Arabischer Almanach
Bücher von gestern, die uns das Morgenland erklären
Auf einmal schaut die Welt mit anderen Augen Richtung Nahost. Gestern noch standen die arabischen Länder für Despotie, Korruption, Stillstand und religiösen Fanatismus – heute erheben sich die Menschen gegen ihre Diktatoren und rufen nach Freiheit und Demokratie. Da lohnt es sich, einige ältere Bücher, die sich der arabisch-islamischen Welt widmen, (noch einmal) zu lesen. Die Frage lautet nicht mehr, wie die islamische Welt zum Stillstand kam, sondern was die Menschen zum Aufbegehren brachte. Und: Wohin könnten diese Revolutionen führen?
Wer den 2002 zuerst auf Arabisch erschienenen Roman „Der Jakubijân-Bau“ des Ägypters Alaa al-Aswani liest, wundert sich nicht mehr über den Aufstand in Kairo. In der Tradition des ägyptischen Literaturnobelpreisträgers Nagib Machfus ist das Buch ein fesselndes und zugleich bitteres Gesellschaftsporträt eines Landes, in dem sich hinter verschlossenen Türen tiefste Abgründe auftun: sexueller Missbrauch, Gewalt, Habgier, Unterdrückung, Ausbeutung. Schonungslos thema-tisiert al-Aswani all diese durch den Mantel der muslimischen Moral verdeckten Tabus. Zwei Schlüsselsätze des Romans legt er der jungen Buthaina in den Mund. Sie muss sexuelle Übergriffe ihres Chefs über sich ergehen lassen; ihr Freund Taha wird trotz bester Zeugnisse an der Offiziersschule der Polizei abgelehnt, weil sein Vater „nur“ ein Hausmeister ist. „Dieses Land hier ist nicht unser Land, Taha“, sagt Buthaina. „Dieses Land gehört den Leuten, die Kohle haben.“
Auf- und Umbrüche hat die arabische Welt viele erlebt – die Graswurzelrevolution des Jahres 2011 ist einmalig. Mit einem kritisch-emphatischen Blick führt der 1993 verstorbene britisch-libanesische Historiker Albert Hourani seine Leser durch „Die Geschichte der arabischen Völker“ (Erstausgabe 1991). Das Werk ist ein Klassiker, nicht nur, weil Hourani elegant erzählt, sondern auch, weil er nie das Wesentliche aus den Augen verliert. Politik-, Wirtschafts-, Sozial- und Geistesgeschichte verwebt er souverän. Ausführlich widmet er sich Reformund Erneuerungsdiskursen im Islam.
Wie Hourani ist auch der deutsch-libanesische Theologe Adel Theodor Khoury ein Katholik, der sich intensiv dem Islam gewidmet hat und sich für eine Verständigung mit dem Christentum einsetzt. Kundig und sachlich zugleich legt er in „Der Islam und die westliche Welt“ theologische Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Weltreligionen dar. Vor allem das Kapitel „Islam und Demokratie“ ist höchst aktuell. Die klassische islamische Theologie hat einige Hürden vor der Herrschaft des Volkes errichtet, wiewohl der Koran ein Beratungsgremium (Schura) erwähnt. Ob Islam und Demokratie vereinbar sind, lässt Khoury offen. Er zeigt sich angesichts eines Totalitätsanspruchs des Islam skeptisch, schließt es aber auch nicht aus. Immerhin geht der Demokratiediskurs in Ägypten mehrere Jahrzehnte zurück, wie Alexander Flores in dem Sammelband „Der Islam in der Gegenwart“ erklärt. Das über 1000 Seiten dicke Buch ist auch mehr als ein Vierteljahrhundert nach seinem Ersterscheinen 1984 ein Standardwerk der Islamwissenschaft. Erschöpfend und ausgewogen behandelt es alle Facetten des Islam und seiner Geschichte. Flores führt den einflussreichen Religionsgelehrten Khalid Muhammad Khalid an, der das islamische Konzept der Schura in den westlichen Demokratien verwirklicht sah. „Das Herrschaftssystem im Islam ist die Schura“, schrieb Khalid Muhammad Khalid 1985. „Was ist die Schura? Sie ist die Demokratie, die wir heute in den demokratischen Ländern sehen.“
Optimistisch äußerst sich auch der Erfurter Politikwissenschaftler Kai Hafez in „Heiliger Krieg und Demokratie“. Darin vertritt er die These, dass politischer Wandel in der islamischen Welt möglich ist. Während Khoury rein theologisch argumentiert, schaut Hafez auch auf die soziopolitischen Faktoren und erkennt dabei, dass sich hinter der Religion häufig eine „allgemeine gesellschaftliche Aufbruchstimmung gegen ungerechte Ordnungen“ verbirgt.
Die „Christdemokratisierung“ fundamentalistischer Bewegungen sei längst im Gange, etwa bei den ägyptischen Muslimbrüdern. Mit einem autoritären Duktus beharrten sie zwar auf dem Primat des Islam, sie seien aber mittlerweile glaubwürdige Anhänger demokratischer Prinzipien. Letztlich, so Hafez, müsste die Demokratie erst einmal in einem islamischen Land eingeführt werden, „um den Beweis führen zu können, dass sie möglicherweise doch nicht zur islamischen Kultur passt“.
Einer der radikalsten muslimischen Vordenker ist der tunesisch-französische Intellektuelle Abdelwahab Meddeb. In der arabischen Welt wird er zwar nur am Rande wahrgenommen – seine „115 Gegenpredigten“ jedoch zeichnen sich durch Brillanz und Schärfe aus. Orient und Okzident verschmelzen bei ihm zu einem großen Kulturraum. Zugleich geißelt er die Verkrustung islamischen Denkens. Der „Schlüssel zur Reform, die der Islam braucht“, ist für ihn der „Übergriff auf das Tabu“, ein Schlüssel, den die Religionsgelehrten niemals hätten zu drehen gewagt.
Ägypten könnte ein Anfang sein. Dort hat sich die junge Generation gegen die Autoritäten aufgelehnt und damit ein Tabu gebrochen.
- Albert Hourani: Die Geschichte der arabischen Völker. Von den Anfängen des Islam bis zum Nahostkonflikt unserer Tage. Frankfurt/M.: Fischer 2006, 635 Seiten, 13,95
- Alaa al-Aswani: Der Jakubijân-Bau. Basel: Lenos 2007, 372 Seiten, 12,00 €
- Adel Theodor Khoury: Der Islam und die westliche Welt. Religiöse und politische Grundfragen. Darmstadt: Primus 2001, 223 Seiten, 16,50 €
- Kai Hafez: Heiliger Krieg und Demokratie. Radikalität und politischer Wandel im islamisch-westlichen Vergleich. Bielefeld: Transcript 2009, 279 Seiten, 25,80 €
- Werner Ende und Udo Steinbach (Hrsg.): Der Islam in der Gegenwart. München: C.H. Beck 2005, 1064 Seiten, 49,90 €
- Abdelwahab Meddeb: Zwischen Europa und Islam. 115 Gegenpredigten. Heidelberg: Wunderhorn 2007, 418 Seiten, 29,80 €
JAN KUHLMANN war Berlin-Korrespondent der Wochenzeitung Rheinischer Merkur. Er arbeitet als Publizist in Berlin.
Internationale Politik 3, April 2011, S. 110-111