IP Special

03. Jan. 2022

Achtung, Technologie-Lücke!

Europa hinkt den USA technologisch schon seit Jahrzehnten hinterher. Die neue geopolitisch geprägte europäische Technologie-Industriepolitik muss Antworten auf alte Fragen finden.

Beiderseits des Atlantiks reden alle vom „technological gap“, der „technologischen Lücke“. Autokratische Staaten werfen den Vereinigten Staaten vor, ihre technologische Macht als Herrschaftsinstrument zu nutzen. Europäische Spitzenpolitiker, die fürchten, von amerikanischer Technologie überrollt zu werden, fordern eine neue europäische Technologiegemeinschaft – ein Versuch, Forschung und Entwicklung, Kommerzialisierung und Investitionen in ganz Europa anzukurbeln, um die Europäer aus ihrer technologischen Abhängigkeit von den USA zu befreien.



So geschehen 1966. Und wie heute war der geopolitische Unterton unverkennbar: Die Sowjetunion hatte 1957 den Satelliten Sputnik ins All geschossen. John F. Kennedys Versprechen, einen Menschen auf den Mond zu senden, war nicht nur im übertragenen Sinne ein Griff nach den Sternen. Unter US-Präsident Lyndon B. Johnson arbeiteten Außenminister Dean Rusk und der Berater des Weißen Hauses für Wissenschaft und Technologie, Donald Hornig – das Pendant zu Eric Lander in der Biden-Regierung – eng mit den europäischen Verbündeten zusammen, um in Sachen technologischer Kooperation die Reihen zu schließen.



Doch wie heute war Europas Haltung zu seiner Abhängigkeit von amerikanischen Big-Tech-Riesen wie IBM ambivalent – so sehr, dass 1968 ein Artikel in Foreign Affairs die Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft warnte: „Die technologische Lücke zwischen Europa und den Vereinigten Staaten sollte nicht als Entschuldigung für autarke Maßnahmen herhalten.“ In den 1960er Jahren ging es um Großrechner, Luftfahrttechnik, Weltraum- und Kernforschung sowie Halbleiter. 2022 sind es Künstliche Intelligenz, Chips, digitale Plattformen, Datenströme, 5/6G, Cloud- und Edge-Computing, das Internet der Dinge, Virtual Reality, Blockchain, Bio- und Quantentechnologie. Es dürfte diese technologische Gleichzeitigkeit sein – das Zusammenfallen vieler ohnehin bestehender Aufgaben mit der Covid-19-Krise –, die bei europäischen politischen Entscheidungsträgern ein Umdenken bewirkt hat.



Europa insgesamt und Deutschland im Besonderen haben vor allem drei Ereignisse der derzeitigen Technologiepolitik geprägt – bis heute setzen sie dem europäischen Diskurs über Tech-Industriepolitik und die Stellung Europas in der digitalen Welt den Rahmen.



Erstens brachten Edward Snowdens Enthüllungen 2013 den ausufernden Geheimdienst- und Überwachungsstaat ans Licht, der sich in den USA im Kontext des „Kriegs gegen den Terror“ entwickelt hatte. Der kaum kontrollierte und undurchsichtige Zugriff der US-Geheimdienste auf den europäischen Internetverkehr offenbarte das hässliche Gesicht digitaler Technologien und schärfte den Blick einer breiteren Öffentlichkeit auf das wahre Ausmaß der Abhängigkeit von US-Plattformen sowie von Datenverarbeitung und Cloud-Speicher auf amerikanischem Boden.



Zweitens warf die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten 2016 neue Fragen über die Zuverlässigkeit eines erratischen und zuweilen strafenden Partners auf, von dem Europa weiterhin technologisch und sicherheitspolitisch abhängig war. Schließlich demonstrierte der Skandal um Cambridge Analytica 2017 die systematische Kommerzialisierung persönlicher ­Daten von Facebook und anderen Tech-Riesen und deren nonchalante Haltung zum Datenschutz insgesamt.

All dies untergrub das Vertrauen in die US-Regierung und amerikanische Tech-Firmen; an der technologischen Vormachtstellung der USA in Europa änderte sich dadurch jedoch kaum etwas. Und auch auf globaler Ebene konnten die USA eine hegemoniale Position im internationalen digitalen System aufrechterhalten, die der Stellung des Dollar im internationalen Währungssystem ähnelt.



Amerikanische Vorherrschaft

Die amerikanischen GAFAM-Unternehmen (Google, Apple, Facebook, Amazon, Microsoft) haben eine Gesamtmarktkapitalisierung von 6,4 Billionen Dollar, was ungefähr dem Bruttoinlandsprodukt von Deutschland und Frankreich zusammen entspricht. Rund 91 Prozent aller Internet-Suchanfragen in Europa landen bei Google. 79,3 Prozent der europäischen Internetnutzer haben einen Facebook-­Account. Zusammen haben Google und Facebook in Europa ein Onlinewerbe-­Duopol. Ama­zon Web Services (42 Pro­zent), Azure von Microsoft (20 Prozent) und Google Cloud (5 Prozent) dominieren den europäischen Cloud-Markt. Ebenso bedeutend ist, dass US-amerikanische Big-Tech-Konzerne domänenübergreifende Forschung und Innovation in strategische Technologien antreiben.



Einst ein eher wohlwollender Hegemon, nutzten die USA unter der Trump-Regierung ihre Führungsrolle aus, um chinesische Technologiefirmen zu lähmen. Dabei entstanden oftmals auch Kollate­ralschäden in Europa. Seit 2018 haben die USA hunderte chinesische Unternehmen auf die schwarze Liste ihres Handelsministeriums gesetzt, darunter ZTE und Huawei. Außerdem setzte die Trump-­Regierung Chinas größten Chip-Hersteller SMIC und den drittgrößten Hersteller von Smartphones, Xiaomi, darauf.



Zwar hat die Wahl Joe Bidens zum US-Präsidenten das US-Interesse an multilateraler Kooperation mit gleichgesinnten Partnern wie der EU gestärkt. Allerdings bleibt unklar, inwiefern es den Vereinigten Staaten gelingen wird, Europas Vertrauen zurückzugewinnen und eine enge Technologiepartnerschaft aufzubauen.

China strebt indessen schon lange an, sich gegen technologische Interdependenzen zu immunisieren. So hat Peking Auslandsinvestitionen in strategisch wichtige Technologie beschränkt, eigene Tech-Champions gezüchtet und ein Bindegewebe zwischen der Kommunistischen Partei und den chinesischen Tech-Riesen wachsen lassen. Insgesamt schuf China ein System abgestufter – aber totaler – Kontrolle seiner technologischen Landschaft, gestützt von einem eisernen neuen Ansatz bei digitaler Regulierung durch das Datenschutzgesetz (PIPL), Regeln für Algorithmen und Cybersicherheit sowie die Durchsetzung harten Wettbewerbs. Chinas techno-autoritäres innenpolitisches Modell geht Hand in Hand mit einer internationalen Strategie, die ihre Schwerpunkte bei der digitalen Seidenstraße und einer Huawei-Diplomatie mit harten Ban­dagen hat. Auch zieht China einen enormen – und oft unterschätzten – Wert in Form von gestohlenem geistigen Eigentum aus Europa und den USA ab: Beispiele sind Magnetschwebebahnen oder Solartechnologie. Ähnliches geschieht durch erzwungene Technologietransfers im Zuge von Joint Ventures.



Es geht die Angst um, dass Europas wachsende Stärken in digitalen Technologien, insbesondere bei Robotik, Logistik und beim Internet der Dinge, durch diese Anstrengungen untergraben werden könnten. Deshalb setzten die EU-Mitgliedstaaten unter anderem auf stärkeres Investment-Screening auch jenseits traditioneller Militärtechnologie. Gleichzeitig wurde eine Verschiebung im europäischen Ansatz sichtbar. 2015 startete die Europäische Kommission ihre Initiative zur Schaffung eines digitalen Binnenmarkts, was viele Europäer als Grundlage für einen europäischen Erfolg in der digitalen Sphäre betrachten. Kleinere, technikaffine nord­europäische Staaten wie Estland, Dänemark, Finnland und Schweden sehen den Wegfall von Handelshemmnissen für grenzüberschreitende digitale Dienstleistungen, einen klaren regulatorischen Rahmen und die Offenheit des Marktes weiterhin als entscheidend für Europas Fähigkeit an, eine eigene industrielle Innovationsbasis zu errichten.



Dies wird durch neue Schwerpunkte ergänzt: Die EU, Frankreich und insbesondere Deutschland machten sich die Sprache der digitalen Souveränität immer mehr zu eigen. Dazu gehören auch der französische Ansatz einer auf Importsubstitution setzenden Tech-Industrialisierungsstrategie sowie Datenlokalisierung und die Schaffung von Produktionskapazitäten auf europäischem Boden. 2017 begann die Kommission, ihre Industriestrategie grundlegend zu überarbeiten; nunmehr warb sie für eine Mischung aus Liberalisierung, staatlichen Beihilfen sowie Schutzmaßnahmen und betonte die Bedeutung aufkommender Technologien. Allerdings bleibt der Begriff der digitalen Souveränität umstritten, entwickelt sich dauernd fort und reflektiert so sich verändernde Positionen, Interessen und Weltbilder.



Ehrgeiz und Ambiguität

All dies kulminierte in den vergangenen zwei Jahren in einer Explosion neuer Industrieprojekte bei Clouds, Halbleitern, Batterietechnologie, Wasserstoff und Quantencomputern, um nur einige zu nennen. Zwei stechen besonders hervor.



Da ist zum einen ein Projekt aus dem Cloud-Bereich, angeregt durch die Unsicherheit über den transatlantischen Datenverkehr nach der Schrems-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, die extraterritorialen Auswirkungen des US Cloud Act und die tiefe Ambivalenz der EU hinsichtlich des Wertversprechens beim Umgang mit Daten. In diesem Kontext setzten sich Deutschland und Frankreich zum Ziel, eine europäische Cloud-Infrastruktur zu schaffen: Gaia-X. Sie sollte europäischen Regeln unterworfen sein, durch eine abgestufte europäische cloud­basierte Dateninfrastruktur ergänzt werden und so das Potenzial haben, die umfassende Marktdominanz der USA durch Interoperabilität und Übertragbarkeits­anforderungen zu untergraben.



Die deutschen und französischen Architekten von Gaia-X betrachten dieses Projekt als regulatorischen und industriepolitischen Hybrid mit drei Zielen: Es soll auf der Grundlage gemeinsamer, interoperabler Protokolle und im Einklang mit europäischen Werten ein abgestuftes System von Cloud-Kapazitäten mit einer Vielzahl privater und öffentlicher Provider errichten. Es zielt darauf ab, zusätzliche private, mitgliedstaatliche und europäische Investitionen in Cloud-Dienste zu fördern. Und es will zu einer stärkeren Verbreitung von Clouds in Europa anregen. Letztendliches Ziel ist eine von europäischen Regeln geleitete, wettbewerbs­orientierte Cloud-Landschaft als Grundlage für eine Infrastruktur wie Industrie 4.0 oder das Internet der Dinge.



Während nichteuropäische Firmen aus der Führungsriege ausgeschlossen wurden, gibt es ein beachtliches Übergewicht großer deutscher und französischer ­Unternehmen – viele davon pflegen strategische Partnerschaften mit US-Riesen – und Verbänden, die ebenfalls viele amerikanische und chinesische Tech-Champions zu ihren Mitgliedern zählen. Im Ausland wurde Kritik laut, Gaia-X sei Ausweis eines aus Neid geborenen Protektionismus. Doch während die Umsetzungsphase des Projekts beginnt, gerät es in Europa zunehmend unter Druck. Einige Stimmen behaupten, Gaia-X sei ein trojanisches Pferd für nichteuropäische Akteure, weil Tech-Riesen wie Google Cloud neue strategische Partnerschaften etwa mit der Deutschen Telekom schlössen; Firmen wie Alibaba Group und Microsoft fänden über DigitalEurope und Bitkom Hintertüren in Gaia-X regelsetzende Ausschüsse.



Verteidiger dieser Verbindungen zu den USA und China argumentieren, dass das Projekt ohne die Größenordnung und das technische Know-how nichteuropäischer Partner gelähmt wäre. Es bleibt allerdings weiterhin unklar, ob das Projekt einen deutsch geprägten ordoliberalen Pfad einschlagen oder einen französischen Weg strategischer Industriepolitik wählen wird. Diese strategische Ambiguität, die in der Gründungsphase von Gaia-X eine Stärke war, wird immer mehr zur Schwäche. Am Vorabend des zweiten Gaia-X-Gipfels kündigte mit Scaleway ein großer französischer Teilnehmer an, sich aus dem Konsortium zurückzuziehen. Kurz zuvor hatte die Deutsche Telekom, deutscher Motor des Projekts, eine strategische Partnerschaft mit Google angekündigt, um eine „souveräne Cloud“ zu errichten.



Die gleichen Spannungen dürften auftauchen, sobald die europäische Halbleiterpolitik ein reiferes Stadium erreicht hat. Die durch Covid-19 verursachte Chip-Knappheit, ebenso wie die übermäßige Abhängigkeit vom taiwanesischen Hersteller TSMC, und die Weiterverbreitung vernetzter Geräte haben in Europa ein neues Bewusstsein für die Notwendigkeit europäischer Fertigungskapazitäten für Chips geschaffen. Lag der Anteil Europas an der globalen Halbleiterproduktion 1990 noch bei 44 Prozent, schrumpfte er seitdem auf derzeit bloße 8 Prozent. In ihrem digitalen Kompass visiert die EU das Ziel an, bis 2030 20 Prozent aller weltweit verwendeten Halbleiter in Europa zu produzieren. Der Chips Act der EU ist ein Versuch, die Anstrengungen der Biden-Regierung zum Aufbau von Halbleiter-Produktionskapazitäten zu spiegeln. Dazu sollen Mittel aus nationalen Plänen, Horizon Europe und dem zur Abmilderung der Pandemiefolgen beschlossenen europäischen Wiederaufbauplan zusammengelegt werden. Binnenmarktkommissar Thierry Breton reiste kreuz und quer durch die USA und Asien, um mit Samsung, TSMC und Intel zu flirten und so eine Koalition für europäische Kapazitäten in der High-End-Halbleiterfertigung zu schmieden.



Doch trotz der Brüsseler Agenda und solcher Chip-Diplomatie treten die Bruchlinien in Europa immer deutlicher zutage. Heimische Akteure wie Bosch und Infineon wollen, dass Europa sich zuallererst auf Chips für gesättigte Märkte mit einer Größe von mehr als zehn Nanometern konzen­trieren sollte, wie sie heute in Fahrzeugen, Geräten und Maschinen genutzt werden. Andere wollen, dass Europa – angesichts des künftigen 6G-Bedarfs, der Fusion von Edge-Computing und mobiler Telekommunikationsinfrastruktur, der Bewegung hin zu Virtual Reality sowie fortschreitender Autonomie bei Fahrzeugen und dem Internet der Dinge – schon heute Produktionskapazitäten auf dem neuesten Stand der Chip-Herstellung anstrebt; solche Chips sind gerade einmal zwei Nanometer klein.



Realistischerweise wird Europa beides brauchen. Ersteres könnte man im Wesentlichen mit europäischen Firmen schaffen, für Letzteres müsste man auf globale Kapazitäten zurückgreifen. Wie beim Cloud Computing kommt es letztlich darauf an, ob man sich damit begnügt, einen Halbleitersektor auf europäischem Boden und nach europäischen Regeln zu errichten, oder ob man zusätzlich europäische Champions aufbauen will.



Beim Streben nach digitaler Souveränität Ehrgeiz mit strategischer Ambiguität zu kombinieren, birgt Risiken: Sowohl bei der Cloud- als auch bei der Halbleiter­industriepolitik kann dies dazu führen, schwierige strategische Entscheidungen auf die lange Bank zu schieben, um einen Konsens zu erzielen. Weitere politische Herausforderungen zeichnen sich bereits am Horizont ab.



Erstens gibt es sowohl bei Halbleitern als auch bei Clouds Fragen mit Blick auf die Schwächen früherer industriepolitischer Anstrengungen, nämlich deren geringe Umsetzung und ungewisse Nachfrage. Zweitens: Während die tech-industriellen Maßnahmen zur Pandemiefolgenbekämpfung gerade in Gang kommen, ertönt in Berlin und anderswo bereits der Ruf nach einer stärkeren Haushaltskonsolidierung und strengeren Inflationszielen. Drittens fehlen in Europa eine starke zentrale Exe­kutive und eine europäische Sicherheits­industriebasis, um industrielles Experimentieren voranzutreiben. Auch deshalb stellt sich die Frage, ob die technologisch fortgeschritteneren EU-Mitgliedstaaten bereit sein werden, Industriepolitik jenseits ihrer Staatsgrenzen zu fördern. Angesichts der europäischen Erfahrungs­geschichte ist es gerechtfertigt, mit großen Herausforderungen zu rechnen.



Zurück in die Zukunft

Wie 1966 erfordert Europas technologische Lücke auch heute kreatives Nachdenken über strategische Interdependenz mit Verbündeten. Dies ist einer der Gründe, warum der Transatlantische Handels- und Technologierat (TTC), wenn erfolgreich, eine tragende Säule im europäischen Streben nach einer effektiven Tech-Industriepolitik und letztlich digitaler Souveränität sein kann. So könnte man sich neues Kapital sowie Märkte in den USA erschließen; ohnehin gleichen sich die Vereinigten Staaten in Sachen Datenschutz, Marktmacht von Plattformen, Besteuerung, Überwachung, Internetpolitik und Online-Menschenrechtsschutz immer stärker den europäischen Regeln an. Auf diesem Weg könnte der TTC auch als Vorlage für weitere Projekte dienen, vielleicht sogar für die europäische Tech-Strategie im Indo-Pazifik. Viel steht auf dem Spiel – doch es winkt auch ein großer Gewinn.    

 

Tyson Barker ist Leiter des Programms Technologie und Außenpolitik bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.

Aus dem Amerikanischen von Matthias Hempert

 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special, Ausgabe 02, Januar 2022, S. 42-47

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