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01. Nov. 2010

Auf dem Altar des Betonismus

Brief aus … Istanbul

Ein Istanbuler Freund war völlig aufgelöst. Ob ich von dem Überfall gehört hätte? Im Stadtteil Tophane, mitten in der Innenstadt, überfielen drei Dutzend Schläger eine Galerie. Mein Freund besuchte eine Vernissage, als die Knüppeltruppe den engen Ausstellungskorridor versperrte und auf die Gäste eindrosch. Die Polizei kam zu spät. Er selbst entkam im Gewühl und suchte das Weite.

Die europäische Kulturhauptstadt hatte ihren Skandal. Sofort stritten die Türken, wer dahinter stand. Konservative Medien verdächtigten ein Terrornetzwerk von Militärs und Radikalsäkularen. Laizistische Zeitungen behaupteten, in der Galerie hätten Islamisten ein Exempel statuiert, weil die Gäste Alkohol tranken. Ich versuche, mir selbst ein Bild zu machen. Die Gassen von Tophane: Treppen hoch und runter, löchriger Asphalt und schmucklose, graue Häuser. Eine Frau mit Kopftuch lässt aus dem Fenster einen Korb herunter, ein Bote vom Krämerladen legt Milch und Weißkäse hinein. Die Leute fragen mich, was ich in Tophane suche. Ob ich ein Haus, eine Wohnung kaufen wolle.

Das Thema weckt bei den einen Hoffnung, bei den anderen Angst: Die Kulturhauptstadt Istanbul ist nach dem Ende der Krise 2009 wieder die Metropole der Immobilienspekulation. Ganze Viertel werden umgepflügt, Häuser abgerissen, Tagelöhner und Flüchtlinge verdrängt. Bordelle machen Boutiquehotels Platz, die Spelunken den Shopping Malls. Die Bewohner von Tophane sehen sich als Opfer von Eindringlingen. Niemand, mit dem ich spreche, verteidigt das brutale Einprügeln auf die Galeriegäste vor wenigen Tagen, aber die Botschaft der Prügelei ist nicht ganz unwillkommen: „Bleibt bloß weg!“

Die Istanbuler Stadtverwaltung hat für die „Aufwertung“ der Innenstadt zwei Strategien entwickelt: ranpirschen, einkreisen und umkrempeln wie in Tophane. Oder mit dem Bulldozer gleich in die Mitte des Viertels vordringen. Diese Schocktherapie ist im Innenstadtteil Tarlabasi geplant, fünf Schritte von der schicken Einkaufsmeile Istiklal entfernt. Es ist die dunkle Rückseite von Istanbul. Aus den Treppenhäusern und Kellerfenstern von Tarlabasi riecht es nach verfaultem Obst, Urin, Katzendreck und Mottenkugeln. Wäscheleinen hängen quer über die Straße. Köfteverkäufer stehen am Kantstein. Daneben spielen Kinder Fußball. Gebäuderuinen stehen neben klassizistischen Häusern, orthodoxe Kirchen neben Autowerkstätten. Tarlabasi ist voll von Geschichte und Geschichten. Hier lebten bis in die siebziger Jahre viele Griechen und Armenier. Ein Pogrom türkischer Nationalisten und staatliche Diskriminierung verdrängten sie. Ab den Siebzigern kamen Kurden in das Viertel, später Flüchtlinge aus Afrika. Sie müssen nun weichen.

Ende September begann die Firma GAP Insaat, leere Häuser mit riesigen Baggern abzuräumen. GAP Insaat hat einen Hochglanzkatalog, in dem die schöne neue Welt von Tarlabasi zu betrachten ist. Statt bröckelnder Fassaden funkelnde Neubauten mit aufgesetzten klassizistischen Applikationen, statt schlichtem Stuck überladene Fantasie-Fassaden. Wer darf dermaßen in den historisch gewachsenen Organismus von Istanbul eingreifen?

GAP Insaat gehört zur Calik-Holding, die unter der Regierungspartei AKP zum mächtigen Mischkonzern gewachsen ist. Ahmet Calik ist ein guter Freund von Premier Recep Tayyip Erdogan. Das hilft. Zumal der Schwiegersohn des AKP-Ministerpräsidenten zum Vorstand der Calik-Holding gehört. Die AKP wird oft als religiöse Partei missverstanden, die die Türkei schleichend in den Islamismus führe. Tatsächlich huldigt die pragmatisch-konservative Partei, die das Wort „Entwicklung“ sogar im Namen trägt, vor allem einer Ideologie: dem „Betonismus“. Unter Erdogan wird so viel gebaut wie selten zuvor. Das Land ist einer radikalen Umwälzung unterworfen, die die Wirtschaft blühen und viele Modernisierungsverlierer zurück lässt. In Naturschutzgebieten entstehen Kraftwerke, historische Städte werden Staudämmen geopfert, alte Stadtteile den Immobilienfirmen.

Vor wenigen Jahren verabschiedete die AKP-Regierung ein „Stadterneuerungsgesetz“, das den Verwaltungen erlaubt, ganze Viertel gegen den Willen der Eigentümer umzukrempeln. Erdogan hat dem Istanbuler Bürgermeister versprochen, ihm jeden Erlass und jedes Gesetz zu beschaffen, die er für den Stadtumbau braucht.

In Tarlabasi werden nun nach den Griechen und Armeniern auch die Kurden und Roma vertrieben, die Teejungen und Prostituierten, die Köfteverkäufer und Schuhputzer. All jene, die in den Touristenvierteln von Istanbul ihre Dienste verrichten und auf der dunklen Rückseite der leuchtenden Boulevards leben. Bisher noch in Fußweite. Sie werden sich die neuen Mieten nicht mehr leisten können, denn Sozialwohnungen sind nicht geplant. Sie werden irgendwo in den Slums am Stadtrand eine neue Bleibe finden.

Die Kulturhauptstadt fegt aus. Inszenierte Kultur verdrängt die Kiezkultur. Und damit verändert sich meine Stadt. Mein Freund, der in Tophane fast verprügelt wurde, will sich in der nächsten Zeit mehr mit Kiezkultur beschäftigen. Solange es sie im alten Istanbul noch gibt.

MICHAEL THUMANN leitet das Mittelost-Büro der ZEIT in Istanbul.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2010, S. 126-127

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