„Als wenn man aus Ketchup Tomaten machen wollte“
Volker Treier über Deutschland, die Visegrád-Staaten und darüber, was eine Entflechtung der Volkswirtschaften bedeuten würde.
Internationale Politik: Herr Treier, Sie haben die Visegrád-Gruppe angesichts sich weltweit eintrübender Geschäftsaussichten als den „großen Stabilisator“ bezeichnet. Erwarten Sie, dass der Boom anhalten wird?
Volker Treier: Ich fürchte, dass die Visegrád-Länder im Zuge der schwächelnden Konjunktur Deutschlands einen Dämpfer erleben werden. Dieser Dämpfer dürfte unseren Umfragen zufolge in Polen aufgrund des größeren Binnenmarkts schwächer ausfallen als etwa in der Slowakei. Wenn wir Deutschland und die Visegrád-Staaten zu einer Wirtschaftsregion zusammenfassen – nennen wir sie: „Zentraleuropa“ –, dann ist das die industriell stärkste Region auf dem europäischen Kontinent. Sie steht für einen erheblichen Teil des Exporterfolgs der Europäischen Union. Und es sind ja bei weitem nicht nur die international bekannten deutschen Autokonzerne, die in der Region präsent sind. Auch bei unseren Mittelständlern, den Hidden Champions, gibt es kaum ein Unternehmen, das nicht Zulieferbetriebe oder Tochtergesellschaften in einem oder mehreren Visegrád-Ländern hat. Das ist gleichzeitig die Erklärung für den wirtschaftlichen Erfolg und ein Fingerzeig, warum die konjunkturelle Delle, vielleicht auch Talsohle, durch die Deutschlands Wirtschaft im Moment geht, auch die Visegrád-Länder in abgestufter Weise erreichen wird.
Auf wirtschaftlicher Ebene hat die Visegrád-Gruppe China als wichtigsten deutschen Außenhandelspartner überholt. Politisch dagegen bleibt das Verhältnis angespannt, etwa in der Diskussion über die Flüchtlingspolitik. Haben sich die wirtschaftlichen von den politischen Beziehungen abgekoppelt?
Wir haben im politischen Diskurs in der Tat noch erheblichen Nachholbedarf, gerade bei wirtschaftspolitisch relevanten Themen. Die große ökonomische Bedeutung der Visegrád-Staaten für Deutschland und die Europäische Union bildet sich noch nicht in einem stärkeren politischen Miteinander ab, von einem gemeinsamen politischen Diskurs ganz zu schweigen. Aber gerade das wäre aus Sicht der Unternehmen dringend notwendig. Schauen Sie nur einmal auf die Slowakei, das Land mit der höchsten Automobilproduktion pro Kopf. Diese Autos werden von Unternehmen aus Deutschland oder anderen Ländern für den Export produziert. Themen der Handelspolitik, etwa der Konflikt zwischen der EU und den USA, betreffen die Slowakei also unmittelbar. Wir müssen hier europäische Antworten finden – zusammen mit der Slowakei. Und das ist nur eines der Themen. Auch zu Fragen der Digitalisierungspolitik, der Klimapolitik oder der Mobilität der Zukunft findet eine gemeinsame Diskussion mit den Visegrád-Ländern nur ganz selten statt.
Ein Thema wie Rechtsstaatlichkeit ist nicht nur immer wieder Stein des Anstoßes zwischen Brüssel und – vor allem – Budapest und Warschau. Rechtssicherheit ist auch für Investoren ein sensibler Punkt. Haben Sie den Eindruck, dass deutsche Unternehmen in den vergangenen Jahren zurückhaltender geworden sind, was Investitionen in Ländern wie Ungarn oder Polen angeht?
Das kommt darauf an, ob wir von Unternehmen sprechen, die sich im Wesentlichen aufs Auslandsgeschäft, also den Export in Drittländer konzentrieren, oder von binnenorientierten Firmen. Wenn es ums reine Auslandsgeschäft geht, können wir nach unseren regelmäßigen weltweiten Konjunkturbefragungen nicht bestätigen, dass sich die Rechtssicherheit in den vergangenen Jahren verschlechtert habe. Im Gegenteil, da rollen die Visegrád-Länder Investoren aus anderen Ländern quasi den roten Teppich aus, gerade wenn sie aus Deutschland stammen. Von Unternehmen, die sich auf den Binnenmarkt konzentrieren, kam dagegen vor etlichen Jahren durchaus häufiger mal die Frage, wie es mit Rechtssicherheit und Nichtdiskriminierung bestellt sei und ob zuweilen mit unterschiedlichem Maße gemessen werde, wenn es auch inländische Mitbewerber gibt. Das betrifft Branchen wie die Telekommunikation, Energieversorgungsunternehmen oder Lebensmittelketten aus Deutschland. Es gilt allerdings nicht nur für die Visegrád-Staaten, sondern auch für andere EU-Mitgliedsländer.
In den Visegrád-Staaten will man weg vom Status einer verlängerten Werkbank, hin zu einem innovationsgetriebenen Wachstum. Worauf müssen sich deutsche Unternehmen, die dort fertigen lassen, künftig einstellen?
Wenn wir uns die Entwicklung der Standorte anschauen, so war die nur ganz selten „substitutional“, wie es die Wirtschaftswissenschaftler nennen – indem also der eine Standort einen anderen Standort verdrängt. Der Prozess verlief komplementär: Die arbeitsintensiven Sektoren fanden sich eher in den Visegrád-Ländern, während alles das, wo es um Forschung und Entwicklung geht, in Deutschland seinen Platz hatte. Heute beobachten wir eine leicht gegenläufige Tendenz: Innovationsstärkere Sektoren werden mittlerweile auch in Ländern wie Ungarn angesiedelt, wie überhaupt die Visegrád-Gruppe in dieser Hinsicht zugelegt hat. Von Produktionsverlagerungen zu Lasten des Wirtschaftsstandorts Deutschland kann noch keine Rede sein, aber: Die Region holt auf.
Wie wirkt sich die deutliche Steigerung des Lohnniveaus aus?
Noch haben die Arbeitskosten die Produktivität nicht überholt, und die Standorte in Mittel- und Osteuropa bleiben ausgesprochen wettbewerbsfähig, auch im Vergleich zu Deutschland. Zudem ist die Facharbeiterschaft in einigen Sektoren der Automobilwirtschaft durch Qualifikationstransfers auf einem Ausbildungsniveau angekommen, das dem deutschen Standard entspricht. Es gibt heute eine ganze Reihe von Standorten in den Visegrád-Staaten, die auch in dieser Hinsicht den Vergleich mit ihren deutschen Pendants nicht scheuen müssen.
In welche Branchen sollten deutsche Unternehmen in den Visegrád-Ländern künftig investieren?
Da springen einem zunächst die Themen Digitalisierung und Industrie 4.0 ins Auge. Auch in Sachen Management, Unternehmensführung und bei den unternehmensnahen Dienstleistungen wie der Unternehmensberatung haben die V4 noch einen erheblichen Nachholbedarf. Dazu kommen Dienstleistungen im Finanzwesen. Hier wurden die Strukturen nach 1989 teilweise einfach aus dem Westen transferiert, aus Deutschland oder aus Österreich. Das hat nicht unbedingt dazu beigetragen, die Länder krisenfest zu machen. Eigene stabile Finanzstrukturen für die Region zu schaffen, wäre sicher eine lohnende Aufgabe.
Würden Sie sagen, dass es in der Umwelttechnologie einen Markt gibt, wenn auch in etwas fernerer Zukunft?
Im Prinzip ja. Aber das hängt auch von grundlegenden Weichenstellungen ab, die in der EU-Energiepolitik erfolgen, und davon, welche Dynamik der von der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ausgerufene Green Deal auslösen wird. Derzeit ist die Energieversorgung in den Visegrád-Staaten noch stark von der Kohle abhängig – Polen ist hier das extremste Beispiel. Ungarn wendet sich stärker der Nukleartechnologie zu. Bei den erneuerbaren Energien und bei der Reduktion des CO2-Ausstoßes gibt es also in allen vier Ländern einen erheblichen Aufholbedarf und damit ein großes Entwicklungspotenzial. Auch hier haben deutsche Unternehmen die Standorte teilweise schon erschlossen, um aus den guten Bedingungen für ihre Produkte Vorteil zu ziehen.
Die Visegrád-Staaten sind Deutschlands Nachbarn, andererseits ist man sich in manchem bis heute fremd geblieben. Was sind aus Ihrer Sicht die Punkte, die ein deutsches Unternehmen besonders beachten muss, wenn es in den Visegrád-Staaten investiert?
Der historische Kontext ist natürlich ein ganz besonderer. Polen, Tschechien, Ungarn und die Slowakei waren lange durch den Eisernen Vorhang von Deutschland getrennt, klammert man die DDR einmal aus. Das heißt zum einen, dass man das Geschehen in der Bundesrepublik kaum verfolgte, zum anderen, dass auch in die Unternehmen hinein jahrzehntelang fremdregiert wurde. Das erfordert erst einmal ein größeres Verständnis seitens der Investoren, die aus dem Westen kommen. Das gilt auch für deutsche Unternehmen, die sich in der Region niederlassen. Das Grundgefühl der Menschen ist: „Wir wurden damals fremdregiert, durch die Sowjetunion, und wir möchten nicht, dass das eins zu eins ersetzt wird durch Leute aus Brüssel, die wir nicht kennen.“ Diese kulturelle Sensibilität sollte man mitbringen. Auf die politische Ebene übertragen bedeutet es nicht, dass man für alles Verständnis haben muss, was dort passiert – gerade wenn es europäischen Grundeinstellungen widerspricht. Aber zu wissen, wo der Andere steht, kann einem auch geschäftlich durchaus weiterhelfen.
Die Region befindet sich derzeit in einem Umbruchprozess. Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen Deutschland und den Visegrád-Staaten im Jahre 2050?
Als Optimist würde ich erwarten, dass diese Länder sich als fester Bestandteil eines demokratischen Europas etabliert haben, einem Europa, in dem grüne Technologien selbstverständlicher Bestandteil der Produktion, des Konsums und des gesellschaftlichen Lebens sind. Die Länder wären dann noch stärker mit Deutschland verwoben, und wir würden eher in Regionen denken als in Ländern.
Und wie sähe Ihr Negativ-Szenario aus, wenn Deutschland und die V4-Staaten sich politisch immer weiter entfremden und das auf die Wirtschaftsbeziehungen zurückschlägt?
Das wäre noch extremer als das, was wir im Moment beim Streit zwischen den USA und China erleben – das sogenannte „De-Coupling“. Längst globalisierte Wertschöpfungsketten werden aufgetrennt in eine Seite mit chinesischer Technologie und eine mit amerikanischer oder westlicher Technologie. Eine solche Entflechtung wäre für die Region schwer vorstellbar – aber das war sie im Grunde auch schon, als wir in der Staatsschuldenkrise die Debatte über eine Auflösung der Eurozone geführt haben. Wie man aus Tomaten Ketchup herstellt, das wissen viele. Sich ein negatives Szenario vorzustellen, hieße aber zu versuchen, aus einer Flasche Ketchup wieder Tomaten zu machen. Das werden Sie nicht hinbekommen, und wenn, dann allenfalls unter erheblichen Schmerzen. Ich glaube, dass die Integration und Verflechtung der Volkswirtschaften, insbesondere zwischen Deutschland und den Visegrád-Staaten, schon deutlich zu weit fortgeschritten sind, als dass man sich so etwas vorstellen möchte.
Dr. Volker Treier ist Außenwirtschaftschef und Mitglied der Hauptgeschäftsführung des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK). Beim DIHK ist er unter anderem verantwortlich für die Sektoren Internationale Märkte und Europäische Union.
Das Interview führte Joachim Staron.
Internationale Politik Wirtschaft 1, März - Juni 2020, S. 48-51