Mach’s besser, Europa!
Ein amerikanisches Plädoyer für mehr globales Engagement der EU
Zu lange hat Europa beim Thema Außen- und Sicherheitspolitik nur auf die USA reagiert. Marcia
Pally, Professorin an der Steinhardt School der New York University, rät den Europäern, die
USA nicht immer nur zu kritisieren, egal ob angebracht oder nicht, sondern selbst Verantwortung
zu übernehmen, anstatt sich hinter der kolonialen Vergangenheit zu verstecken.
Am 20. Juni 2003 wurde das Strategiepapier „Ein sicheres Europa in einer besseren Welt“1 von der Europäischen Union angenommen, und im Dezember diente es als Grundlage für eine Neubewertung der Sicherheitspolitik der EU. Welche Politik wird am Ende dieser Diskussion stehen? Weiter unten schlage ich eine Richtung für die Durchführung dieser Politik vor, indem ich die EU auffordere, nicht länger nur auf Amerika zu reagieren – von einer Amerikanerin gewiss eine paradoxe Forderung, denn würden die Europäer ihr nachkommen, müssten sie ihre Forderung ja ignorieren. Ich weiß nicht, wie man dieser Paradoxie entkommen kann, aber ich kann erklären, wie ich mich in sie verwickelt habe.
Bis heute war die Diskussion über Europas Sicherheit und seine globale Rolle im weiteren Sinne wichtig, elektrisierend und zugleich unzulänglich – nicht etwa, weil die EU bei der Verbesserung ihrer Sicherheit scheitern könnte, sondern weil diese Verbesserungen sich nicht mit den langfristigen Gründen für Elend, Erniedrigung und Gewalt auseinander setzen – genauso wenig wie die Politik der USA.2 Die Vereinigten Staaten scheitern daran, weil sie effektiv angriffslustig und bravourös auf schnelle Lösungen fixiert sind. Die Europäische Union scheitert, weil sie in Nabelschau befangen ist, in politischer Lähmung und ihrer Rolle als Vasall der Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg. Die europäische Passivität hat zu einer falschen Zweiteilung geführt: Die Linke und die Grünen behaupten, dass die Langzeitursachen in die Verantwortung der USA fallen und dass sich Europa deshalb von diesen distanzieren sollte. Die rechte Mitte ist von der Untätigkeit der EU auf der Weltbühne enttäuscht und findet, dass wenigstens die USA etwas tun. Damit bleibt eine Menge der Weltprobleme in den Händen der USA, und die Langzeitursachen bleiben weitgehend unberücksichtigt.
Von allen Nationen der Ersten Welt werden sich die USA wahrscheinlich wohl kaum mit ihnen befassen, denn sie sind historisch oder in ihren weltpolitischen Ansätzen nicht von langfristigem Denken geprägt.Die Dodge- und Marshall-Pläne, die auf lange Sicht angelegt waren, dienten dazu, die sowjetische Bedrohung in Grenzen zu halten. Doch die amerikanische Außenpolitik davor und seitdem lässt vermuten, dass sich die USA bestenfalls sporadisch mit solch eigentlichen Ursachen auseinander setzen. Die EU andererseits könnte sich diesen Langzeitursachen zuwenden, wenn sie selbst ihrer Kritik an Amerika gerecht werden wollte. Es könnte dazu kommen, nicht nur, weil die liberale Demokratie ihren Ursprung in Europa hat, sondern auch, weil die Verhandlungen, derer es zur Entwicklung der EU bedurfte, ihre Aufmerksamkeit für langfristige Probleme geschärft und ihr Geschicklichkeit bei der Aushandlung von Abkommen verbessert hat. Angesichts aller Gewalt in seiner Geschichte weiß Europa heute etwas, was die USA nicht wissen: es weiß um die Grenzen der Gewalt. Sich mit den langfristigen Ursachen des globalen Elends auseinander zu setzen, ist riskant, schwierig und teuer, aber es gibt dazu auf der Welt keine Alternative. Irgendwann wird China wahrscheinlich seine Interessen global geltend machen, welche immer diese auch sein mögen, aber dieser Tag ist noch nicht in Sicht.
Kritisches Europa
Die europäische Abneigung gegen die ignorante Effektivität und den ungeduldigen Materialismus der Amerikaner besteht seit den Zeiten der europäischen Einwanderung in die USA. Martin Howard Jr. schrieb 1764 an Benjamin Franklin, die Kolonisten hätten „aus Ordnung und Regierung eine Karikatur“ gemacht. Und Alexis de Tocqueville erklärte um 1830 naserümpfend, Amerikas „demokratische soziale Bedingungen und Institutionen treiben die meisten Menschen zu kontinuierlicher Aktivität an, doch Angewohnheiten, die nützlich sind für das Handeln, sind nicht immer auch nützlich für das Denken.“ Rudyard Kipling beklagte sich, dass der amerikanische Patriotismus „vor nichts zurückschrecke und ebenso großmäulig wie ungestüm“ sei. Im Jahr 2002 zählten die Niederländer die Amerikaner zu den unbeliebtesten Ausländern, und 2003 war Amerika für die Briten die gefährlichste Nation auf der Welt.3
Einiges an der europäischen Kritik ist nur Ressentiment, doch vieles davon trifft zu, vor allem die Verurteilung der amerikanischen Aggressivität, die der Politik, den sozialen Normen und der Wirtschaft der USA innewohnt und auch nicht verschwinden wird, sollte ein Demokrat ins Weiße Haus einziehen. Ich will damit nicht sagen, dass es in der amerikanischen Mischung aus Subkulturen und Mentalitäten keine anderen Strömungen gäbe, sondern dass Aggressivität häufig auftritt und oft bestimmend ist. Es ist ein hartes Land, in dem und mit dem man lebt. Die Vereinigten Staaten haben 235 mal ihre militärische Macht eingesetzt, wenn man den Ersten und den Zweiten Weltkrieg jeweils als Einzelereignisse zählt. In ihren frühen Jahren kämpften sie in den napoleonischen Kriegen gegen Frankreich und Großbritannien; 1813 entsandten sie Truppen auf die Marqueza-Inseln, 1815 nach Tripolis und Algier, 1822 in den Pazifik und – mitten in der Belastung durch den amerikanischen Bürgerkrieg – nach Japan und China. Sie schlugen 1250 Schlachten gegen die Indianerstämme des Kontinents, und das alles vor Amerikas offiziellem Auftritt als Imperium im Jahr 1898.4 Die Europäer stellen ganz zutreffend fest, dass 48 Prozent aller amerikanischen Wähler ein Gewehr im Haus haben, wobei der Waffenbesitz mit dem Einkommens- und Bildungsgrad steigt. Alle 20 Minuten wird ein Amerikaner erschossen.
Im Bereich der Wirtschaft verfügen die USA über fünf Prozent der Weltbevölkerung und über 30 Prozent des Bruttosozialprodukts der Welt. Zu den 100 größten Wirtschaftssystemen gehören 51 Aktiengesellschaften; 47 davon sind amerikanisch. Ein Prozent aller Haushalte an der Spitze verfügt über ein größeres Einkommen als die 40 Prozent am unteren Ende der Skala und über größeren Reichtum als die unteren 95 Prozent der Haushalte zusammen. Zwölf Prozent der Amerikaner leben unterhalb der Armutsgrenze, 20 Prozent davon sind Kinder; beide Werte sind doppelt so hoch wie in Europa. Die amerikanische Entwicklungshilfe ist unter 22 Geberstaaten die geringste:5 0,17 Prozent des amerikanischen Bruttosozialprodukts (BSP), das sind 16,8 Milliarden Dollar, wovon ein Viertel für militärische Zwecke ausgegeben wird; somit bleiben 0,13 Prozent des BSP oder 13 Milliarden Dollar für Hilfsprojekte.6 Die Bevölkerung der USA macht vier Prozent der Weltbevölkerung aus; ihr Anteil am Ausstoß von Treibhausgasen beträgt 25 Prozent, ihr Benzinverbrauch ist zehn mal höher als der im Weltdurchschnitt. Japan erzeugt einen Dollar seines BSP mit der Hälfte der in Amerika dafür aufgewandten Energie, Europa benötigt zwei Drittel der in den USA verbrauchten Energie.
In Amerika sitzen 25 Prozent aller Häftlinge der Welt ein; es hat die höchste Gewaltrate und wendet die Todesstrafe so extensiv an wie keine andere Industrienation. In amerikanischen Gefängnissen sitzen mehr als zwei Millionen Menschen. Die USA verweigerten die Unterschrift unter ein Protokoll zur Stärkung der Antifolterkonvention von 1987, und als die Folterung irakischer und afghanischer Gefangener durch Amerikaner bekannt wurde, behaupteten Regierungsjuristen in Schriftsätzen, dass die USA sich weder an internationale noch an nationale Folterverbote7 zu halten brauchten. Die USA sind dem Internationalen Strafgerichtshof nicht beigetreten, ebenso wenig dem Protokoll über Kinder in bewaffneten Konflikten, der Konvention über die Rechte der Kinder oder der internationalen Konvention gegen die Diskriminierung der Frau.8
Die USA verfügen über das größte Arsenal an Massenvernichtungswaffen auf dem Planeten; sie haben die Durchführungsbestimmungen der Konvention über Biologische Waffen aus dem Jahr 1972 abgelehnt. Unter Präsident Bill Clinton verweigerten sie den Beitritt zum Vertrag über das Verbot von Landminen. Im Jahr 2003 war ihr Verteidigungshaushalt höher als jeder der nach ihnen folgenden 25 Länder. Allein der Haushalt des Pentagon umfasst 450 Milliarden Dollar, zählt man die Budgets aller dem Militär zuzurechnenden Behörden zusammen, kommt man auf eine Gesamtsumme von 786 Milliarden Dollar.9 Die USA unterhalten weltweit 647 Militärstützpunkte und haben in 170 Ländern Spezialeinheiten stationiert. Präsident Bushs „Strategie der Nationalen Sicherheit“ aus dem Jahr 2002 kündigte Amerikas Absicht an, die militärische Überlegenheit der USA aufrecht zu erhalten und Maßnahmen gegen jede Gruppierung zu ergreifen, die die politischen oder wirtschaftlichen Interessen Amerikas bedrohe.10
Gottes auserwähltes Land
Eine Erklärung für diese schlimme Bilanz könnte in der calvinistischen Vergangenheit Amerikas liegen, die das Leben als einen manichäischen Kampf zwischen Gut und Böse versteht und Amerika als Gottes auserwähltes Land betrachtet. Andere Erklärungen beziehen sich auf die Geschichte der Besiedlung des Wilden Westens oder auf die Angst des weißen Mannes vor einer Revolte der Schwarzen, die eine Mentalität des Misstrauens und eine expansive kriegerische Abwehrhaltung hervorgebracht habe. Diese letzte Einschätzung ist durch die Bücher des Bestsellerautors Michael Moore populär geworden, doch keine von allen ist wirklich befriedigend. Die USA haben eine relativ schwache calvinistische Tradition, verglichen mit Nordeuropa, wo die amerikanische Aggression heute heftig kritisiert wird. Die friedliche Politik Kanadas und Australiens lässt die Schlussfolgerung zu, dass eine Grenzlanderfahrung in der jüngsten Vergangenheit auch nicht automatisch zu Aggression führen muss.
Viel wichtiger ist, dass diese Theorien eine optimistische Sichtweise widerspiegeln. Sie legen die Annahme nahe, dass Amerikas Kriegslust einer negativen Facette der Vergangenheit entspringt, von der die Nation sich wieder befreien kann. Doch Amerikas Hoppla-Aggressivität hat ihren Ursprung nicht in einer unglücklichen Vergangenheit, von der man sich freimachen könnte, sie beruht auf seiner vielgerühmten Vitalität, seiner Mobilität und seinem Unternehmergeist, denen wir Verfassungen, das Penizillin, Microsoft und „Frühstück bei Tiffany“ verdanken. In der jüngsten europäischen Vergangenheit hat Aggression in die Abgründe des Nationalsozialismus und des Stalinismus geführt. Im Bewusstsein der Amerikaner hat Aggression ihren Kontinent in den weltweit besten Ort verwandelt, sein Glück zu machen. Und trotz des Schocks des 11. September und der Rezession glaubten 19 Prozent der Amerikaner gleichwohl, dass sie zu dem einen Prozent der Superreichen gehörten, und weitere 20 Prozent waren der Überzeugung, dass sie bald dazu gehören würden. 81 Prozent der Studenten gaben an, sie würden einmal reicher sein als ihre Eltern, und 59 Prozent sagten, dass sie es zum Millionär bringen würden.11 Amerika ist so fruchtbar, dass es sogar seine Kritiker selbst hervorbringt, von Noam Chomsky bis zu „Wag the Dog“ und Michael Moore.
Amerikas tatkräftige Aggressivität wird nicht einfach verschwinden; denn erfolgreiche Macht tritt nicht einfach ab. Oder wie Henry Kissinger es in gesetzten Worten ausdrückte: „Am Beginn des neuen Jahrtausends erfreuen sich die Vereinigten Staaten einer Überlegenheit, die sogar von den größten Reichen der Vergangenheit niemals erreicht worden ist“.12 Europäische Politiker bedauern Amerikas verhältnismäßig geringe Entwicklungshilfe und sein Desinteresse an internationalen Abkommen. Das ist in der Tat bedauerlich. Was nun?
Europa als Gegengewicht
Die gegenwärtige Position der Europäischen Union erlaubt ihr zweierlei: Sie kann die Erfahrungen aus der Geschichte und ihre Fähigkeiten aus den EU-Verhandlungen auf die langfristigen Ursachen der Weltprobleme anwenden und ein Gegengewicht zu den Vereinigten Staaten bilden. Unter Gegengewicht ist hier nicht das beargwöhnte Gleichgewicht zwischen Rivalen gemeint, das mehr als einmal in Krieg geendet hat, sondern vielmehr ein Aushandeln von Interessen unter Nichtrivalen, das Extremismus verhindert und zur Kontrolle aller Parteien dient, der USA ebenso wie der EU samt ihrer wirtschaftlichen und politischen Interessen. Die direkten und indirekten Verhandlungen zwischen Regierungen und den Bürgern waren in der Neuzeit über weite Strecken von einem solchen Ausbalancieren bestimmt. Das Problem des einzigartigen Ausmaßes der amerikanischen Macht besteht sowohl darin, dass es amerikanisch ist, wie auch darin, dass es einzigartig ist und dass es an ausreichender Kontrolle fehlt. Aber die durch den Handel zwischen den USA und der EU bewirkte Aktivität ist die wirtschaftliche Antriebskraft des Planeten. Maßnahmen, die von der EU getroffen worden sind, können von den USA nicht übergangen werden, und die Finanzmärkte sind sich dieser Tatsache ebenso wohl bewusst wie die amerikanischen Politiker.13
Gleichwohl bleibt die Erfolgsbilanz der EU sowohl als Gegengewicht wie auch beim Anpacken globaler Probleme bis heute zwiespältig. Die Jahre des Krieges im früheren Jugoslawien hat sie verschlafen, Afghanistan hat sie in den neunziger Jahren ignoriert, und heute tut sie wenig im Hinblick auf Sudan, Palästina/Israel oder Birma, um nur einige Fälle zu nennen. Einheimische Produzenten hat sie auf Kosten der Dritten Welt geschützt.14 An Saddam Hussein hat sie ebenso wie die USA Massenvernichtungswaffen geliefert und hat mit ihm Handel getrieben. Angesichts dieser Tatsachen mutet die Kritik der EU an den Vereinigten Staaten ressentimentgeladen an. Doch anders als die Sklaven in Friedrich Nietzsches Gleichnis ist Europa reich und scheint sich für seine humanitäre Machtlosigkeit selbst auf die Schulter zu klopfen, während es sich an ihr bereichert. Deshalb ist die Kritik der Europäer an den Vereinigten Staaten nicht falsch, doch indem sie als Vorwand genutzt wird, um einem effektiven, globalen Engagement aus dem Weg zu gehen, lässt man den Planeten in den Händen der Amerikaner – mit allen Vor- und Nachteilen, die ihre aggressive Selbstsicherheit mit sich bringt.
Hindernisse
Wenn sie eine Weltpolitik durchsetzen will, die ihrer USA-Kritik gerecht wird, kann die EU nicht im Lehnstuhl sitzen bleiben oder in einer Weltsicht verharren, nach der die USA mächtig, aber selbstsüchtig sind, und die EU abhängig ist, aber nett. Dummerweise wird die EU sich in die globale Arena begeben müssen, während zu Hause noch nicht alles geregelt ist. Verschiedene Gründe sind vorgebracht worden, warum die EU dies nicht tun könne. Als erster Grund wurde genannt, dass die EU unter der Last komplexer innerer Angelegenheiten nicht über ausreichende Ressourcen verfügt, um irgendwo tätig zu werden. Arbeitslosigkeit, langsames Wachstum und Kapitalabfluss in Niedriglohnländer belasten sie ebenso wie die Integration von zehn zusätzlichen Ländern. Doch schwerwiegende innere Probleme wird es immer gegeben, und sie können immer als Ausrede gebraucht werden, um globalen Problemen aus dem Weg zu gehen. Das Bruttosozialprodukt der EU hat die Höhe dessen der USA erreicht, und was auch immer seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs geschehen sein mag, so haben sich die USA nie den Luxus geleistet, sich zur Rechtfertigung von Isolationismus auf einheimische Probleme zu berufen.
Ein zweiter Grund läge in der Tatsache, dass die EU noch nicht ausreichend geeint sei, um eine eigenständige Außenpolitik zu entwickeln – was ihr fehle, sei Identität. Doch für die EU besteht die Frage weniger darin, was Identität ist, die Frage lautet vielmehr, wie das europäische Projekt aussehen soll. Die Kolonisten, die die größte Macht des 18. Jahrhunderts bezwangen, verstanden sich nicht als Amerikaner, sondern als Bürger des Landes Virginia, des Landes Pennsylvania und so fort. Auch verfügten sie nicht über eine gemeinsame kulturelle Vergangenheit, über gemeinsame Traditionen, Religion, ein gemeinsames politisches System oder eine gemeinsame Sprache.15 Die EU von heute ist viel weiter entwickelt als die Unions-Staaten der damaligen Zeit. Ihre Identität wird sich daraus entwickeln, was sie mit ihren Ressourcen anfangen wird.
Drittens wird die Geschichte ins Feld geführt. Nach dieser Betrachtungsweise hat Europa sich von seiner kolonialen und faschistischen Vergangenheit losgesagt und fühlt sich erfreulich fest vor einem Rückfall gefeit, so lange es sich nicht in die Angelegenheiten anderer einmischt. Doch dabei verwechselt Europa Handeln mit Aggression und drückt sich vor einem größeren globalen Engagement mit dem Hinweis, es wolle Unterdrückung vermeiden. Das ist Vogel-Strauß-Außenpolitik: So lange wir nicht selbst den Abzug betätigen, gehen diejenigen, die sterben, uns nichts an. Das sieht weniger nach einem Lossagen von der Vergangenheit aus als vielmehr nach ihrer Verdrängung und einer bequemem Passivität im Namen des Pazifismus. Ein Europa, das darauf besteht, sich nur inneren Fragen zu widmen, ist der neue Isolationist, während es sich gleichzeitig über das US-Imperium beklagt. Doch Europa ist nicht isolationistisch; wie die USA macht es überall auf der Welt seine Geschäfte. Somit kommt zur Nachlässigkeit auch noch Heuchelei.
Die Zurückhaltung im Hinblick auf supranationale Projekte ist in Deutschland besonders groß, das seit dem Zweiten Weltkrieg eine, wie ich es nenne, „Diskussionskultur“ entwickelt hat, um ein Ausschlagen des Pendels in Richtung politischer Extreme zu vermeiden.16 Die Bemühungen eines Jürgen Habermas, in Sprache und Kommunikation einen praktischen, liberalen Humanismus durchzusetzen, sind aus dieser Nachkriegskultur entstanden und haben sie bestärkt. Diese Diskussionskultur hat Deutschland im Innern bei der Vermeidung von Extremismus ebenso geholfen wie in Brüssel. Doch es gibt Grenzen, denn Regierungen und NGOs müssen letzten Endes handeln, da sonst die Frustration der Menschen wächst und sie nach neuen Anführern und Demagogen Ausschau halten. Angesichts der gegenwärtigen Rezession hat es in Deutschland sowohl Frust wie auch den Ruf nach einem „neuen Besen“ gegeben, und es ist zu einer falschen Polarisierung in der Außenpolitik gekommen. Es ist noch nicht lange her, dass man auf einem Plakat vor der Münchener Universität lesen konnte:
„Hans Eichel! Brünings Sparpolitik brachte uns Hitler. Die Lösung ist LaRouches neues Bretton Woods!“ Die Diagnose mag ja stimmen, aber die Lösung des rechtsgestrickten, populistischen Lyndon LaRouche wiederholt das Problem einmal mehr, als dass es dieses löst. Einem Deutschland, das dem supranationalen Engagement selbst unter Führung der EU misstrauisch gegenüber steht, wird die „Normalisierung“ nicht erreicht haben. Es wird ein besonderer Fall bleiben, dessen brutale Vergangenheit es davon abhält, neue Brutalität zu verhindern.
Man sollte darauf hinweisen, das auch die Pläne der Regierung Bush für die EU eine Rolle der Untätigkeit vorsehen. Die Richtlinien für die Verteidigungsplanung, auf denen die Strategie der Nationalen Sicherheit des Jahres 2002 teilweise beruht, betonten, dass die USA sich darauf konzentrieren sollten, „potenzielle Wettbewerber davon zu überzeugen, dass sie keine größere Rolle anstreben sollten … dass die USA auch die Mechanismen aufrechterhalten werden, um potenzielle Wettbewerber davor abzuschrecken, eine größere regionale oder globale Rolle auch nur anzustreben“.17
Ein viertes Argument, das gegen ein größeres Engagement der EU in der Welt ins Feld geführt wird, besagt, dass die „Ergebnisse“ der globalen Probleme Europa nicht wirklich erreichen. Aber diese Ansicht ist möglicherweise mit den Bombenanschlägen von Madrid gestorben. Was schwerer wiegt, ist die Frage, ob dies wirklich Europas „moralische“ Position als die Friedenspartei in Weltangelegenheiten sein soll. Kriege, die nach 1980 begannen, dauerten drei mal so lang wie Kriege, die vor diesem Datum begonnen haben. Migration, Krankheit und Terrorismus gehören zu den grenzüberschreitenden Problemen, von denen Jean-François Rischard, der für Europa zuständige Vizepräsident der Weltbank, sagte: „Die Komplexität vieler globaler Fragen und ihre Grenzenlosigkeit sind nur schlecht zu vereinbaren mit den territorialen und hierarchischen Institutionen, die sie lösen sollten, nämlich den Nationalstaaten.“18
Die EU verfügt über den Vorteil der Föderation, unter ihren Regierungen wie ihren NGOs, und über die folgenden Ressourcen: 450 Millionen Einwohner und mit den höchsten Bildungsstand weltweit. Die USA haben 270 Millionen Einwohner und fielen, was die Publizierung von wissenschaftlichen Forschungsergebnissen und die Anmeldung von Patenten betrifft, Mitte der neunziger Jahre hinter Europa zurück. Die EU hat ein Bruttoinlandsprodukt von über 10 Billionen Dollar, knapp das der USA, und ein mäßiges Handelsdefizit von durchschnittlich 2,63 Milliarden Dollar.19 Die USA haben ein beträchtliches, strukturelles Handelsdefizit und borgen jährlich 500 Milliarden Dollar. Europas Sparrate liegt bei etwa 6,35 Prozent, die der USA bei 3 Prozent.20 Die USA weisen das größte Haushaltsdefizit ihrer Geschichte aus, 400 Milliarden Dollar im Jahr 2003, sogar 560 Milliarden, wenn man den gegenwärtigen Überschuss aus der Sozialversicherung abzieht. Sie haben Bundesschulden in Höhe von 4,5 bis 5,5 Billionen Dollar, und von den Schulden werden 37 Prozent von Investoren aus Übersee gehalten.21
Chris Patten, der EU-Kommissar für auswärtige Angelegenheiten, hat gesagt: „Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass, wenn man 200 Millionen Hilfspakete in Afghanistan abwirft, dort morgen der Terrorismus verschwinden wird. Aber ich glaube doch, dass es eine Beziehung gibt zwischen globaler Ungleichheit und dem Zusammenbruch von Staaten sowie Gewalt, Instabilität und Terror.“22 Während es schwierig ist, die Auswirkungen der Wirtschaft auf den Zusammenbruch von Staaten und den Ausbruch von Gewalt zu bestimmen, scheint die Lebensfähigkeit der Wirtschaft den Demokratisierungsprozess tatsächlich zu stärken. Länder mit einem Jahreseinkommen von weniger als 1500 Dollar pro Kopf sind bei ihren Demokratisierungsbemühungen innerhalb von acht Jahren gescheitert, bei einem Jahreseinkommen unter 3000 Dollar pro Kopf betrug dieser Zeitraum 18 Jahre. Bei Ländern mit einem Jahreseinkommen über 6000 Dollar pro Kopf beträgt die Gefahr des Scheiterns der Demokratie lediglich 1:500. Dieses Verhältnis gilt auch historisch, für die Bemühungen um Demokratisierung im 18. und 19. Jahrhundert, so weit wirtschaftliche Maßnahmen für diesen Zeitraum ausgewertet werden können.23
Diese Untersuchung wurde von Adam Przeworski durchgeführt, einem der weltweit hervorragendsten Nationalökonomen, und von Fernando Limongi, der herausfand, dass „der Grad der wirtschaftlichen Entwicklung sich nicht auf die Wahrscheinlichkeit von Transformation zur Demokratie auswirkt, wohl aber, dass Wohlstand demokratische Regime stabiler macht. … Wir ziehen daraus den Schluss, dass Modernisierung nicht zu Demokratie führen muss, dass aber Demokratien überleben in Ländern, die modern sind.“24 Eine RAND-Studie aus dem Jahr 2003 über Nation-Building in der Zeit vom Marshall-Plan bis zu Irak zeigt ein ähnliches Muster.25 Was erfolgreiche Entwicklungsbemühungen von erfolglosen unterscheidet, sind weder die ethnische Homogenität des Empfängerlandes noch sein vorhergehender wirtschaftlicher Status, wie man das in Analysen Deutschlands und Japans nach dem Krieg noch angenommen hat, sondern vielmehr „der Grad der Bemühungen, die die internationale Gemeinschaft in ihre demokratischen Transformationsprozesse investiert hat … der wichtigste Faktor ist der Grad der Bemühungen – gemessen in Zeit, Arbeitskraft und Geld“. Die Wirtschaftshilfe an Japan war im Verhältnis ähnlich derjenigen, die Afghanistan heute erhält, und Japan erreichte das Wirtschaftsniveau der Nachkriegszeit entsprechend langsam, elf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Weiterhin vermindert wirtschaftliche Entwicklung nicht nur materiellen Zwang, sondern wird als „höchst wünschenswerte Folge und Legitimierung“ von politischer Reform benötigt.
Die Weltbank und der Internationale Währungsfonds schätzen, dass in den nächsten 20 Jahren jährlich 50 Milliarden Dollar benötigt werden, um die schlimmste Armut zu beseitigen und um die Dritte Welt mit Trinkwasser, Gesundheitsfürsorge und Arbeitsplätzen zu versorgen. Europa gibt gegenwärtig 30 Milliarden Dollar pro Jahr für Entwicklungshilfe aus, doch würde ein jährliches Budget der EU von 125 bis 250 Milliarden Dollar – ein Viertel bzw. die Hälfte des Budgets des Pentagon – wesentlich mehr bewirken als nur die Linderung der schlimmsten Armut. Damit würden viele Menschen das von Przeworski und Limongi formulierte „Demokratiemarkierer“-Einkommen erreichen, wenn es denn innerhalb der Standards und Fristen durchgeführt wurde, die den Marshall-Plan und die EU selbst in Gang gesetzt haben. Es ist keine Frage, dass dies in gewissen Gebieten erfordert, dass der Frieden erzwungen wird. Wie es in der RAND-Studie dazu heißt: „Der Bericht besagt, dass ein langes Verbleiben zwar keinen Erfolg garantiert, dass ein zu früher Rückzug aber Scheitern bedeutet. … Amerikanische Streitkräfte ließen ihre Unternehmen in Somalia und auf Haiti eindeutig scheitern, bleiben aber präsent in jedem erfolgreichen oder noch anhängigen Fall: Deutschland, Japan, Bosnien, Kosovo und Afghanistan.“26
Europas Sicherheit
Gegenwärtig verfügt die EU über einen Militärverband mit der NATO und, seit 2003, über einen von ihr unabhängigen Verband. General Gustav Hägglund, der Vorsitzende des EU-Militärausschusses, schlägt Militär sowohl für Europas Sicherheit wie für Operationen außerhalb des Kontinents vor. Er empfahl einen umgehenden Einsatz in Sudan. Auch wenn dies möglicherweise den Pazifismus beschädigt, der vielen Europäern lieb ist, so würde die Unfähigkeit, den Frieden zu erhalten, es anderen erlauben, Krieg zu führen und Europas gute Absichten ad absurdum zu führen – zumindest so lange, bis alle Menschen ihre Waffen niederlegen. Um mit der Sorge umzugehen, dass Europa zu seiner gewalttätigen Vergangenheit zurückkehren könnte, könnte die EU militärische Standards schaffen, die sich an ihrer Kritik an den amerikanischen Streitkräften orientieren. Es sollte überdies betont werden, dass jeder Euro, der für wirtschaftliche und politische Entwicklung vor dem Ausbruch von Gewalttätigkeiten ausgegeben wird, beim Aufbau der Zivilgesellschaft und der Reduzierung von Mangel, der später zu Gewalt führt, doppelte Arbeit leistet, wie auch bei der Reduzierung der erschreckend hohen, menschlichen und finanziellen Kosten für Intervention und Friedenserhaltung.
Ich schlage diese Herangehensweise an globalen Druck und globale Gewalt als einen Versuch vor, der auf dem derzeitigen Stand von Reichtum und Technologie der Ersten Welt des Ausprobierens Wert ist, nicht als Patentrezept. Zuallererst wird sie die häufigsten Gründe von Elend und Gewalt angehen, nicht die fortdauernde Irrationalität der Menschen – das aber ist schon eine ganzer Menge.
Ich will hier nicht Modelle für Entwicklung und Friedenserhaltung aufzählen, die die EU ohnehin alle schon kennt und von denen sie viele selbst entwickelt hat, wie die der Internationalen Krisengruppe und der Internationalen Kommission für Intervention und staatliche Souveränität, die vorgeschlagen hat, dass „die gesamte (Friedenserhaltungs-)Debatte auf den Kopf gestellt werden muss. Die Frage kann nicht als Argument für das ‚Recht zur Intervention‘, sie muss als Argument für die ‚Verantwortlichkeit zu schützen‘ gestellt werden“.27 Dieser Standard mag angesichts der Abneigung, die viele Menschen gegenüber Interventionstruppen empfinden, ungenügend sein, doch die EU hat viele andere Standards zur Verfügung, die sie entwickeln könnte, einschließlich derjenigen, die den Nachdruck der Bitte um Intervention durch einheimische Bevölkerungsgruppen gegen die Entscheidung zur Intervention abwägen.28
Die Wirtschaft
Auf wirtschaftlichem Gebiet ist die Einschränkung der Subventionen für die Landwirtschaft der Ersten Welt, die auf der Welthandelskonferenz im Juli 2004 versprochen wurde, ein Beispiel für das Gegengewicht, das die EU den USA gegenüber bilden kann. Bei der Reduktion der Subventionen für die Erste Welt, die von den Entwicklungsländern seit langem gefordert wird, handelt es sich um einen komplexen Vorgang, der in allen Ländern gleich große Anpassungen erfordert. Dennoch war es der EU-Handelskommissar Pascal Lamy, der als erster die Streichung von EU-Subventionen für landwirtschaftlichen Export in Höhe von drei Milliarden Dollar anbot. Als die USA als letztes Land dastanden, das solchen Streichungen widersprach, änderten sie ihre Politik. Ihr Versprechen, die Subventionierung der Landwirtschaft um 20 Prozent zu senken, wurde als Versuch verstanden, mit der EU gleichzuziehen. Die USA ließen sich außerdem darauf ein, ihre von der WTO als illegal eingestuften Baumwollsubventionen rascher zu reduzieren. Im Gegenzug verständigten sich reiche Länder wie Japan, Norwegen und die Schweiz darauf, ihre Furcht erregenden Einfuhrzölle progressiv zu senken – die höheren also stärker als die niedrigen. „Wir sind ein Risiko eingegangen“, sagte Kommissar Lamy.29 Dieses Risiko kann als Modell für eine Führungsrolle der EU dienen, unter den vielen anderen,über die die EU verfügt.
Unter ihnen bietet die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) ein Modell an, zuvor verfeindete Gruppierungen – Regierungen, Unternehmer und Gewerkschaften – zusammenzubringen, um eine neue Politik zu erarbeiten. Dieses Modell könnte auch international in „globale Aufgabennetzwerke“ übertragen werden, internationale Körperschaften, NGOs aus der Ersten Welt, Unternehmer – die in Entwicklungsländern nicht nur mit den Regierungen, sondern auch mit lokalen Agenturen, religiösen Organisationen und Partnern aus der Wirtschaft zusammenarbeiten. Diese Netzwerke verfügen über den Vorteil, nicht nur zur Entwicklung beizutragen, sondern auch die Korruption zu drosseln, die die einheimischen Ressourcen und Hilfeleistungen auszehrt. Netzwerke von NGOs und Wirtschaft gehören deshalb zu den wirksameren Alternativen zu bestehenden korrupten lokalen Strukturen dar. Ihre zweite wichtige Aufgabe besteht darin, WTO und IWF, deren Standards in den späten neunziger Jahren zum wirtschaftlichen Zusammenbruch einiger sich entwickelnder Nationen geführt haben, zu einem Politikwechsel zu überreden, der dem der EU vom Juli gerecht wird.
Das Problem der europäischen Beschwerden über die amerikanische Aggression liegt in Europas Mangel an Alternativen. Deshalb ist meine Forderung vielleicht nicht gänzlich unwillkommen. Die Europäische Kommission wies ihr Parlament an, dass es „unser Ziel sein muss, Europa zu einem globalen Akteur zu machen, mit einem politischen Gewicht, das unserer wirtschaftlichen Stärke entspricht, zu einem Spieler, der in der Lage ist, … auf die Führung der Weltgeschäfte Einfluss zu nehmen.“30 Die Notwendigkeit solcher Einflussnahme wird für Europa unter einem Präsidenten John Kerry oder unter wem auch immer nicht geringer werden. Die Hoffnung, dass die USA gütiger werden könnten, lässt das Problem der einzigen unkontrollierten Macht außer Acht. Denn auch Kerry wird, wenn er zum Präsidenten gewählt werden sollte, gleichzeitig Präsident von Texas und des Pentagon sein wie Präsident von Manhattan und von Berkeley. Und jeder Präsident wird die selbstsichere Aggressivität der Nation widerspiegeln. Kerry wird einige Dinge ändern, aber Washington war noch nie Brüssel, weder unter Teddy Roosevelt noch unter Franklin Delano Roosevelt, John F. Kennedy, Lyndon Johnson oder Bill Clinton; und es wird auch nicht Brüssel werden.
Kerry sagt, er werde den Vereinten Nationen eine größere Rolle in Irak anbieten und das Kyoto-Abkommen unterstützen (obwohl er 1997 dagegen gestimmt hat). Er wird sich auf alternative Brennstoffe konzentrieren, auf bilaterale Gespräche mit Nordkorea und Iran, er wird Sondergesandte in den Nahen Osten schicken und den Informationsfluss international und daheim verbessern. Andererseits hat er für den Krieg in Irak gestimmt und 2004 gegen die Freigabe von 87 Milliarden Dollar für dessen Sicherheit und Entwicklung. Er hat den Amerikanern versichert, „ich werde niemals die Sicherheit dieses Landes irgendeiner Institution übereignen “ und „ich habe für den größten Verteidigungshaushalt in der Geschichte unseres Landes gestimmt “. Er wird die Streitkräfte um 40 000 Mann vergrößern – davon die Hälfte für den Kampfeinsatz. Wie schrieb doch der Economist über Kerry: „Dies ist nicht der friedensbewegte Flügel der Demokratischen Partei.“
Der Economist schrieb aber auch, dass das sich heute abzeichnende „neue Amerika“ radikaler, patriotischer, religiöser, individualistischer, konservativer und militärischer Vorherrschaft mehr verpflichtet sei als Europa und vielleicht sogar mehr als die Vereinigten Staaten zu einem anderen Zeitpunkt ihrer Geschichte.31 Angesichts der kraftstrotzenden Bilanz der amerikanischen Expansion möchte ich allerdings keine historischen Argumente anführen. Europas Wunsch nach einem „besseren“ Amerika ist aussichtslos. Es ist eine Hoffnung auf eine Zukunft, in der Europa irgendwie weder ein machtvoller „global player“ ist, noch die Konsequenzen seiner Ausflüchte trägt. Doch Nichteinmischung ist nicht dasselbe wie Gewaltlosigkeit. Um die Abrechnung mit seiner Vergangenheit glaubwürdig erscheinen zu lassen, muss Europa in der Weltarena anders auftreten: entschlossen, selbstbewusst und unamerikanisch.
Anmerkungen
1 Abgedruckt in: Internationale Politik (IP), 9/2003, S. 107–114.
2 Ich erwähne Erniedrigung vor allem aus ethischen Gründen und wegen ihrer Wirksamkeit als Motiv für Gewalt. Der britische Konfliktspezialist James Fennell hat das Problem der mit Kleinwaffen ausgerüsteten Milizen in Afrika beschrieben als „eine große Zahl junger Männer ohne Chancen, aber mit großen Erwartungen“; vgl. Somini Sengupta, Warriors in West Africa need jobs as well as peace treaties, in: The New York Times, 23.5.2004. In einem Artikel über den Flugzeugentführer des 11. Septembers 2001, Mohammed Atta, schrieb Fouad Ajami: „Eine triste, strenge Gesellschaft wurde in den siebziger und achtziger Jahren plötzlich in eine wettbewerbsorientierte, glamourhafte Welt katapultiert. Den frommen Gewissheiten Ägyptens standen neue Versuchungen gegenüber. Es muss viel Sehnsucht und viel Unterdrückung in Mohammed Attas Leben gegeben haben; dies ist die Qual von Attas Generation. Sie war gefährlich nah an der Moderne platziert, aber sie konnte nicht daran teilnehmen“; s. Ajami, Nowhere man, in: The New York Magazine, 7.10.2001.
3 Vgl. Samantha Power, Hegemony of survival: America’s quest for global dominance, in: The New York Times, 4.1.2004, sowie Clyde V. Prestowitz, Rouge nation: American Unilateralism and the failure of good intentions, New York 2003, S. 45–46.
4 Seit dem Ende des Vietnam-Kriegs haben die USA Einsatzkräfte, Militär oder tödliche Gewalt in folgenden Ländern eingesetzt: Afghanistan, Albanien, Angola, Bangladesch, Bolivien, Bosnien, El Salvador, Eritrea, Ecuador, Grenada, Guinea-Bissau, Haiti, Honduras, Iran, Irak, Jugoslawien, Kambodscha, Kolumbien, Kongo, Kroatien, Kuwait, Libanon, Liberia, Libyen, Mazedonien, Mexiko, Mosambik/Südafrika, Nikaragua, Nordkorea, Panama, Peru, Philippinen, Polen, Ruanda, Saudi-Arabien, Serbien, Sierra Leone, im Südchinesischen Meer, in der früheren Sowjetunion, Sudan, in der Straße von Taiwan, Timor, Türkei, Uganda, Venezuela und Zaire.
5 Vgl. Brian Urquhart, World order & Mr. Bush, in: The New York Review of Books, 9.10.2003.
6 Zur Zeit des Marshall-Plans betrug die amerikanische Hilfe mehr als drei Prozent des BSP, was ungefähr dem damaligen Militärhaushalt entsprach; vgl. Curt Tarnoff/ Larry Nowels, Foreign Aid: An introductory overview of US programs and policy, Washington 2001.
7 Vgl. Neil A. Lewis/Eric Schmitt, Lawyers decided bans on torture didn’t bind, in: The New York Times, 8.6.2004.
8 Ich will hier nicht näher eingehen auf den Patriot Act der USA, auf Militärtribunale, die Verhaftung von 1500 Männern nach dem 11. September und die Einkerkerung von Menschen in Guantanamo Bay; darüber ist in den großen Zeitungen bereits viel geschrieben worden.
9 Vgl. War Resisters League, Where your income tax money really goes, über: <http://www.warresisters.org/piechart.htm>.
10 Vgl. National Security Strategy of the United States, White House Press Release vom 20.9.2002, S. 21; auszugsweise abgedruckt in: IP, 12/2002, S. 113 ff.
11 Vgl. David Brooks, The triumph of hope of self-interest, in: The New York Times, 12.1.2003, sowie John Leland, Why America sees the silver lining, ebd., 13.6.2004.
12 Henry Kissinger, Does America need a foreign policy?, New York 2001, S. 17.
13 Aus Europa kommen fast 75 Prozent aller ausländischen Investitionen in den USA; fast 60 Prozent aller amerikanischen Auslandsanlagen hingegen befinden sich in Europa. Zum Vergleich: Im Jahr 2003 investierten die USA zweieinhalb Mal mehr in Irland als in China. Im Bereich des internationalen Handels geht ein Viertel der europäischen Exporte in die USA, ein Drittel der amerikanischen Exporte geht nach Europa. Mehr als 13 Millionen Europäer und Amerikaner sind bei Unternehmen beschäftigt, die ihren Hauptsitz jeweils auf dem anderen Kontinent haben; vgl. Niall Fitzgerald, US-EU trade, in: The International Herald Tribune, 9.7.2004.
14 Die EU subventioniert beispielsweise jede ihrer Kühe jährlich mit 913 Dollar; zum Vergleich: in der Subsahara-Region beträgt das jährliche Pro-Kopf-Einkommen 490 Dollar; vgl. Rick Lazio, Some trade barriers won’t fall, in: The New York Times, 9.8.2003.
15 Daniel Webster begann mit der Abfassung seines Wörterbuchs im Jahr 1790, weil die Bürger dieser „Staaten“ Englisch, Niederländisch, Deutsch, Gälisch oder Schwedisch sprachen und sich nicht untereinander verständigen konnten. Der Widerstand gegen eine nationale Regierung war so heftig, dass die erste, gemäß den Artikeln der Konföderation gebildete Regierung wegen mangelnder Festigkeit und der Unfähigkeit, Steuern zu erheben, gestürzt wurde. Und sogar nach diesem Chaos bekämpften die Verfasser der neuen Verfassung die Antiföderalisten zwei Jahre lang, um die Staaten dazu zu bringen, die Verfassung zu ratifizieren.
16 Eine solche Diskussionskultur und Aushandeln von Interessen gehörten auch zu den Vorzügen der USA, vermöge ihrer Größe, ihrer verschiedenen Subkulturen und des Systems von checks and balances. Sie sind im Zuge der Machtkonsolidierung seit den sechziger Jahren und vor allem in der zweiten Präsidentschaft Bush irgendwie verloren gegangen.
17 Vgl. Defence Planning Guidance, Washington, DC, 1992.
18 Vgl. Jean-François Rischard, High noon: Twenty global problems, twenty years to solve them, New York 2002, S. 157.
19 Vgl. Eurostat Yearbook 2002 und 2203, über: <http://europa.eu.int/comm/eurostat>.
20 Vgl. Roberto Barcellan, Gross domestic product 2001. Statistics in Focus: Economy and Finance, Washington, DC, 2002, sowie The Economic Report of the President, Washington, DC, Februar 2002.
21 Vgl. Howell E. Jackson, It’s even worse than you think, in: The New York Times, 9.10.2003.
22 Vgl. The New York Times, 4.10.2003 bzw. 23.5.2004.
23 Vgl. Fareed Zakaria, The future of freedom: Illiberal democracy at home and abroad, New York 2003, S. 71–72.
24 Vgl. Adam Przeworski/Fernando Limongi, Modernization: Theories and facts, in: World Politics, Nr. 2/1997, S. 155–183.
25 Vgl. RAND, America’s role in nation-building: From Germany to Iraq, über: <http://www.rand.org/publications/MR?MR1753/MR1753.ch9>.
26 Ebenda.
27 Vgl. Gareth Evans/Mohamed Sahnoun, The responsibility to protect, in: Foreign Affairs, November-Dezember 2002, S. 101.
28 Michael Walzer argumentiert, dass Intervention dann gerechtfertigt ist, wenn Streitigkeiten geschlichtet werden müssen, weil verschiedene Seiten Anspruch auf ein Territorium erheben, wenn in einem Bürgerkrieg Parteien getrennt werden müssen, nachdem eine von ihnen Hilfe von außen erhalten hat, oder um extreme Menschenrechtsverletzungen zu unterbinden; vgl. Walzer, Just and unjust wars, New York 1977, sowie ders., The moral standing of States: A response to four critics, in: Charles R. Beitz (Hrsg.), International Ethics, Princeton 1985. Mary Slaughter von der Woodrow Wilson School of Public and International Affairs fordert eine internationale Intervention dann, wenn eine Partei Massenvernichtungswaffen besitzt, angesichts massiver und systematischer Menschenrechtsverletzungen und aggressiver Absichten gegenüber benachbarten Regionen und Länder; vgl. Jim Garrison, America as Empire: Global leader or rogue power?, San Francisco 2004, S. 183–184.
29 Vgl. Trade group to cut subsidies for rich nations, in: The New York Times, 1.8.2004.
30 Vgl. Lee A. Casey/David B. Rivkin, The alarmingly undemocratic drift of the European Union, in: Policy Review, Juni 2001, S. 41–53.
31 Vgl. auch Felix Rohatyn, For ‘New America’ a fresh Atlantic Alliance, in: The International Herald Tribune, 11.5.2004.
Internationale Politik 9, September 2004, S. 73‑86
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