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01. Sep 2007

Amerika, machst du es besser?

Warum muslimische Einwanderer in den USA besser integriert sind als in Europa

Im Gegensatz zu europäischen Muslimen verüben muslimische Amerikaner keine Selbstmordattentate gegen ihr Gastland, und sie müssen sich ihrer Identität auch viel weniger durch rebellisches islamistisches „Anderssein“ vergewissern. Worin unterscheidet sich das amerikanische Integrationsmodell vom europäischen? Ein interkultureller Vergleich.

Der Pew Report über Muslime in den USA vom Mai 2007 hat ein eher idyllisches Bild gezeichnet, in scharfem Kontrast zu der eher verdrießlichen Situation in Europa. Hat Amerika etwas richtig gemacht? Für den amerikanischen Kontext vielleicht. Aber der Nutzen des Berichts liegt nicht darin, Konkurrenz zu schüren, wer die bessere Politik für muslimische Immigranten macht. Es geht mehr darum, Fragen über Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Religion aufzuwerfen, mit der die meisten Gesellschaften heute konfrontiert sind – mit Sicherheit in Europa, Nordamerika, im Nahen Osten und in Zentralasien.

In der derzeitigen Debatte werden üblicherweise religiös regierte Länder von säkularen unterschieden; aber es gibt ein paar grundsätzliche Fragestellungen, die alle betreffen. Wie sollen Institutionen gestaltet und Politik umgesetzt werden unter der Voraussetzung religiöser Pluralität (von Mehrheits- wie von Minderheits-Religionen) und dem modernen Konzept der „Säkularität“? Wo und wie sollte dieses spät entstandene Konzept umgesetzt werden? Sogar religiös regierte Länder wie der Iran oder Saudi-Arabien müssen sich mit der Option der Säkularität auseinandersetzen; es gibt sie, sie müssen sich dazu verhalten. Ich möchte hier zuerst die Pew-Ergebnisse betrachten und dann die beiden Konzeptpaare, von denen ich glaube, dass sie nützlich für die Entscheidung sind, wie ein Land funktionieren sollte: Säkularismus/Pluralismus und Assimilation/Partizipation.

Nach Pew-Schätzungen leben in den USA 2,35 Millionen Muslime. 65 Prozent der Erwachsenen sind im Ausland geboren; 34 Prozent in arabischen Ländern, acht Prozent in Pakistan, acht Prozent im Iran und zehn Prozent in anderen südasiatischen Ländern. 35 Prozent sind in Amerika geboren (20 Prozent Afro-Amerikaner). Beim Vergleich ihrer Antworten mit denen der europäischen Muslime fand Pew, dass die Muslime in Europa „ghettoisiert“ sind und „beträchtlich schlechter gestellt als die generelle Bevölkerung, frustriert über ihre wirtschaftlichen Möglichkeiten und sozial isoliert“. Zwei Prozent der amerikanischen Muslime sind Geringverdiener; im Vergleich dazu trifft das auf 18 Prozent in Frankreich und Deutschland, 22 Prozent in Großbritannien und 23 Prozent in Spanien zu. 47 Prozent der muslimischen Amerikaner sagen von sich, dass sie „zuallererst muslimisch“ sind; von den deutschen Muslimen tun dies 66 Prozent, von den britischen 81 Prozent, von den spanischen 69 Prozent.

Die meisten muslimischen Amerikaner meinen, ihre Gemeinden seien „hervorragende oder gute Plätze zum Leben“, und sie berichten, dass ein großer Teil ihrer engen Freunde Nichtmuslime seien. 71 Prozent äußern die Meinung, dass man in den USA erfolgreich sein kann, wenn man daran arbeitet. Die meisten finden, dass Muslime, wenn sie einmal in den USA seien, dortige Sitten und Gebräuche annehmen sollten; 63 Prozent sehen keinen Konflikt zwischen religiöser Hingabe und dem Leben in einer modernen Gesellschaft. Die Muslime, die sich unzufrieden mit dem Leben in den USA zeigen, sind überwiegend Afro-Amerikaner, die ökonomische und soziale Diskriminierung als „Schwarze“ erlebt haben.

Für die Muslime insgesamt liegt das Einkommensniveau und die Universitätsabschlussrate innerhalb der nationalen Norm. In Sozialfragen denken amerikanische Muslime ähnlich wie praktizierende Protestanten und Katholiken: 61 Prozent sagen zum Beispiel, dass Homosexualität bekämpft werden sollte. Obwohl 53 Prozent berichten, dass es schwieriger geworden sei, ein Muslim in den USA zu sein, halten die meisten dies für ein Versagen der Regierung, die Muslime verschärft überwache, nicht für das ihrer Nachbarn. Tatsächlich sagen 40 Prozent der Befragten, nach 9/11 habe sich ihr Leben nicht verändert; 73 Prozent behaupten, sie hätten in Amerika niemals Diskriminierung erlebt; 63 Prozent haben eine „sehr negative Meinung“ von Al-Qaida; 85 Prozent halten Selbstmordattentate für „selten oder nie“ gerechtfertigt; nur ein Prozent findet, dass Gewalt zur Verteidigung des Islams „oft“ gestattet sei. Unter den europäischen Muslimen glauben das beträchtlich mehr Befragte. Bei der Frage des Terrorismus unterscheiden sich amerikanische Muslime stärker von der Gesamtbevölkerung: Nur 40 Prozent glauben, dass die Täter der 9/11-Anschläge arabische Muslime waren; je religiöser die Befragten, desto weniger glauben sie dies.

Was die Qualität des Lebens in den USA angeht, sind die muslimischen Amerikaner so zufrieden wie alle anderen und ökonomisch wie bildungsmäßig gleichauf. „Was sich zeigt“, meint Amaney Jamal, ein Berater der Pew-Studie, „ist der große Erfolg der muslimischen amerikanischen Bevölkerung in ihrer sozioökonomischen Assimiliation.“ Jamals Bemerkung ist verständlich, aber „Assimilation“ ist es nicht, was den Erfolg ausmacht. „Assimilation“ meint die Auflösung im Mainstream, aber gerade das tun muslimische Amerikaner nicht. Sie bleiben gläubige Muslime in einem Land, in dem 85 Prozent der Bevölkerung christliche Wurzeln haben. 40 Prozent der muslimischen Amerikaner sagen, dass sie einmal wöchentlich an religiösen Zeremonien teilnehmen; 61 Prozent beten jeden Tag; 72 Prozent bezeichnen Religion als „sehr wichtig“ in ihrem täglichen Leben.

Amerikas Muslime assimilieren sich also nicht, sondern sie partizipieren am ökonomischen, politischen, sozialen und Bildungsleben des Landes, wie die Einkommens- und Bildungsniveaus zeigen. Ein häufig gehörtes Argument ist, dass Partizipation in Amerika dank eines Selbstausleseprozesses gut funktioniert: Nur die bestausgebildeten Muslime emigrieren in die USA, weil die schwachen Sozialsysteme nur den am besten Vorbereiteten das Überleben ermöglichen. Das ist ein Teil des Puzzles, aber es beantwortet zwei Fragen nicht: Erstens fühlen sich Mittelschicht-Muslime in Großbritannien – Amerikas kulturellem Mutterland – entfremdet, werden Mitglieder islamistischer Gruppen und üben Terrorakte aus. Warum ist das in Amerika so viel weniger der Fall? Zweitens erklärt das Argument „gut ausgebildete Immigranten“ nicht, warum arme Muslime in den USA keine Unzufriedenheit, Entfremdung und Sympathie für Al-Qaida äußern. Was diese Gruppe angeht, ist schon argumentiert worden, dass nur die besonders Wagemutigen – die vorbereitet sind auf die harschen, aber relativ offenen Gegebenheiten des Lebens in Amerika – dorthin emigrieren. Sie kommen mit Energie, Ambitionen und der Fähigkeit, den Aufschub der Erfüllung ihrer Ziele zu ertragen, und sie sind zufrieden mit Amerika, weil es diese Charakterzüge belohnt. Nach dieser Theorie begeben sich Europas Immigranten in die Sozialsysteme und kümmern sich nicht um die Teilnahme an Europas ökonomischem und sozialem Leben. Aber das erklärt nicht, warum ärmere Immigranten in Amerika religiös bleiben; wenn sie tatsächlich Erfolg im amerikanischen Stil haben wollten, würden sie sich schnell „assimilieren“.

Wir suchen also nach Konditionen, die erklären, warum Muslime in Amerika gut zurecht kommen, obwohl sie gläubige und „anders aussehende“ Amerikaner bleiben, sogar nach 9/11. Warum können muslimische Amerikaner partizipieren, ohne sich zu assimilieren? Zwei Faktoren scheinen dabei eine Rolle zu spielen: ein pluralistischer öffentlicher religiöser Raum und relativ durchlässige wirtschaftliche und politische Sphären, die Immigranten die Partizipation gestatten. Denn trotz der Diskriminierung und Armut, die Immigranten auszuhalten hatten, sind die Barrieren der wirtschaftlichen Partizipation relativ niedrig. Wenn das nicht so wäre, würde auch kein Anlass für die Mühen der Immigration bestehen. Und dieser Anlass ist nicht verschwunden: In den letzten Jahren sind mehr Menschen in die USA eingewandert als zu den Spitzenzeiten um 1910. Dieses Immigrantendasein bedeutet harte Arbeit und einen Erfolg, der sich oft erst im Verlauf von zwei Generationen einstellt. Es ist mit Sicherheit ein amerikanischer Mythos, der aber auf wirtschaftlichen Langzeitmustern beruht.

Der zweite Faktor, die pluralistische öffentliche Sphäre, ist ein komplexeres Thema, vor allem in Unterscheidung zum säkularen Raum. Dieser öffentliche Raum ist nicht areligiös, sondern hat viele Religionen; diese sind nicht privatisiert, sondern sichtbar und aktiv in der Zivilgesellschaft. Religiöser Glaube und religiöse Praxis sind die Grundpfeiler für Institutionen, Vereine und Symbole, die in der Öffentlichkeit agieren und die Werte und Verhaltensweisen der Bevölkerung in allen Arenen beeinflussen. Die amerikanische Identität erfordert keine konfessionsgebundene Konformität; „Gleichheit“ mag eine Bedingung für Untergruppen sein, aber sie wird für den Eintritt ins nationale, ins Stadt- oder Schulleben nicht verlangt. „Säkular“ ist im Gegensatz dazu ein Konzept der Aufklärung für die Obrigkeit. Es verlangt Institutionen und Praktiken, wo die Autorität, welche die Phänomene erklärt, Ideen entwickelt und sie umsetzt, sich in keiner Weise von irgendeiner göttlichen Instanz, einem höchsten Wesen oder seinem heiligen Text herleitet. Das ist die Webersche „Entzauberung“.

Amerika ist keine säkulare Gesellschaft; Europa ebensowenig. 45 Prozent der amerikanischen Christen sagen, dass sie mindestens einmal wöchentlich an Gottesdiensten teilnehmen; 70 Prozent beten jeden Tag; für 60 Prozent ist Religion „sehr wichtig“. Die USA sind eine religiös pluralistische Gesellschaft mit spezifischen säkularen Institutionen. Seit der Kolonialzeit haben religiöse Gruppierungen viele der wichtigsten Institutionen, Publikationen und Symbole der Zivilgesellschaft geschaffen. Viele der „Assoziationen“, die Tocqueville lobte, waren religiös. Sie interagierten untereinander und mit säkularen Einrichtungen. Diese Interaktionen waren oft belastet von Vorurteilen, aber dennoch weit entfernt von ethnischer Gewalt oder gar Religionskriegen. Die Konflikte löschten die Minderheitsreligionen jedoch nicht aus, sondern erweiterten eher den öffentlichen Raum, um mehr Religionen einzubeziehen, als Immigranten mit solchen eintrafen. Zudem hat Amerika, wie Europa, politische, rechtliche, wirtschaftliche und edukative Institutionen, deren Aufgabenbereich und Autorität als säkular angesehen werden. Dazu gehören die Verfassungen, die bikamerale Gesetzgebung, das Justiz- und Bildungssystem etc. Das Konzept des Säkularen ist – ähnlich wie Religion – ein soziales Konstrukt, aber der Unterschied liegt nicht in der Semantik, sondern in der Macht. Wenn amerikanische Richter Recht sprechen, beziehen sie sich auf die Verfassung oder auf das Gesetz, nicht auf den Leviticus.

Die Etablierung säkularer Institutionen in den USA diente vielen Zwecken, aber sie hatte keinesfalls das Ziel der Schaffung eines religionsfreien Staates oder eines Landes, in dem Religion Privatsache ist. Wie wir gesehen haben, bewegen sich religiöse Gruppen im öffentlichen Raum und werben für ihre Ansichten. Eine Funktion der säkularen Institutionen war es, Menschen verschiedener Glaubensrichtungen darin ohne konfessionelle Zugangsbarrieren arbeiten zu lassen – also multireligiöse Arbeitsplätze zu schaffen. Eine andere war die Schaffung einer pluralistischen öffentlichen Sphäre, die zwar voller christlicher Symbole und Institutionen, aber offen für andere Religionen war. Die relevanteste Einrichtung, nämlich die in der Verfassung verankerte Trennung von Kirche und Staat, hatte dieses Ziel ganz ausdrücklich. Indem die Verfassung die Etablierung einer Staatsreligion untersagte, hielt sie den öffentlichen Raum für alle Religionen offen. (Sie half der Religion auch noch auf andere Weise: Indem sie sie aus der Regierung fernhielt, schützte sie sie vor der Beschädigung durch politische Scheinheiligkeit und Korruption. Dadurch erhielt sie den guten Ruf der Religion. Indem sie die Regierung aus der Religion fernhielt, bewahrte sie sie vor staatlichen Eingriffen und Kontrolle.)

Freie Religionsausübung als Werbeargument

Die Gründungsväter verwirklichten diese pluralistische öffentliche Sphäre nicht aus edlen Motiven; ebensowenig pflegten die Amerikaner sie aus ethischen Gründen. Es war eine Frage der Notwendigkeit: Amerika musste Menschen davon überzeugen, den Atlantik zu überqueren und viele Härten der Pionierzeit und der späteren Industrialisierung zu ertragen. Die Freiheit der Religionsausübung war ein Werbeargument für die Einwanderung. Der Nutzen dieser zufälligen Generosität wurde Amerikas pluralistischer Deal: Die Einwanderer mussten sich an den säkularen Vorhaben der Nation beteiligen, ohne ein nennenswertes soziales Netz, aber sie durften sowohl ihren privaten Glauben als auch ihre Gemeindepraxis in der Zivilgesellschaft behalten.

In diesem Vertrag kommen unsere beiden Konzeptpaare und die zwei Bedingungen des Einwandererlebens in den USA zusammen: Amerika hat relativ poröse und säkulare ökonomische, wirtschaftliche und Bildungsräume, die Partizipation (nicht Assimilation) von den Immigranten verlangen, und es hat eine pluralistische (nicht säkulare) öffentliche Sphäre, die der Zivilgesellschaft unterschiedlichste religiöse Praktiken erlaubt. Toleranz für die religiösen Sitten anderer Leute ist der Preis, den man für die Toleranz gegenüber seinen eigenen Sitten bezahlt. Zudem nahmen die Vorurteile ab, je stärker die Partizipation wuchs. Es war in niemandes Interesse, dieses pragmatische Leben-und-leben-lassen-Chaos über längere Zeit hinweg zu stören.

Eine Folge dieses Deals ist die paradox klingende „Vertrautheit mit Verschiedenheit“ des Landes. Da die Amerikaner an viele verschiedene Arten von Menschen in der sozioökonomischen, politischen und Bildungssphäre gewöhnt sind, haben sie gelernt, diejenigen Differenzen, die das Land beschädigen könnten, von denen zu unterscheiden, die das nicht tun. Wenigstens neigen sie nicht zu Panik. Selbst nach 9/11 gab es nur wenige antimuslimische Zwischenfälle. Aber es verbirgt sich mehr dahinter als nicht in Panik zu verfallen. Es ist Vertrauen in den Deal. In Amerika ist die Überzeugung tief, dass Einwanderer, wenn sie einmal partizipieren, keinen Bedarf haben, ihre Unterschiede in rebellischer Form zu akzentuieren. Wenn sie partizipieren – gegen was sollten sie rebellieren? Es ist ein positiver Feedback-Kreislauf, die relativ durchlässigen wirtschaftlichen und politischen Arenen fördern die Vertrautheit mit der Verschiedenheit, was wiederum die Angst vor den Neuankömmlingen reduziert und so die Hürden für ihre Teilnahme in diesen Arenen senkt.

Wenn man sich die „Assimiliation/Partizipation“- und „Säkularismus/Pluralismus“-Unterscheidungen anschaut, entdeckt man, dass Europa und Amerika auf beiden Seiten der Trennlinie stehen. Die Zwänge, die auf Europas Immigranten lasten, spiegeln die der amerikanischen Einwanderer. In den USA ist jedoch der Druck, sich zu assimilieren, geringer, er geht mehr in Richtung Partizipation; religiöse und ethnische Differenzen werden oft umgangen, nicht aus edlen Motiven, sondern dank des Leben-und-leben-lassen-Prinzips. In Europa dagegen wird, wenn wir Pew und den europäischen Medien Glauben schenken, Assimiliation sehr viel stärker gefordert, und Wirtschaft und Politik sind weniger durchlässig, was zu weniger Partizipation führt. Auf Seiten der Immigranten gibt es mehr Ressentiments gegen die Gastländer, was zu einem kämpferischen Rückzug aus Wirtschaft und Politik führen kann, zu einer defensiven Ablehnung der Gesellschaft des Gastlands, zu Gewalt und rebellischem Insistieren auf der Beibehaltung symbolischer Unterschiede – ironischerweise gerade in einer Gesellschaft, die wegen ihrer Abneigung gegen Unterschiede damit eher schlecht umgehen kann. Das ist kurz gefasst Europas Kopftuch-Durcheinander. Es hat nichts mit den ökonomischen und politischen Hürden gegen Partizipation oder mit muslimischen Antworten darauf zu tun. Aber es verlangt symbolische Assimilation.

Das amerikanische Modell ist der typisch amerikanische Weg, Religion (pluralistisch), Wirtschaft, Bildung und Politik (offen für die Partizipation in säkularen Institutionen) zu organisieren. Allerdings könnte es an Orten mit anderer Geschichte und Weltanschauung nicht umsetzbar sein. Dennoch ist die Organisation dieser Faktoren etwas, was alle Nationen entscheiden müssen. Das laizistische Modell positioniert die Kontrolle der Religion bei der säkularen Regierung; d.h. die Regierung legt fest, was die private religiöse Sphäre tun kann. Aber Laizismus lehnt Pluralismus in der öffentlichen Sphäre ab und sagt wenig über die Verpflichtung des Gastlands, seine Wirtschaft, Bildung und Politik durchlässig für Partizipation von Einwanderern zu machen. Während die Zivilgesellschaft in Frankreich, die ihre Laizität hochhält, bereichert wird durch die muslimischen und arabischen Kulturen der ehemaligen französischen Kolonien, sieht das französische Paradigma für eine gut funktionierende Demokratie nur private Religionsausübung vor und fördert die Assimilation. Das deutsche Modell integriert offizielle Kirchen in das ansonsten säkulare Verwaltungs- und Bildungssystem, und daher kann es die private Religion nicht nur auf die Privatsphäre beschränken. Aber es verhält sich unsicher gegenüber öffentlicher muslimischer Religionsausübung und sagt wenig über die Verpflichtung des Gastlands, seine Wirtschaft, Erziehungssysteme und Politik durchlässig zu machen.

Interessanterweise gibt es zwischen diesen westlichen Systemen und den Theokratien Modelle, wie sie zum Beispiel in der Türkei und in Indonesien entwickelt werden. In diesen Modellen ist es die Autorität, die traditionellem religiösem Denken und religiöser Praxis eingeräumt wird; diese haben seit langem ihre eigenen Mechanismen für die sich weiterentwickelnde Auslegung heiliger Texte und Praktiken herausgebildet. Säkularismus, Assimilation und Fundamentalismus möchten diese Autorität ausradieren – der Fundamentalismus, indem er die traditionellen Mechanismen des Wandels bekämpft durch den Rückgriff auf eine fixierte, idealisierte Vergangenheit, Säkularisierung und Assimilation durch die Negierung der traditionellen religiösen Veränderungsmechanismen.

Es sind auch diese traditionellen Mechanismen des Wandels, die bei der Polarisierung zwischen „religiös“ und „säkular“ nicht in Betracht gezogen werden. Aber unter pluralistischen Rahmenbedingungen könnten sie sehr wohl eine Rolle spielen. Dieser „traditionelle Wandel“ ist ein Paradox, ebenso wie die „Vertrautheit mit der Verschiedenheit“. Er ist eine Provokation für die Länder vom Maghreb bis nach Zentralasien, die ebenfalls entscheiden müssen, ob sie in ihrer Gesellschaftsform assimilatorischen, partizipatorischen, pluralistischen, säkularen oder theokratischen Modellen folgen wollen. Beides ist eine Provokation aber auch für Europa. Denn diesem traditionellen Wandel Zeit und Platz einzuräumen, erfordert einen europäischen Pluralismus und den realen, pragmatischen Zugang von Einwanderern zu den Ökonomien, Bildungssystemen und zur Politik ihrer neuen Länder. Wenn das fehlt, dann gibt es für die Tradition nichts abzuwägen, nichts in Betracht zu ziehen. Das ist einerseits bizarr, denn die Kulturen standen immer in Kontakt miteinander. Andererseits ist es weder Assimilation noch Partizipation, sondern Ghettoisierung.

MARCIA PALLY ist Professorin für Kulturwissenschaft an der Steinhardt School der New York University. Zuletzt erschien von ihr in Deutschland „Lob der Kritik. Warum die Demokratie ihren Kern nicht verlieren darf“ (2003).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 9, September 2007, S. 61 - 66.

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