast, in der Hoffnung, die Schulden unter Kontrolle zu bekommen. Es funktionierte aber nicht.

Bini Smaghi: Sinnvoller wäre es gewesen, die Ausgaben zu kürzen. Doch auch das ist nicht so ganz einfach – das hat Renzi erfahren müssen.

IP: Viele sind der Ansicht, Italien würde es heute ohne Euro weitaus besser gehen. War der Beitritt zur Währungsunion ein Fehler?

Bini Smaghi: Nein, das glaube ich nicht. Wären wir draußen geblieben, wären wir der Volatilität der Märkte ausgesetzt gewesen. Außerdem hat Italien sich so einen Teil der Zinsen, die auf der Staatsverschuldung lasteten, erspart. Leider wurde dieses Ersparte in den darauffolgenden Jahren ausgegeben, ohne dass die Schulden nachhaltig gesunken wären.

IP: Sehen Sie trotzdem einen Grund zur Hoffnung? Immerhin ist Italien die drittgrößte Volkswirtschaft der Euro-Zone.

Bini Smaghi: Die Italiener sind hervorragende Unternehmer. Wenn es darum geht, unter gleichen Bedingungen zu konkurrieren, dann sind sie unschlagbar. Nur – die Bedingungen sind selten die gleichen. Dafür hätte man rechtzeitig investieren müssen. Die Unternehmen haben das versäumt, und mittlerweile nimmt der Staat ihnen die Luft.

IP: Was erwarten Sie jetzt von den europäischen Partnern? Wie könnten sie das Land unterstützen – oder es doch zumindest vermeiden, seiner Wirtschaft zu schaden?

Bini Smaghi: Die europäische Integration ist noch nicht vollendet, man muss weiter daran arbeiten – angefangen bei der Bankenunion. Auch eine Abmachung, wie sie seinerzeit Bundeskanzler Schröder erreichte, würde helfen. Er durfte den Stabilitätspakt temporär verletzen, um seine Reformen durchzusetzen und mit dem Haushaltsbudget öffentliche Investitionen zu tätigen. In Europa wird zu viel gespart, und das schafft Deflation. Schließlich wäre eine bessere politische Koordinierung unter den Ländern hilfreich. Seine eigenen Hausaufgaben zu machen, ist ohne Zweifel wichtig – es genügt aber nicht.

Das Interview führte Andrea Affaticati.

Bibliografische Angaben

IP Länderporträt 1, März - Juni 2017, S. 14-18

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