Abschied von Europa
Erdogans Politik zum Trotz: Ein Abbruch der Beitrittsgespräche wäre falsch
Staatspräsident Erdogan fährt die institutionellen Beziehungen zur EU und NATO zurück und findet mit Putins Russland einen neuen Kooperationspartner. Doch Theaterdonner und Symbolpolitik seitens der Europäer sind nicht hilfreich; nur konkrete Verhandlungen und gemeinsame Interessen ebnen den Weg in die Zukunft.
Vielleicht lässt sich das Drama im Verhältnis der Türkei zu ihren europäischen Verbündeten an dieser Meldung am besten erklären: 40 türkische Offiziere haben in Deutschland um Asyl gebeten. Das heißt: 40 NATO-Soldaten fliehen von einem Mitgliedsstaat der Allianz in ein anderes, weil sie sich im eigenen Land nicht mehr geschützt fühlen. Ihre Flucht zeigt, was die beiden NATO-Verbündeten trennt: Rache oder Rechtsstaat. Die Türkei fordert von Deutschland die sofortige Auslieferung, damit von der Regierung bestellte Richter den Soldaten kurzen Prozess machen. In Berlin lässt die Bundesregierung, wie es in einer Demokratie üblich ist, die Gerichte vor sich hin mahlen, die Asylanträge werden geprüft. Das kann dauern.
Als Bundeskanzlerin Angela Merkel Anfang Februar die Türkei besuchte, war diese Asylkrise nur eine von vielen Streitigkeiten, die zwischen Deutschland und der Türkei stehen. Schaut man sich die lange Liste an, fragt man sich schon, in welchen Bereichen die Türkei unter Präsident Recep Tayyip Erdogan eigentlich noch ruhigen Gewissens „Verbündeter“ zu nennen ist – bei den Werten, beim EU-Beitrittsverfahren, im Krieg gegen den Terror, bei den Flüchtlingen?
In der deutschen Berichterstattung über die Türkei dominieren seit Jahrzehnten Nachrichten, die das Land als Unrechtsstaat mit Kurdenkrieg und Putschkrisen dastehen ließen. Das lag auch daran, dass Berichte über die erfreulichere Normalität eher langweilig waren. Aber diese Normalität war Wirklichkeit. Die Türkei war bis 2016 eine parlamentarische Demokratie, sie hielt seit 1950 freie Wahlen mit konkurrierenden Parteien ab, die sich schön demokratisch an der Regierung abwechselten. Sie hatte relativ freie Medien, in denen beredte Bürger offen streiten konnten. An den Universitäten herrschte freier Diskurs.
Diese Normalität war immer wieder unterbrochen von Staatsstreichen der Armee, von übergriffigen Premierministern, die ihre Grenzen nicht kannten, von radikalsäkularen Offizieren, die sogar einen Premierminister hinrichteten. Aber das Land blieb, was es seit 1950 war: eine fehlerhafte, sich ständig neu erfindende parlamentarische Demokratie.
Das ist seit 2016 vorbei. Auf einen Putschversuch von Generälen im Juli 2016 folgte die bereits seit Längerem geplante Machtausweitung des Präsidenten. Zunächst regierte er in einem institutionalisierten Ausnahmezustand. Er ließ Kritiker inhaftieren. Intellektuelle traten fortan weniger in Talkshows auf, sondern eher im Gefängnishof. Im Januar 2016 schaffte das Parlament die parlamentarische Demokratie praktisch ab und verabschiedete mit den Stimmen der Regierungspartei AKP und der nationalistischen MHP ein autoritäres Präsidialsystem mit demokratischer Restdekoration. Das Parlament als Zentrum der Macht wird es danach nicht mehr geben. Die Abgeordneten werden künftig die Rolle der Beifallsspender präsidialen Handelns spielen. Im April soll das Volk die neue Verfassung absegnen.
Kommt es zu diesem Systemwechsel, ist ein Beitritt zur EU in absehbarer Zeit ausgeschlossen. Die Türkei verabschiedet sich von den Werten Europas, von der Grundlage der Kopenhagener Kriterien. Sie bricht aber auch mit den prowestlichen Werten, die sich die türkische Republik selbst gegeben hatte. Aus dem laizistischen Staat, den Mustafa Kemal Atatürk 1923 gegründet hatte und der sich ab 1950 zu einer Demokratie entwickelte, wird ein autoritär-religiöses System mit plebiszitären Elementen. Wie die EU intern mit autoritär-populistischen Regierungen ungarischen Typs umgeht, denen die Werte der Gemeinschaft egal sind, ist noch ungeklärt. Doch eine autoritäre Türkei unter Präsident Erdogan wird sicherlich nicht EU-Mitglied werden. Erdogan selbst will es nicht, eine Mehrheit der Türken zeigt kein Interesse, und eine Mehrheit der Europäer ist dagegen.
Langfristig kann sich alles jedoch ändern, weshalb die von Türkei-Gegnern in der CSU und im Europäischen Parlament vorgetragene Forderung nach einem Abbruch der Beitrittsgespräche grundfalsch ist. Es reicht vollkommen, wenn die Gespräche ruhen und neue Kapitel so lange nicht eröffnet werden, wie die Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Weder Abbruch noch Beschleunigung, sondern Innehalten ist der beste Weg, damit die Türkei nicht vom Gesprächspartner zum Feind der EU wird.
Zerrüttete Ehe
Denn immerhin ist die Türkei noch ein NATO-Land, mit dem die Amerikaner und die Europäer im Krieg gegen die IS-Dschihadisten zusammenarbeiten müssen. Die Betonung liegt auf „müssen“, weil auch diese Kooperation an klare Grenzen stößt. Sie zeigen, wo die Türkei eigentlich schon nicht mehr der Partner des Westens ist. Die westlichen Verbündeten haben ihre Truppen auf der Flughafenbasis Incirlik nahe der syrischen Grenze stationiert. Doch der Einsatz der NATO-Mitglieder in Syrien ist die Geschichte eines langen Streites. Die Türkei hat die IS-Dschihadisten lange Zeit gewähren lassen und Unterstützung über ihr Territorium geduldet. Ankara sieht in den kurdischen YPG-Truppen den schlimmsten Feind, während die Amerikaner zumindest bis Ende 2016 in den Kurden Bodentruppen gegen die IS-Milizen sahen. Die Türken verlangen von den NATO-Verbündeten volle Einsicht in die Erkenntnisse der Aufklärungsflüge. Aber die Alliierten weigern sich, weil sie fürchten, die Türken könnten das Material gegen die Kurden verwenden. Das ist kein Bündnis gegen Terroristen, sondern eine zerrüttete Ehe.
Die Türkei sucht sich ihre Partner längst jenseits der NATO. Sie führt Krieg gegen die kurdische YPG in Syrien, sie versucht gemeinsam mit Russland und dem Iran, einen Waffenstillstand in Syrien zu erreichen. Ankara verhandelt über den Kauf von Waffensystemen aus Russland, die mit NATO-Waffen nicht mehr zusammenpassen. Erdogan liebäugelt mit dem Beitritt zur Schanghai-Organisation. Er glaubt, dass sich EU und NATO mittelfristig von selbst auflösen und es sich nicht mehr lohnt, in diese Bündnisse zu investieren. Nach dem Putschversuch 2016 hat Erdogan einen großen Teil des Offizierskorps säubern lassen, das für die Bindung an die NATO steht. Dem Bündnis fehlen deshalb heute Ansprechpartner im türkischen Militär. Zwischen der NATO und Ankara steht eine Mauer des Misstrauens.
Erdogan setzt seit der Aussöhnung mit seinem Amtskollegen Wladimir Putin im Sommer 2016 auf ein Bündnis mit Russland. Die Türkei ist darin der Juniorpartner und ein Bittsteller, wenn man sich Erdogans Einknicken vor Putin vor Augen führt. Wenn der neue US-Präsident Donald Trump ein Beispiel für die von ihm bevorzugten bilateralen „Transaktions-Beziehungen“ sucht, dann sollte er sich Putin und Erdogan ansehen. Ihr Verhältnis hat sich von der ausgeglichenen Beziehung 2014 über die Krieg-in-Sicht-Krise 2015 in die Beziehung eines Starken mit einem Schwachen verwandelt. Keine solidarische Allianz wie die NATO, sondern ein klassisches Nullsummenspiel, wie Putin es liebt. Erdogan akzeptiert die russische Strategie in Syrien und im Mittleren Osten, er hat seine Außenpolitik in der Region geschreddert – und bekommt dafür freie Hand gegen die syrischen Kurden. Erdogan und Putin arbeiten in Syrien auch militärisch zusammen. Dieser türkische Präsident ist kein verlässlicher Partner mehr für die NATO.
Gemeinsame Interessen verfolgen
Während sich die institutionellen Bande der Türkei mit Europa und den USA aufzulösen drohen, gibt es seit März 2016 jedoch das Flüchtlingsabkommen mit der EU. An dieser Übereinkunft arbeiten sich seither viele Menschenrechtsgruppen, türkische und europäische Oppositionspolitiker ab. Sie kritisieren das Abkommen als zynisch und gegen die Flüchtlinge gerichtet; sie werfen Bundeskanzlerin Angela Merkel vor, dass sie sich mit dem Abkommen von Präsident Erdogan abhängig gemacht habe.
Das ist ein Irrtum. Die Ironie der Übereinkunft ist, dass viele darüber schimpfen und noch mehr ihr Scheitern voraussagen. Aber das Flüchtlingsabkommen hält und straft alle Spötter Lügen. Das liegt daran, dass es die Interessen beider Seiten bestens bedient. Erdogan macht eine eiskalte Rechnung auf: Vor dem Abkommen war die Türkei ein Schleuserparadies, eine zugige Bahnhofshalle für Migranten aus aller Welt, syrische Kurden und Araber auf dem Weg nach Europa. Die Risiken waren hoch, weil die Türkei nicht mehr kontrollieren konnte, wer überhaupt ins Land kam und wer blieb. Mit diesen Menschen war Ankara auf sich allein gestellt, organisatorisch und finanziell.
Mit dem Flüchtlingsabkommen haben sich die Dinge geändert. Der Migrationsdruck auf die Türkei hat nachgelassen, die Zahl der Durchwanderer in den Großstädten sinkt, die Flughäfen sind keine Flüchtlingsdrehscheibe mehr. Und in der türkischen Wirtschaftskrise sind die Milliardenbeträge aus der EU für die Flüchtlinge hochwillkommen. Zumal Brüssel nicht bis ins Detail kontrollieren kann, wie Erdogan das Geld ausgibt.
Der Präsident hat mit dem Abkommen außerdem ein scheinbares Druckmittel gegenüber der EU. Er kann vor heimischem Publikum Stärke markieren und regelmäßig mit der Aufkündigung drohen. Das kommt in der Türkei gut an, auch wenn die Drohung in der EU kaum jemanden erschüttert. Die EU und Merkel sind längst nicht mehr so erpressbar wie noch 2015. Der Weg über Südosteuropa ist erheblich erschwert. Die Zahl der ertrunkenen Flüchtlinge in der Ägäis ist von Tausenden auf beinahe Null zurückgegangen. Das Dublin-Abkommen hat wieder seine Gültigkeit, Berlin schickt Flüchtlinge nach Griechenland zurück. Würde Erdogan die Schleuser an der Ägäis wieder machen lassen, entstünde aller Voraussicht nach erst einmal ein neues, von Flüchtlingen überfülltes Idomeni an der griechisch-makedonischen Grenze, aber keine europaweite Flüchtlingskrise. Da Erdogan aber trotz allen Unkens die Abmachung respektiert, zeichnet sich für Deutsche, Niederländer und Franzosen bisher keine Krise im wichtigen Wahljahr 2017 ab.
Das Flüchtlingsabkommen weist einen Weg, wie die EU in Zukunft mit der Türkei umgehen kann. Wenn es im Interesse beider Seiten ist, lassen sich mit Ankara Vereinbarungen schließen. Wer genau hinsieht, findet reichlich gemeinsame Interessen. Die Türkei möchte Visaerleichterungen, Europa will die Flüchtlingsregelung. Die Wirtschaft beider Länder wünscht die Fortsetzung und den Ausbau der Handelsbeziehungen. Die Türkei möchte, dass europäische Unternehmen weiter investieren. An der Erhaltung des Atomabkommens mit dem Iran haben Europa und die Türkei Interesse. Ein Terrorproblem gibt es in Europa und noch viel mehr in der Türkei. „Let’s make a deal.“
Wenn die EU künftig mit Erdogan so kühl verhandelt wie Putin oder Trump, wird sich das Verhältnis schon deshalb entspannen, weil die Emotionen verschwinden. Wer voneinander nicht mehr erwartet als den nackten Deal, ärgert sich weniger. Dazu gehört der Verzicht auf Theaterdonner und Symbolpolitik. Ein krachender Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen würde am derzeitigen Stand der Beziehungen nichts ändern, aber reichlich schlechte Laune verbreiten. Ein Rauswurf der Türkei aus der NATO würde Erdogans Zusammenarbeit mit Putin nicht stoppen, aber die Frage über den Zusammenhalt der NATO aufwerfen. Die NATO hat der Putsch-Türkei 1960, 1971, 1980 und 1998 nicht die Tür gewiesen, sie hat mit dem Putsch-Griechenland von 1967 bis 1974 gelebt, und sie muss heute wegen Erdogan nicht die Nerven verlieren.
Doch würde die EU bei Abmachungen mit Erdogan nicht die verfolgten Oppositionellen verraten? Drehen wir die Frage doch mal um. Was hat die EU in den vergangenen Monaten für die Inhaftierten erreicht? Nichts. Alle Appelle, alle Kritik, alle Empörung aus der EU haben die Position der türkischen Regierung nur noch verhärtet. Die neue Logik in Ankara ist: Wenn die EU öffentlich die Freilassung eines inhaftierten Journalisten oder Oppositionellen fordert, dann sitzt der einfach noch länger. Die EU kennt diesen Mechanismus aus Ländern wie Iran und Saudi-Arabien.
Wichtiger als öffentliche Deklarationen sind die stillen Abmachungen mit der Regierung. Die EU sollte lieber konkret über die Freilassung von Inhaftierten verhandeln und im Gegenzug etwas anbieten. Sie sollte geflüchteten und freigelassenen Türken Stipendien und Unterstützung anbieten. Sie sollte durch Lockerung der Visaregeln, Jugendaustausch und ständige Begegnungen die Abschottung durchkreuzen. Und sie sollte der Hälfte der Türken, die nicht Erdogan wählen, signalisieren: „Wir brechen die Brücken der Türkei nach Westen nicht ab, weder die EU-Beitrittsverhandlungen noch die NATO-Beziehung.“
Das Erdogan-System ist so stark auf seine Person zugeschnitten, dass es ihn nicht überleben wird. Also ist Europa mit Erdogan nur für eine begrenzte Zeit im Geschäft. Die Türkei und die Türken aber bleiben Teil der NATO und Beitrittskandidat der EU.
Michael Thumann ist außenpolitischer Korrespondent in der Hauptstadtredaktion der ZEIT, für die er bis 2013 aus Istanbul berichtet hat.
Internationale Politik 2, März/April 2017, S. 71-75