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01. März 2022

Hoffnungsträger ohne Hof

„Comeback“, „Draghi-Effekt“, „Super-Mario“: Die internationale Presse überschlug sich zuletzt mit Superlativen, um die politischen, wirtschaftlichen und sportlichen Erfolge Italiens zu würdigen. Premier Mario Draghi und der kürzlich wiedergewählte Präsident Sergio Mattarella gelten als Garanten für Stabilität. Doch wird der Aufschwung bis zu den Wahlen 2023 halten? Wer auf die Innenpolitik schaut, wird da skeptisch sein.

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Bild: Mario Draghi bei der Ansprache zur Russland-Krise im Palazzo Chigi
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Nicht nur in Italien atmete man auf, als sich Sergio Mattarella nach einer Woche ergebnisloser Wahlgänge Ende Januar erneut zum Staatsoberhaupt wählen ließ. Brüssel, Paris und auch Washington zeigten sich erleichtert. „Mario Draghi an der Spitze der Regierung und Sergio Mattarella im höchsten Amt garantieren die politische Stabilität, die Italien für die Umsetzung dringender Reformen benötigt“, erklärte Pierre Moscovici, ehemaliger französischer Finanzminister und EU-Kommissar für Wirtschaft und Währung, in einem Interview mit der italienischen Tageszeitung La Stampa.

Die Erleichterung ist nachvollziehbar; sie könnte aber von kurzer Dauer sein. 2023 endet eine ausgesprochen turbulente Legislaturperiode, in der sich drei Regierungen unterschiedlichster Couleur abwechselten – europafeindlich die erste, proeuropäisch die zweite und buntgemischt aus allen parlamentarischen Parteien außer den rechtsextremen Fratelli d’Italia die dritte.

Die Bilanz von Draghis erstem Regierungsjahr ist durchweg positiv: Die Impfkampagne wurde zügig vorangebracht, wirtschaftlich hat sich Italien mit einem Wachstum von 6,5 Prozent im vergangenen Jahr besser erholt als andere Länder. Auch die Planungen für die ersten Projekte des Wiederaufbauplans wurden fristgemäß abgeschlossen und nach Brüssel gemeldet.

 

Italien braucht Stabilität und Effizienz

Ebenso zügig soll und muss es jetzt weitergehen. „Es ist die Pflicht dieser Regierung, rasch darin voranzukommen, die für Italien wichtigen Herausforderungen zu meistern“, erklärte Mario Draghi bei einer Pressekonferenz am 11. Februar. Das gelte insbesondere für die steigenden Energiepreise, die Inflation, die Corona-Pandemie und den Wiederaufbauplan. So erfreulich die bis jetzt erreichten Teilziele dieses Planes seien, weitere 100 müssten noch in diesem Jahr umgesetzt werden.

Die Einhaltung des Zeitplans ist maßgeblich dafür, dass Italien von Brüssel die für 2022 vorgesehenen 45,9 Milliarden Euro aus dem Next Generation EU-Fonds erhält. Hinzu kommt: „Der Next Generation EU-Fonds steht und fällt mit Italien“, wie Italiens ehemaliger Finanzminister Domenico Siniscalco vor Kurzem betonte. „Wir müssen beweisen, dass wir in der Lage sind, die rund 200 Milliarden Euro, die wir von der EU bekommen, angemessen und profitabel zu investieren.“ Nur so könne man künftig Länder wie die Niederlande und Deutschland davon überzeugen, dass die permanente Einrichtung eines solchen EU-Fonds sinnvoll wäre.

Auch angesichts der für 2023 geplanten Wiedereinführung des Stabilitätspakts wären politische Stabilität und effiziente Investitionspläne für Italien wichtig. Denn dank des hohen internationalen Ansehens, das Mario Draghi als Ex-Chef der Europäischen Zentralbank genießt, könnte das Land eine wichtige Rolle bei der zur Debatte stehenden Reform des Paktes spielen – gemeinsam mit Frankreich.

In einer Erklärung vom 21. Dezember 2021 haben Draghi und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ihre Vorstellungen dazu erläutert. Zwar gelte es, die im Zuge der Pandemie in allen Ländern gestiegene Staatsverschuldung konsequent abzubauen, jedoch nicht „durch drastische Kürzungen der öffentlichen Ausgaben oder anhand von Zinserhöhungen“, die den Aufschwung zunichtemachen würden. Es müsse mehr Spielraum für Investitionen zugunsten des Wachstums geben. Weiter schlagen Draghi und Macron in ihrer Erklärung vor, die während der Pandemie aufgenommenen Verbindlichkeiten einer europäischen Schuldenverwaltungsagentur zu übertragen – für Italien auch angesichts einer Staatsschuldenquote von 150 Prozent des BIP ein wichtiges Thema.

 

„Das Mitte-rechts-Lager gibt es nicht mehr“

Doch für all das bleiben Mario Draghi nicht mehr als sechs Monate – wenn es gut geht. Spätestens im Herbst startet in Italien das Rennen um die Wahlen im Mai 2023. Draghi weiß das und mahnt daher immer wieder die Mitglieder seiner Koalition, das Wohl der Italiener im Blick zu haben. Ob die Politiker diese Aufforderung beherzigen werden, ist jedoch fraglich, betrachtet man den politischen Scherbenhaufen, den allein Sergio Mattarellas Wiederwahl hinterlassen hat.

Interne Kämpfe toben nicht nur im Mitte-rechts-Lager zwischen den Fratelli d’Italia, der nationalpopulistischen Lega, Berlusconis Forza Italia und ein paar Splitterparteien, sondern auch im Mitte-links-Lager, dem die Demokratische Partei, die Fünf-Sterne-Bewegung, Matteo Renzis Italia Viva und ein paar kleinere Parteien angehören. Diese Konflikte bedrohen die Stabilität der Regierung Draghi ernsthaft.

Im Mitte-rechts-Lager kämpft seit geraumer Zeit Giorgia Meloni, die Vorsitzende der Fratelli d’Italia, mit Lega-Chef Matteo Salvini um die Führungshoheit. Mit Mattarellas Wiederwahl, gegen die man sich zunächst geschlossen ausgesprochen hatte, der Salvini und Berlusconi aber im letzten Moment zustimmten, „gibt es das Mitte-rechts-Lager nicht mehr“, stellte Meloni am Tag nach der Wahl lapidar fest.

Auf der anderen Seite bangt die Demokratische Partei um das Bestehen ihres Bündnisses. Die Präsidentschaftswahl hat den Überlebenskampf der Fünf-Sterne-Bewegung, der gleichzeitig ein Prozess der Selbstzerfleischung ist, noch weiter verschärft. Angesichts der politischen Machtkämpfe bei den Fünf Sternen geriet sogar die Russland-Krise in den Hintergrund. Außenminister Luigi di Maio, ehemaliger Vorsitzender der Fünf Sterne, sagte Ende Januar ein EU-Treffen zum russisch-ukrainischen Konflikt ab, weil er es für wichtiger hielt, bei der Präsidentschaftswahl dabei zu sein. Immerhin bot sich hier die Gelegenheit eines internen Kräftemessens.

Dazu muss man wissen, dass der Außenminister schon seit Längerem mit dem Ex-Premier und jetzigen Chef der Bewegung Giuseppe Conte im Clinch liegt. Conte hat den Verlust der Regierungsführung noch nicht ganz überwunden, würde seinen Nachfolger Draghi gerne vor der Zeit nach Hause schicken und flirtet ab und an politisch mit der Lega.

Dass Conte jetzt per Gerichtsbeschluss als Vorsitzender zumindest zeitweise suspendiert wurde, weil es bei seiner Wahl zu Unregelmäßigkeiten gekommen sein soll, ist ein Punktsieg für Di Maio, der sich jetzt erst einmal wieder der Russland-Krise und seinen außenpolitischen Aufgaben widmen kann. Angesichts dieser Querelen ist es wenig verwunderlich, dass die Fünf Sterne, die bei den Parlamentswahlen 2018 noch gut 32 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnten, heute laut Umfragen nur noch bei knapp 13 Prozent liegen.

 

Auszeit vom Dauerstreit

Insgesamt deutet wenig darauf hin, dass die politischen Eliten Italiens ihren Egoismus und die internen Machtkämpfe hinter sich gelassen haben. Offenbar hat man sich in den ersten zwölf Monaten unter Mario Draghi nur eine Auszeit vom Dauerstreit genommen und sich die Ziele des Premiers mehr oder weniger bereitwillig zu eigen gemacht.

Russlands Krieg gegen die Ukraine hat die Regierungskoalition für einen Moment zusammengeschweißt; auch die Opposition ist mit im Boot. Italien steht hinter den EU-Sanktionen. Matteo Salvini drohte zwischenzeitlich aus der Front der Sanktionsbefürworter auszuscheren, ist aber schnell wieder zurückgerudert. Und auch Silvio Berlusconi, den eine besonders enge Männerfreundschaft mit Wladimir Putin verbindet, hat Draghi telefonisch versichert, seine Partei Forza Italia stehe voll und ganz hinter den Regierungsbeschlüssen. 

Doch je näher die Parlamentswahlen im Frühjahr 2023 rücken, desto stärker werden die kommenden Monate vom Wettbewerb der Parteien und von taktischen Überlegungen geprägt sein. So ist etwa die Frage, ob man beim gemischten Wahlsystem bleiben soll oder ob ein reines Verhältniswahlrecht der eigenen Partei doch bessere Gewinnchancen garantiert, für die Parteien weitaus bedeutsamer als programmatische Fragen für die Zeit nach Mario Draghi.

Auch bei den anstehenden Wirtschaftsreformen stellen sich die Vertreter der Parteien zuallererst die Frage, was ihnen machtpolitisch Vorteile verschafft. Das gilt etwa für eine Wettbewerbsreform im Dienstleistungsbereich, die Italien seit Jahren vor sich herschiebt. Dabei handelt es sich um die Umsetzung der sogenannten Bolkestein-Richtlinie der EU. Die nach einem niederländischen EU-Kommissar benannte Verordnung schreibt den freien Wettbewerb bei Dienstleistungen innerhalb Europas vor. Neben kommunalen Dienstleistungen betrifft sie den öffentlichen Verkehr, Taxis und Strandbetreiber. Besonders im Falle der Taxis und der legendären italienischen Strandbäder stößt eine europaweite Ausschreibung auf erheblichen Widerstand. Die Genehmigungen hierfür sind in Italien eine Art Monopol, das von Generation zu Generation weitervererbt wird. Mario Draghi steht ein harter Kampf gegen Lobbys, Verbände, Gewerkschaften und Parteien bevor.

Ähnliches gilt für die Hilfsgelder, mit denen man Unternehmen und Familien angesichts rasant steigender Energiepreise unter die Arme greifen will. Draghi schließt eine weitere Verschuldung aus, womit aber nicht alle Parteien einverstanden sind. Auch die noch unter Giuseppe Conte durchgesetzte sogenannte „Boni-Politik“, die Steuergutschriften für energieeffiziente Bausanierungen gewährt, steht nach einem Betrugsskandal im Umfang von geschätzten vier Milliarden Euro in der Kritik. Draghi will sie schrittweise abschaffen, die Parteien wehren sich dagegen. Auch die geplante Justizreform könnte zu einer Zerreißprobe werden. Draghi hat nur eine Waffe, um die Parteien auf Linie zu bringen: Ohne diese Reformen wird Brüssel keine weiteren Auszahlungen genehmigen.

An den Finanzmärkten ist man sich Draghis schwieriger Lage bewusst und reagiert nervös. Die Risikoauflagen für Italiens Staatsanleihen sind in den vergangenen Wochen auf 160 Basispunkte geklettert – einen Wert von 100 Basispunkten sollten solche Auflagen eigentlich nicht überschreiten. Und auch wenn die Europäische Zentralbank vor Kurzem beschlossen hat, den Leitzins nicht zu erhöhen: Das könnte sich in absehbarer Zeit ändern, nicht zuletzt aufgrund der Inflation.

Angesichts dieser politischen Lage bleibt nicht viel mehr übrig, als zu hoffen, dass es Draghi gelingen wird, die Koalitionsparteien auf den letzten Metern seiner Regierungszeit an seiner Seite zu halten. Wenn er es nicht schafft, die Grundlagen dafür zu legen, dass auch nach ihm Italiens Wirtschaft wächst und die EU-Gelder in zukunftsträchtige Projekte investiert werden, dann könnten die italienischen Staatsfinanzen wieder das werden, was sie lange waren: eine tickende Zeitbombe für die gesamte EU.

 

Andrea Affaticati arbeitet als freie Journalistin u.a. für Il Foglio in Mailand.

Bibliografische Angaben

IP Online Exclusiv, 01. März 2022

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