Abschied von Amerika?
Warum die USA Führungsmacht bleiben: Ein transatlantischer Austausch zur Wahl
Von: Jan Techau An: Karl Kaiser Gesendet am 16.10.2008
Sehr geehrter Herr Kaiser,
in den letzten Monaten hat sich die ohnehin nicht gerade einfache welt-politische Grundkonstellation noch einmal erheblich verkompliziert: Die Finanzkrise scheint einem wichtigen Eckpfeiler der Globalisierung das Fundament zu entziehen, erschüttert Amerikas Rolle als Anker der Weltordnung und wird kaum abschätzbare Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung zahlreicher Länder und Regionen haben. Gleichzeitig hat Russland mit einem Paukenschlag die klassische Machtpolitik des 19. Jahrhunderts wieder nach Europa und auch ins transatlantische Verhältnis gebracht und damit dem Westen seine Machtlosigkeit vor Augen geführt. Unterdessen laufen im Hintergrund die Dauerkrisen in Nahost, mit Iran und in Afghanistan weiter, von Irak nicht zu sprechen.
Die EU hat zwar punktuell Handlungsfähigkeit in der Not (Georgien, Finanzkrise) bewiesen, wird aber weitgehend als unsicherer Kantonist wahrgenommen. Vor diesem Hintergrund bereitet sich Deutschland auf einen Bundestagswahlkampf vor, der hauptsächlich zwischen den beiden tragenden Säulen der Regierungskoalition ausgetragen werden wird und für die außenpolitische Handlungsfähigkeit des Landes nichts Gutes verheißt. Just zu dem Zeitpunkt, an dem ein neuer US-Präsident versuchen wird, neuen Schwung in die transatlantischen Verhältnisse zu bringen, wird Deutschland hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt sein.
Wenn Sie dem von außenpolitischen Entwicklungen so abhängigen Deutschland den Ernst der Lage erklären sollten, wo würden Sie die Prioritäten setzen? Welche Rolle kann das Land, kann Europa in der sich neu formierenden Weltordnung spielen? Oder ist Deutschland besser aufgestellt, als es mir den Anschein hat? Vielleicht hilft uns ein deutscher Blick von der anderen Seite des Atlantiks.
Herzlich, Ihr Jan Techau
Von: Karl Kaiser An: Jan Techau Gesendet am 19.10.2008 Thema: Tiefgreifende Revision
Lieber Herr Techau,
verständlicherweise macht es kundigen Deutschen und Europäern Sorge, wie sich die übliche Selbstbeschäftigung in einem Bundestagswahlkampf und die Entscheidungsblockaden der EU der 27 auf die internationale Politik auswirken. Es geht aber um mehr als die von Ihnen angesprochene „Verkomplizierung“ weltpolitischer Grundkonstellationen. Was jetzt ansteht, ist eine tiefgreifende Revision jener Regeln und Institutionen, die weder der gewachsenen Interdependenz der -globalisierten Welt noch den machpolitischen Realitäten und sicherheitspolitischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts entsprechen.
Sie stehen mit Ihrer Frage, ob die derzeitigen Entwicklungen die Rolle Amerikas als Anker der Weltordnung geschwächt haben, nicht allein. Auch Amerikaner stellen sie. Eine rücksichtslose Politik der Umverteilung nach oben, der Verschuldung des Staates, der Deregulierung und der Vernachlässigung der Infrastruktur haben die USA geschwächt. Dennoch bleiben sie auf Jahre die Macht mit dem größten wirtschaftlichen, außenpolitischen und militärischen Potenzial sowie – trotz der Verirrungen der Bush-Administration – die Führungsmacht der westlichen Demokratien. Daher ist die Kooperation Deutschlands und Europas mit Amerika Kern und Voraussetzung einer erfolgreichen Revision der Weltordnung.
Am Anfang steht hier die Reform der Bretton-Woods-Institutionen. Für Deutschland sollte in dieser Hinsicht das Gebot gelten: „So (EU-) europäisch wie möglich, so effizient wie nötig“, auch wenn dies bedeutet, dass die großen Drei (Deutschland, Frankreich, Großbritannien) gegebenenfalls allein handeln, wenn die 27 EU-Mitglieder notwendige Maßnahmen blockieren.
Auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik bedeutet dies einen größeren Beitrag Deutschlands und der EU zur Stabilisierung Afghanistans, und zwar sowohl mit erheblich erweiterten zivilen Mitteln als auch mit Truppen, die umfassend einsetzbar sind, also auch für Kampfmissionen. Der nächste amerikanische Präsident wird in jedem Falle einen solchen Beitrag einfordern, und die beiden Partner der Großen Koalition wären gut beraten, vor Eintritt in den Bundestagswahlkampf einen Pakt zu schließen, jenen Populisten in Deutschland gemeinsam entgegenzutreten, die sich der Einsicht verweigern, dass ein Angriff der Taliban in Berlin oder Frankfurt ein Problem für Deutschland ist, zu dessen Bewältigung es selbst beitragen muss.
Darüber hinaus gibt es andere Problembereiche, wo der Beitrag Europas in den USA geschätzt und von einer neuen Administration sicher auch eingefordert würde – namentlich bei der Verhinderung einer iranischen Nuklearwaffe, bei der Einbeziehung Russlands in Bemühungen um eine neue Weltordnung und bei einer Beteiligung zur Befriedung des israelisch-palästinensischen Konflikts. Europas Rolle ist hier weitaus gewichtiger als es die Europäer einschließlich der Deutschen sehen.
Herzlich, Ihr Karl Kaiser
Von: Jan Techau An: Karl Kaiser Gesendet am 20.10.2008 Thema: Managing Decline?
Lieber Herr Kaiser,
eine neue Weltordnung also! Besonders bemerkenswert finde ich, dass Sie die Reform der Bretton-Woods-Institutionen an die vorderste Stelle setzen. Angesichts der veränderten weltwirtschaftlichen Gewichte wird dies aber kein einfaches Integrieren der aufstrebenden Wirtschaftsmächte in bestehende, westlich dominierte Strukturen sein, sondern eher eine grundlegende Neukonstruktion von Währungsfonds und Weltbank. Einige asiatische Staaten, allen voran China, verfügen längst über so große Reserven, dass sie schon jetzt in der Lage sind, außerhalb der bestehenden Ordnung weltweit als eigenständiger Akteur aufzutreten – und dies auch tun. Dass die dabei exportierten Ordnungsmodelle nicht zwangsläufig unseren Vorstellungen von nachhaltiger Entwicklung und liberaler Reform entsprechen, liegt auf der Hand. Die entscheidende Frage ist also, wie viel Durchsetzungskraft der Westen noch hat, der neuen Ordnung eine entscheidende Prägung zu geben.
Doch nicht nur bei der Frage der Bretton-Woods-Institutionen stellt sich diese Frage nach der Durchsetzungskraft des Westens. Überall scheint seine Gestaltungsmacht an Grenzen zu stoßen. Nehmen wir nur drei prioritäre politische Ziele des Westens: Iran, Afghanistan und Russland.
Im Verhältnis zum Iran zeigt der Westen nicht genügend Führung, um eine weltweite Sanktionsfront gegen die Atompläne der Mullahs zu bilden. Und dies, obwohl die Vereinten Nationen mehrfach klar Stellung gegen den Iran bezogen haben. Wenn aber die diplomatischen Bemühungen nicht fruchten, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten: militärische Maßnahmen oder das Gewährenlassen Teherans.
Auch in Afghanistan hat es den Anschein, als müsste der Westen von seinem ursprünglichen Gestaltungsanspruch Abstand nehmen. Kaum mehr verschämt wird davon gesprochen, dass die Demokratisierung dort nicht gelingen kann und man stattdessen auf einen „akzeptablen Diktator“ setzen sollte. Ich begrüße den neuen Realismus, aber solchermaßen korrigierte Ziele senden nicht gerade ein Zeichen der Stärke.
Und im Falle Russlands sind dem Westen die Grenzen seiner Einflussmöglichkeiten besonders brutal aufgezeigt worden. In Georgien waren sowohl den Europäern als auch den Amerikanern die Hände gebunden. Eine Verteidigung Georgiens wäre militärisch und politisch unmöglich gewesen; alle politischen Hebel (vor allem im Energiebereich) hat Russland in der Hand, während der Westen höchstens langfristig kontern kann.
Zusammengenommen zeichnet dies ein Bild eines Westens, der seinen globalen Gestaltungsanspruch eher einbüßt als ihn erweitert. Gewiss wird Amerika noch eine ganze Weile eine entscheidende Großmacht sein. Aber müssen wir uns nicht langfristig an einen Bedeutungsverlust des Westens gewöhnen? So entscheidend, dass wir auf den von Ihnen skizzierten Baustellen der neuen Weltordnung nicht mehr unbedingt die Architekten sein werden? Und falls ja, können wir sie uns überhaupt schon vorstellen?
Herzlich, Ihr Jan Techau
Von: Karl Kaiser An: Jan Techau Gesendet: 21. Oktober 2008 Thema: Stärkere Weltordnung
Lieber Herr Techau,
Sie stellen die Frage, ob man sich eine neue Weltordnung vorstellen kann. Zum jetzigen Zeitpunkt nur einige Elemente, nämlich dort, wo der Realitätsdruck so groß ist, dass sich das Verhalten der Staaten ändern dürfte.
Nicht ohne eine gewisse Nostalgie erinnern wir uns an die verpasste Gelegenheit des 11. September 2001: Der Wunsch nach einem Neuanfang und die Bereitschaft zum Handeln unter amerikanischer Führung hätten damals den Spielraum für eine grundlegende Reform des internationalen Systems gegeben. Doch im Weißen Haus saß kein Harry Truman, sondern ein Präsident, der die Zeichen der Zeit nicht erkannte und statt Führung im multilateralen Verbund in völliger Verkennung der amerikanischen Möglichkeiten die Welt unilateral mit dem Brecheisen zu verändern suchte. Die jetzige Krise hat zumindest den Vorteil, dass alle Mitglieder des internationalen Systems handfest demonstriert bekommen, dass der klassische Unilateralismus in der Interdependenz der globalen Welt zu einer kostspieligen Schädigung eigener Interessen führt.
Sicher werden die aufsteigenden Mächte mit China an der Spitze versuchen, bei der Entwicklung ihrer Außenbeziehungen ihr eigenes Ordnungsmodell zu fördern. Aber damit werden wir vorerst leben müssen. Wichtiger ist, dass auch sie den Zwängen einer voneinander abhängigen Welt nicht entrinnen können, seien es die Abhängigkeit von einem funktionierenden Weltmarkt und einer ihn stützenden Finanzordnung oder die Folgen des Klimawandels.
Zugleich werden die aufsteigenden Mächte am Verhandlungstisch mitsprechen müssen, wenn die Institutionen und Regeln des internationalen Systems überprüft und verändert werden. Einige mögen darin eine „Schwächung“ des Einflusses der westlichen Mächte mit den USA an ihrer Spitze sehen, vom Standpunkt der Effizienz und Nachhaltigkeit neuer Regeln und Institutionen jedoch bedeutet es eine Stärkung – und auch keineswegs, dass die bisherigen Hauptakteure zur Machtlosigkeit verdammt sind. Ihr bloßes Gewicht und vor allem ihre Erfahrung (die in ihren Institutionen gespeichert ist) geben ihnen die Chance, den Veränderungen ihren Stempel aufzudrücken. In dieser Hinsicht bleibt die Politik der künftigen amerikanischen Administration entscheidend, denn das Gewicht Amerikas bleibt auch nach Bush so groß, dass es Fortschritt verhindern, aber mit einer klugen Politik auch den multilateralen Prozess führen kann.
P.S.: Auch das europäische Staatensystem ist in einer Krise. Die Zeit ist reif, uns von den Denkfiguren des Kalten Krieges zu befreien. Mit neuen NATO-Mitgliedschaften, ineffektiven Systemen der Raketenabwehr oder Bedrohungen der Energielieferung können wir unsere Probleme nicht lösen.
Herzlich, Ihr Karl Kaiser
JAN TECHAU leitet das Alfred von Oppenheim-Zentrum für Europäische Zukunftsfragen im Forschungsinstitut der DGAP. Prof. Dr. Dr. h.c.
KARL KAISER ist Director, Transatlantic Relations Program, Weatherhead Center of International Affairs, Harvard University, Cambridge, MA.
Internationale Politik 11, November 2008, S. 75 - 78
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