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01. März 2010

Neue Eliten, altes Spiel

Der anatolische Mittelstand drängt auf politische Macht

Im Machtkampf zwischen anatolischen Aufsteigern und kemalistischem Establishment geht es nicht um Religion, sondern um die Kontrolle der republikanischen Institutionen. Doch anstatt ihre Reformversprechen einzulösen und das Demokratiedefizit zu beseitigen, findet die AKP-Regierung allmählich Gefallen am türkischen Zentralismus.

Kayseri, der Geburtsort des türkischen Präsidenten Abdullah Gül, ist eine der ältesten Städte der Türkei. Von den Jahrhunderten geschwärzt stehen im Zentrum die berühmte Sahabiye-Medrese und eine massive Seldschuken-Festung. Doch davon abgesehen ist Kayseri brandneu, die Spuren der Vergangenheit sind weitgehend beseitigt. Nirgends zeigen sich die tiefgreifenden Umwälzungen der vergangenen 30 Jahre in Zentralanatolien deutlicher als hier. Bagger tragen alte Siedlungen ab. Der neue Busbahnhof ist ein verwegenes Experiment aus Glas, Plastik und Beton. Dahinter beginnt ein riesiges Industriegebiet – 2004 wurden dort an nur einem einzigen Tag 139 Fabriken errichtet.

In den sechziger und siebziger Jahren gedieh in Zentralanatolien unter dem Schutzschirm nationaler Importzölle die türkische Textilindustrie. Der endgültige Durchbruch kam später, während der Amtszeit von Premierminister Turgut Özal, einem ehemaligen Weltbank-Mann und gläubigen Muslim. Nachdem Özal die türkische Wirtschaft für den Weltmarkt geöffnet hatte, florierte in den späten achtziger und in den neunziger Jahren die anatolische Mittelschicht. Die Zollunion mit der Europäischen Union begünstigte diesen Boom.

Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung begann der gesellschaftliche Aufstieg des anatolischen Mittelstands. Er legte den Grundstein für den heutigen Machtkampf zwischen der regierenden Adalet ve Kalkınma Partısı (AKP) und dem kemalistisch-säkularen Establishment. Oft heißt es, der Machtkampf tobe zwischen Islamisten und Laizisten. Doch tatsächlich geht es nicht um Religion. Es geht um politische Macht, um die Köpfe und Herzen der Bevölkerung und um wirtschaftliche Ressourcen, kurz: um die politische Vorherrschaft in der Türkei im 21. Jahrhundert. Neue Eliten haben sich von der Peripherie bis ins politische Zentrum der Republik hochgearbeitet. Dort konkurrieren sie mit den klassischen kemalistischen Eliten, die den türkischen Staat im 20. Jahrhundert gründeten und aufbauten.

Es wird mit harten Bandagen gekämpft: In regierungsnahen Kreisen verweist man auf zahlreiche Putsche und Putschdrohungen in den vergangenen Jahrzehnten. Der letzte, eher halbherzige Umsturzversuch des Militärs liegt erst zweieinhalb Jahre zurück. Vor Kurzem wurden im Zuge eines großangelegten Ermittlungsverfahrens Hunderte von Verdächtigen wegen Verschwörung gegen die Regierung festgenommen, darunter hochrangige ehemalige Offiziere und Polizeibeamte, Journalisten und Anwälte. Im gegnerischen, regierungskritischen Lager unterstellen linke und nationalistische Politiker der Regierung, sie plane einen „zivilen Putsch“ und die Abschaffung des türkischen Laizismus. Seit acht Jahren regiert Recep Tayyıp Erdogan die Türkei mit absoluter parlamentarischer Mehrheit. Woher rührt sein politischer Erfolg? Wer sind jene anatolischen Unternehmer, die den klassischen Eliten ihr Machtmonopol streitig machen?

Aufstieg der „anatolischen Tiger“

Saffet Arslan ist ein typischer Vertreter der anatolischen Unternehmerschicht. Schon mit 14 Jahren arbeitete der Sohn eines einfachen Teppichmachers aus Kayseri als Schreiner. Bald darauf besaß er eine eigene Schreinerei, eröffnete Zweigstellen und gründete schließlich 1991 die Ipek-Werkstätten. Ipek befriedigte mit großem Erfolg die Nachfrage der türkischen Bevölkerung nach Klappbetten. Seit der Gründung expandiert und exportiert das Unternehmen mit großen Zuwachsraten. Doch Arslan will auch zurückzahlen. Er fördert eine Schule, ein Sportzentrum und finanziert Stipendien für Studenten der Erciyes-Universität in Kayseri. Das Motto des 53-Jährigen lautet: „Arbeite hart, nutze niemanden aus und hilf den Bedürftigen.“ Für Arslan sind Kapitalismus und Glaube kein Widerspruch. Er war auf Pilgerfahrt, doch für seine Gebete nimmt er sich nur an Freitagen Zeit. Seinen Arbeitern erlaubt er, während der Mittagspause in der Fabrik zu beten. Freitags fahren alle gemeinsam in die nur fünf Minuten entfernte Moschee mit hochmoderner Fußbodenheizung.

Kayseris Wirtschaftswunder gründet auf dem Fleiß seiner Bewohner und der Mischung aus Industrie, Hightech und moralischem Anspruch. Zusammen mit Unternehmen in Istanbul und anderen türkischen Großstädten schufen diese gläubigen Geschäftsmänner eine wettbewerbsintensive Industrie, die maßgeblich zur Exportbilanz der Türkei beiträgt. Während der Weltwirtschaftskrise 2009 haben diese kleinen und mittleren Unternehmen erstaunlich wenig gelitten. Einer Untersuchung zufolge verzeichneten zentral- und südanatolische Unternehmen zwar Verluste in der EU. Doch dieses Minus konnten sie durch Exporte nach Ostasien und in den Nahen Osten teilweise ausgleichen. Viele anatolische Unternehmer unterstützen die AKP, einige sind Parteimitglieder. Ihr Blick auf Staat und Gesellschaft ist geschäftsorientiert und pragmatisch. Doch Marktwirtschaft, bürgerliche Freiheiten und Unabhängigkeit reichen ihnen nicht mehr. Seit den neunziger Jahren geht es nicht mehr nur um Wohlstand, sondern auch um politischen Einfluss. Doch wie gelangt man an die Spitze des Staates, ins politische Zentrum? Traditionell lautete die Antwort der anatolischen Mittelschicht: „mit Geld“; die modernere Variante lautet: „mit Geist und Sendung“, also mit Universitäten und den Medien.

Geist und Sendung

Vor zehn Jahren gründeten anatolische Unternehmer in einem Außenbezirk von Istanbul die Fatih-Universität. Inzwischen sind ihre Kinder in der Metropole angekommen. Anders als ihre Kommilitonen an den staatlichen Hochschulen stammen die meisten Studenten nicht aus der urbanen Oberschicht, sondern aus den östlichen Provinzen, aus konservativen Familien, die erwarten, dass es an der der Universität keinen Alkohol und keine Seminare während der Freitagsgebete gibt. Fast alle Geldgeber der Fatih-Universität stehen Fetullah Gülen nahe, einem einflussreichen moderat-konservativen islamischen Prediger. Ihre Absolventen gehen in die Industrie, rund ein Drittel kehrt in das elterliche Unternehmen zurück. Einige treten erfolgreich den Marsch durch die Institutionen an, viele gehen in die Medien.

Jahrzehntelang lag das Meinungsbildungsmonopol in den Händen von Großunternehmern mit engen Verbindungen zum kemalistischen Establishment und zur Regierung. Doch vor rund zehn Jahren änderte sich das. Mit ihrer Auflage von 750 000 erreicht die einflussreiche konservative Tageszeitung Zaman weite Bevölkerungsteile. Zum Zaman-Imperium gehören neben der Tageszeitung eine Nachrichtenagentur, ein Magazin und eine professionell produzierte englischsprachige Ausgabe. Die Herausgeber sind anatolische Unternehmer, auch sie stammen aus dem Umfeld der Gülen-Bewegung. „Glaube, Werte und ein säkularer Staat gehören zusammen“, sagt Chefredakteur Ekrem Dumanli. Zaman plädiert für den EU-Beitritt und weitet seine Geschäfte dorthin aus. In Frankfurt am Main werden täglich 50 000 Exemplare der deutschen Ausgabe aufgelegt. Die englischsprachige Ausgabe wird an ausländische Diplomaten, Wissenschaftler und Journalisten ausgeliefert, die englische Website vor allem in den USA und im muslimischen Malaysia gelesen. Zwar sind die englischsprachigen Publikationen von Zaman ein Verlustgeschäft, doch sie entsprechen einer strategischen Vision: Wann immer die Türkei internationale Schlagzeilen produziert, trägt die Zeitung Zaman ihre spezifische Version des Geschehens in die ganze Welt.

Auch andere Medien sind in den Fokus strategischer Expansion gerückt. Um das Medienkonglomerat um den TV-Sender ATV und die Tageszeitung Sabah wurde jüngst eine Aufsehen erregende Übernahmeschlacht ausgefochten. Für 1,1 Milliarden Dollar kaufte schließlich Çalık Holding ATV Sabah. Çalık Holding mischt in der Textil- und Energieproduktion, im Bau- und Finanzwesen, in der Telekommunikation und in der Medienlandschaft mit. Darin ähnelt der Konzern der Doˇgan Media Group, die vor kurzem unter Beschuss geriet, als die türkische Steuerfahndung ein millionenschweres Ermittlungsverfahren anstrengte. Im Gegensatz zu Doˇgan unterhält Çalık Holding beste Beziehungen zur Regierung, was dem Konzern in den vergangenen Jahren zahlreiche staatliche Großaufträge bescherte.

Muslimische Konsumkultur

Doch nicht nur die Medienlandschaft, sondern der ganze öffentliche Raum hat sich in den vergangenen Jahren dramatisch verändert. Vor allem in Istanbul zeigen die ehemals marginalisierten anatolischen Eliten selbstbewusst Präsenz. Das laizistische Establishment beklagt sich über die wachsende Zahl von Kopftuchträgerinnen in den Straßen. In Wirklichkeit zeigen Erhebungen, dass ihre Zahl zwischen 1999 und 2006 abgenommen hat. Dass die Kopftuchträgerinnen den Laizisten ein Dorn im Auge sind, liegt weniger an ihrer Zahl, sondern vielmehr daran, dass sie zunehmend ihren Platz in der Öffentlichkeit einfordern. Sie gehen aus, sitzen in Cafés und kaufen in Einkaufszentren ein, die ein immer breiter werdendes Sortiment an seidenen Kopftüchern und langen Kleidern führen. An der Mittelmeerküste bieten Hotelressorts gläubigen Touristen alle erdenklichen weltlichen Genüsse, mit Ausnahme von Alkohol. In den vergangenen Jahren entstand eine regelrechte muslimische Konsumkultur.

Angesichts dieser Umbrüche fürchten die klassischen Eliten um ihre privilegierte Stellung. Aus ihrer Sicht gibt es zu dem vor 80 Jahren von Mustafa Kemal Atatürk eingeschlagenen Kurs keine Alternative. Eine von der kemalistischen Tageszeitung Cumhuriyet und linken Laizisten oft propagierte These lautet, dass sich dunkle Mächte in den USA und Europa mit der AKP-Regierung verbündet hätten, um die Türkei in einen zweiten Iran zu verwandeln. Die Angst der alten Eliten vor einem „zivilen Coup“ und vor der Abschaffung der säkularen Demokratie sitzt tief. Sie waren in Schulen, Behörden, Armee und Justiz fest verankert. Sie waren es gewöhnt, das Straßenbild zu bestimmen, sie dominierten Cafés, Theater und Medien. Selbstwahrnehmung und Selbstbewusstsein dieser Gesellschaftsschicht gründen auf ihrer erstklassigen Ausbildung, ihren einflussreichen Posten und einem westlichen Lebensstil.

Heute hat diese Eliten ein allumfassendes Gefühl des Verlusts und des Niedergangs erfasst. Vor allem zwei Entwicklungen liefen ihren Interessen diametral entgegen: die in den fünfziger Jahren einsetzende Landflucht und das wirtschaftliche Liberalisierungsprojekt der achtziger Jahre. Vor allem die Massenmigration veränderte das Erscheinungsbild der türkischen Großstädte radikal. Durch den Zuzug der vermeintlich ungebildeten und unzivilisierten Landbewohner fühlen sich die klassischen Eliten in ihrem westlich-urbanen Lebensstil bedroht. Die Zugezogenen kennen meist den urbanen Verhaltenskodex der westlich-laizistischen Eliten nicht – ihr konservativ-religiöser Lebensstil steht oft im direkten Widerspruch zu diesem Kodex.

Angst vor dem Abstieg

In den Augen von Kemalisten ähneln die AKP und ihre Wählerschaft in vielerlei Hinsicht den kurdischen Migranten aus Ostanatolien. Beide beteiligen sich nicht an dem klassischen Modernisierungsprojekt, das Atatürk begonnen hat, weswegen sie als rückständig gelten. Allerdings ist für die alten Eliten die AKP eine weitaus größere Bedrohung als die Kurden. Denn die gläubigen Muslime bringen ihre Kreise in Behörden, sie fordern eine Aufhebung des Kopftuchverbots an Universitäten und beanspruchen jene öffentlichen Räume, die zuvor die säkularen Eliten und Mittelschicht für sich reserviert hatten. Sie vereinnahmen sogar eben jene Konzepte – Demokratie, Modernität, Westanbindung –, auf die zuvor das säkulare Lager das Monopol beanspruchte.

Es ist kein Zufall, dass es Recep Tayyip Erdogan war, der 2005 die Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union eröffnete. Die Religiösen, klagen die klassischen Eliten, seien in Verwaltungsbehörden und in der Wirtschaft auf dem Vormarsch, regierungsnahe Unternehmen hätten deutlich bessere Erfolgschancen. Es geht, das zeigen diese Befürchtungen deutlich, nicht um Religion. Es ist vielmehr der rasante Aufstieg der anatolischen Unternehmerschicht, der den klassischen Eliten schlaflose Nächte bereitet.

Zudem scheint der erklärte Gegner perfekt organisiert, während das laizistische Lager zutiefst gespalten ist. Der größte Unternehmerverband der Türkei, TÜSIAD, ist unschlüssig, ob er die Regierung wegen ihrer Unterstützung der religiösen Unternehmer ablehnen oder ihr wegen ihrer liberalen Wirtschaftspolitik applaudieren soll. Bisher sind die Laizisten nicht in der Lage, sich zu einer breiten Opposition zusammenzuschließen, sondern sind gespalten: in die nationalistischen Isolationisten der CHP und die aufgeschlossenen Globalisierungsbefürworter des TÜSIAD. Zwar ist die  Cumhuriyet Halk Partisi (CHP)), die sozialdemokratische Partei der Türkei, stärkste Oppositionspartei. Doch um die Belange der unteren sozialen Schichten kümmert sie sich kaum. Sie ist stattdessen zu einem Sammelbecken für nationalistische und antiwestliche Positionen geworden. Während manche im laizistischen Lager die Türkei nach Europa bringen wollen, verabscheuen andere die Europäische Union wegen ihrer Minderheitenpolitik und stillschweigenden Unterstützung der AKP-Regierung. So lehnen viele Laizisten westliche Standards und die im Rahmen des Beitrittsprozesses geforderten Gesetzesreformen ab, obwohl sie gleichzeitig reklamieren, die Fackelträger der türkischen Westbindung zu sein.

Der lange Marsch ins Zentrum

Nach gängigen Maßstäben und vor dem Hintergrund der Geschichte der islamistischen Bewegungen seit Gründung der Muslimbruderschaft 1928 ist die AKP keine islamistische Partei. Sie ist ein Sammelbecken für konservativ-religiöse Kräfte, Nationalisten, liberale Reformer und gläubige Unternehmer. Um diese verschiedenen Fraktionen unter einem Dach zu vereinen, fährt die AKP-Führung einen pragmatischen Kurs; negativ ausgedrückt kann man auch von einem Zickzack-Kurs sprechen – was ein Grund dafür ist, dass viele Reformvorhaben schleppend und unvollständig umgesetzt werden. In den Kommunalwahlen vom März 2009 zeigte sich, dass die AKP vor allem die Partei der anatolischen Mittelschicht ist. Ihre größten Erfolge feierte sie in Zentralanatolien; in den mediterranen Regionen im Südwesten und kurdischen Provinzen im Osten dagegen unterlag sie, weil es ihr nicht gelang, die unteren Wählerschichten zu mobilisieren.

Konkurrenz kommt auch von anderer Seite. Die aufstrebende islamistische Glückseligkeitspartei (Saadet Partisi/SP) konnte bei den Kommunalwahlen immerhin rund fünf Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinen. Ihr charismatischer Parteivorsitzender Numan Kurtulmus und seine potenzielle Wählerschaft von bis zu acht Prozent – das entspricht ungefähr der Zahl der Türken, die sich für die Einführung der Scharia aussprechen – bereiten der AKP-Führung Kopfzerbrechen.

Erdogans bisherige Amtszeit lässt sich in zwei Phasen unterteilen. In der Reformperiode zwischen 2003 und 2005 setzte die Regierung mehrere Reformpakete durch: Sie reformierte das Strafrecht und das Bürgerliche Gesetzbuch und drängte vor allem den Einfluss des Militärs auf die Politik schrittweise zurück. Die zweite Phase war geprägt von einem erbitterten Machtkampf, der 2007 in der Auseinandersetzung um die Wahl zum Staatspräsidenten und der kaum verhohlenen Putschdrohung des Militärs seinen ersten Höhepunkt fand. Im Folgejahr strengte das laizistisch dominierte Verfassungsgericht ein Parteiverbotsverfahren gegen die AKP an. Auch das Ermittlungsverfahren gegen das ultranationalistische Ergenekon-Netzwerk, zu dem auch hochrangige ehemalige Militärs gehören, ist eine weitere Arena für den Machtkampf der Eliten.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Erdogan im Laufe seiner Amtszeit immer mehr Positionen des türkischen Zentralstaats übernommen hat. Er steht zunehmend für den Status quo. Deutlich wird das beim Umgang mit der PKK, in Erdogans Konflikten mit freien Medien, aber auch in seiner Politik gegenüber der griechischen Minderheit und im Ägäis-Konflikt. Mit seiner emotionalen und apodiktischen Rhetorik erweckt er oft den Eindruck eines starken Mannes, der keinerlei Kritik verträgt. Er trifft sich regelmäßig mit dem Generalstabschef des Militärs und verteidigte ihn sogar mehrmals gegen heftige Attacken des CHP-Vorsitzenden Deniz Baykal. Keine Frage: Recep Tayyip Erdogan, der Mann aus der anatolischen Peripherie, ist im Machtzentrum der Republik angekommen.

Von den Höhen des Premierministeramts in Ankara nimmt sich die Türkei trotz ihrer hohen Gebirge sehr flach aus. Die Behörden des extrem zentralistischen Staatsapparats in Ankara bestimmen noch im letzten abgelegenen Bergdorf den Dorfschullehrer oder legen die Preise für Haselnüsse fest. Erdogan und seine Mitstreiter haben lange für eine Abkehr vom Zentralismus gekämpft, doch nun, da sie selbst an der Regierung sind, haben sie offenbar Geschmack daran gefunden. Als Präsident verfügt Abdullah Gül über weitreichende Hebel; er ernannte den Präsidenten des YÖK, der mächtigen Universitäts-Aufsichtsbehörde, die ein wichtiges Werkzeug für die Ausbildung der türkischen Verwaltungs- und Wirtschaftskader ist. Noch weitreichender wird Güls Personalentscheidung 2010 sein: drei neue Verfassungsrichter stehen zur Ernennung an.

Schlag gegen das System

Nach dem kemalistischen Ideal huldigt die türkische Verfassung einer merkwürdigen Gewaltentrennung: Während die Regierung vom Volk gewählt wurde, sollten das Präsidentenamt, das sakrosankte Militär, das Verfassungsgericht und andere zentrale republikanische Institutionen in den Händen der kemalistischen Eliten bleiben. Staatsbürokratie, Militär und Justiz sollten, so die Vorstellung des laizistischen Establishments, wenn nötig als Opposition zur Regierung fungieren. Als Gül 2007 für das Präsidentenamt kandidierte, geriet dieses Arrangement vollkommen durcheinander. Die Ernennung des Kandidaten der Mehrheitspartei, in westlichen Demokratien ein völlig normaler Vorgang, war für das kemalistische Establishment ein Schlag gegen das türkische System. Die türkische Verfassung entstand in den frühen achtziger Jahren unter der Ägide des Militärs, und viele Verfassungsänderungen erfolgten in demselben Geiste. Erdogan hat oft von der Notwendigkeit einer Verfassungsreform gesprochen, doch erreicht hat er in dieser Richtung wenig. In vielen Paragraphen und Institutionen ist nach wie vor die Saat des Autoritarismus angelegt.

Deutlicher noch wird das Demokratiedefizit in der Provinz. Zwar verabschiedete die AKP 2004 ein Gesetz, nach dem die türkischen Provinzen zumindest auf dem Papier mehr Befugnisse erhalten. Doch die Städte und Bezirke haben keine ausreichenden Einkommensquellen, um diesen Rechten und Pflichten gerecht zu werden. Weder die kurdischen Provinzen im Osten noch die reicheren Westprovinzen, einschließlich der laizistischen Festung Izmir, in der die CHP traditionell eine Mehrheit hat, haben in Ankara einflussreiche Interessensvertretungen. Zwischen Staatsspitze und Peripherie gibt es keinerlei wirkliche Gewaltenteilung. Die Provinzen werden nicht an gesamttürkischen Entscheidungsprozessen beteiligt, und es gibt keine Institution, die eine solche Beteiligung ermöglicht. Dass die Kommunen und Städte von der politischen Partizipation de facto ausgeschlossen sind, ist das größte Hindernis auf dem Weg zu einer echten Demokratie.

Das laizistisch-kemalistische Establishment behauptet oft, die AKP betreibe unter dem Deckmantel der Demokratisierung in Wahrheit die Islamisierung der Republik. Dafür gibt es jedoch keine Beweise. Vielmehr sind der Aufstieg der anatolischen Mittelschicht und die Entstehung einer gläubigen politischen Elite das Ergebnis einer gesellschaftlichen Umwälzung, die schwerwiegende Mängel im türkischen politischen System bloßlegt. Es spricht einiges dafür, dass die AKP sich schrittweise an die zentralistischen Strukturen des türkischen Staates anpasst. Ihr Selbstbewusstsein rührt auch aus der Stärke der Institutionen, welche die Kemalisten einst zur Zementierung ihrer Macht geschaffen haben. Diese 1980 nach dem Putsch geschaffenen Institutionen versagen vor den gesellschaftlichen Veränderungen und dem Ringen neuer und alter Interessengruppen um die politische Macht.

Innerhalb von vier Jahrzehnten erlebte die Türkei vier Putsche der Armee, mit denen die kemalistische Ordnung wieder hergestellt werden sollte. Doch die Zustimmung in der Bevölkerung zu solchen Militärinterventionen hat sich drastisch verringert. Alles deutet darauf hin, dass der Machtkampf der kemalistischen Eliten gegen die Regierung zu permanentem Reformstau und anschließender Destabilisierung der Türkei führen wird. Die panische Angst der klassischen Eliten um ihre Privilegien und die Geschwindigkeit, mit der die neuen Eliten die schlechten alten republikanischen Spielregeln lernen, verheißen für die türkische Demokratie nichts Gutes. Die Türkei braucht eine tiefgreifende Verfassungsreform, die auf Dezentralisierung und Demokratisierung zugleich abzielt. Eine Neuverteilung der Macht, vor allem zwischen Zentrum und Peripherie, ist längst überfällig. Sowohl die AKP und das türkische Parlament als auch die EU sollten diese Reformen vernehmlich und nachdrücklich einfordern.

MICHAEL RÜHLE ist stellv. Leiter der Politischen Planungseinheit im Kabinett des NATO-Generalsekretärs. Er gibt hier seine eigene Meinung wieder.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2011, S. 54 - 61

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