Buchkritik

29. Aug. 2022

Existenziell ist nur noch China

Warum Europa für die USA keine ganz so große Rolle mehr spielt und was die Träumer bei uns neu lernen müssen: Neue Bücher zur amerikanischen Außenpolitik.

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Bild: Illustration eines Buches auf einem Seziertisch
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Die Dominanz der Vereinigten Staaten in der internationalen Politik drückt sich, entgegen landläufiger Meinung, nicht in erster Linie durch ihre weiterhin formidable militärische Präsenz aus. Noch wichtiger als dieser harte Machtfaktor ist die führende Rolle, die Amerika im Denken über internationale Politik spielt. Auf keinem anderen intellektuellen Markt der Welt wird vergleichbar breit und tief über Außenpolitik, Strategie, globale Fragen und Leadership nachgedacht wie dort.



Amerikanisches Denken prägt den globalen Diskurs, einerseits weil die Welt ernst nehmen muss, was dort gedacht wird, denn Amerika hat die Macht, seinen Gedanken Taten folgen zu lassen. Andererseits weil in den USA den seriösen und ernsthaften Autoren der klarsichtige Zugriff auf die Realitäten der internationalen Politik gelingt; das ist auf anderen intellektuellen Märkten immer noch deutlich seltener ­anzutreffen.



Made in America

Wie dominierend und relevant die USA sind, belegt zunächst der Blick des Außenstehenden, des britischen Historikers Mi­chael Cox. Sein schmaler Band „Agonies of Empire – American Power from Clinton to Biden“ bietet einen gerafften Rückblick auf 30 Jahre amerikanische Außenpolitik nach Ende des Kalten Krieges. Es sind dies die Jahre der Systementscheidungen, die die Rahmenbedingungen für das Schachspiel der Gegenwart geschaffen haben.



Cox’ Buch ist kein großer analytischer Wurf, aber es zeigt auf weniger als 200 Seiten eindrucksvoll, dass praktisch alle grundlegenden außenpolitischen Konzepte und Richtungsentscheidungen der vergangenen 30 Jahre aus Amerika stammen – im Guten wie im Schlechten. Und es erinnert uns daran, dass die bestimmenden geopolitischen Themen heute – Russland und vor allem China – nicht vom Himmel gefallen sind, sondern eine kleinteilige Vorgeschichte unzähliger tagespolitischer Entscheidungen haben.



Es ist Cox’ großes Verdienst, dass er nachzeichnet, wie intensiv die Regierung Bill Clintons während der gesamten 1990er Jahre um die richtige Politik gegenüber der gerade aus der Sowjetunion entstandenen russischen Demokratie gerungen hat. Und wieviel guten Willen, Kooperationsbereitschaft und Vertrauensvorschüsse es von Clinton und seinen wichtigsten Beratern gegenüber Jelzins Russland gab, und wie verzweifelt Washington an dieser Politik festhielt, als sich die Zeichen für neues russisches Ungemach längst verdichteten. Niemand wollte sich vorwerfen lassen, Russland verloren zu haben, und doch ist es am Ende so gekommen.



Cox zeigt auch, wie mutig – und womöglich voreilig – die Entscheidung der Regierung von George W. Bush war, China 2001 in die Welthandelsorganisation (WTO) aufzunehmen. Auch hier entsteht das kritische Urteil nicht erst im Blick nachträglichen Besserwissens, sondern stützt sich auf die zeitgenössische Kritik, die die neue strategische Rivalität längst kommen sah, als alle offizielle Politik noch an Wandel durch Handel glaubte.



Auch die anderen Großprogramme der vergangenen drei Dekaden stammen aus Washing­ton: das Vorantreiben der Globalisierung als Kraft des Guten, die Hochkonjunktur der Demokratieförderung unter Clinton und Bush, der „Global War on Terror“ nach dem 11. September, Barack Obamas Schwenk nach Asien, der die Europäer mit Sorge erfüllte, und schließlich Donald Trumps „America First“-Ideologie, die diese Sorgen zeitweise zur Panik werden ließ.



Bei Cox wird deutlich, dass der größte Schaden, den Trump außenpolitisch anrichtete, nicht in Europa entstand, sondern in Asien, als er unmittelbar nach seinem Amtsantritt die fertig verhandelte Trans-Pacific Partnership (TPP) aufkündigte – ein geopolitisches Eigentor historischen Ausmaßes.

Schwach hingegen fällt Cox’ Analyse der vielleicht wichtigsten Errungenschaft der Trump-Regierung aus, der Nationalen Sicherheitsstrategie vom Dezember 2017. Dass Trumps Berater hier, im Wesentlichen am Präsidenten vorbei, eine strategisch klarsichtige und notwenige Kehrtwende zementierten, erkennt der Autor. Nicht aber, welches Ausmaß und welche Breitenwirkung die darin verkündete Zeitenwende hatte. Die Strategie definiert das bis heute gültige und immer gültiger werdende Paradigma der neuen Großmachtrivalität.



Cox’ Buch ist als kurze, flott geschriebene Geschichte der strategischen Jetztzeit nützlich, als analytische Tiefenbohrung jedoch nicht.



Hegemone verhindern

Das ist bei Elbridge Colbys wichtigem Buch „The Strategy of Denial“ ganz anders. Colby war einer der wesentlichen Mitautoren der Nationalen Sicherheitsstrategie von 2017, und in seinem 2021 erschienenen, aber bisher nicht auf Deutsch erhältlichen Buch liefert er die programmatischen Schlüsse aus dem, was damals aufgeschrieben wurde.



Colbys Ziel ist es, eine Gesamtstrategie für die amerikanische Verteidigung in den Zeiten der Großmachtrivalität zu entwerfen. Was er dem Leser anbietet, ist eine intensive, analytisch scharfe und auf hohem Niveau entwickelte Tour de Force durch die sicherheitspolitischen Realitäten – und die klaren praktischen politischen Ableitungen, die daraus zu ziehen sind.



Bevor Colby auf die Feinheiten der Verteidigungsplanung zu sprechen kommt, liefert er in den ersten drei Kapiteln die geopolitische Grundierung seines Plans. Die geht so: Erstens, es gibt vier globale Schlüsselregionen, aufgereiht nach Relevanz: Ostasien, Europa, Nordamerika und den Persischen Golf. Zweitens: Damit die USA sicher, frei und wohlhabend bleiben können, muss es ihr Ziel sein, keine andere Macht zum Hegemon in diesen vier Regionen werden zu lassen. Dabei geht es lediglich darum, diesen Status einer anderen Macht zu verwehren („denial“), nicht aber darum, Amerika selbst zum Hegemon zu machen. Drittens: Dieses Ziel ist am besten durch den Erhalt regionaler Machtbalance zu bewerkstelligen. Zu diesem Zweck brauche es leistungsfähige Allianzen vor Ort, denen die USA als verlässliche und glaubwürdige externe Stütze zur Seite stehen.



Colbys Grundannahme lautet, dass China Hegemon Asiens werden und, sobald diese Position gefestigt ist, auch auf andere Regionen ausgreifen und dort so viele andere Staaten wie möglich tributpflichtig machen will. In den folgenden sieben Kapiteln leitet Colby aus seinen Grundannahmen die neue verteidigungspolitische Großstrategie Amerikas ab, wie sie klarer und intellektuell schärfer nicht konstruiert werden könnte. Es entsteht eine intellektuell zwingende und bruchlose Argumentation, die durch zahllose Fakten, historische Vergleiche und Rückgriffe auf theoretische Lehren untermauert wird.



Kernpunkt der ­Argumentation: Wenn Chinas Hegemonialstellung in Asien verhindert werden soll, muss man antizipieren, wie Chinas idealtypischer Weg zu diesem Ziel aussehen kann. Diesen gilt es dann zu durchkreuzen, was letztlich nicht ohne robustes Abwehren militärischer Übergriffe auf das Territorium strategisch wichtiger Staaten zu haben sein wird. Genau darauf muss Amerikas Militärplanung ausgerichtet sein. Taiwan steht dabei für China nicht nur aus historischen Gründen ganz oben auf der Liste möglicher Ziele. Es ist auch der wichtigste Brückenkopf für weitere chinesische Machtprojektion nach ganz Asien. Und die Einnahme Taiwans ist aus Pekings Sicht auch deswegen zentral, weil sie wie kein anderes Vorhaben die Glaubwürdigkeit Amerikas als Sicherheitsgarant in der Region erschüttern würde.



Colbys Buch ist so wichtig, weil es den aktuell dominanten intellektuellen Trend in Wa- shington widerspiegelt und bis in die kleinste Verästelung durchnimmt. Es ist gerade für uns Deutsche und Europäer wichtig, weil es uns klarmacht, wie wir in Washington betrachtet werden: wichtig, aber nicht mehr existenziell wichtig. Existenziell ist nur noch China. Wichtig auch deswegen, weil es kühl und ohne jede Herablassung unsere strategische Lage, geografisch, militärisch und strategisch seziert und damit die Denkweise der US-Planer kenntlich macht. Und es ist ein für uns wichtiges Buch, weil es auf bestechende Weise verdeutlicht, worum es eigentlich geht: ums Überleben in einer Welt des Machtstrebens, in der nationale Interessen real und wechselhaft und Staaten die wesentlichen Akteure sind. In dem man mit anderen Worten all das neu lernen kann, was Träumer und Ideologen bei uns für überlebt, abseitig und vergessenswürdig halten.



Der erste Teil von Colbys Buch hat das Zeug zum zeitlosen Klassiker zur internationalen Politik, worauf das Buch im ganzen ­Duktus auch abzielt. Der zweite Teil ist ein Fahrplan für die kommenden 10 bis 15 Jahre.



Einziger Wermutstropfen ist, dass der Autor seine Gelehrsamkeit auch sprachlich immer wieder hervorkehren muss, indem er prätentiöse Großvokabeln und Formulierungen mit hohem bildungsbürgerlichen Schauwert einflicht. Das ist eine Eitelkeit, die in seinem sonst so kühlen und klaren Englisch bisweilen unfreiwillig komisch wirkt, und die der kluge Autor gar nicht nötig hätte.



Die Kunst politischer Führung



Den größten Teil solcher Eitelkeiten hat Henry Kissinger in seinem hundertsten Lebensjahr längst hinter sich gelassen – aber nicht alle. In seinem neuen Buch „Staatskunst“, das im Sommer mit großem Aufwand weltweit erschien, versucht er, aus sechs Personenporträts großer Staatslenker die Essenz kluger politischer Führerschaft zu destillieren. Kissinger wählt dabei Personen aus, die er während seiner aktiven Zeit als Berater und Minister selbst erlebt hat, über die er also aus erster Hand berichten kann: Konrad Adenauer, Charles de Gaulle, Richard Nixon, Anwar el-Sadat, Lee Kuan Yew und Margaret Thatcher.



Es sind großzügige Porträts, geschichtsgesättigt, und durchzogen vom Grundgedanken, dass Geschichte von Menschen gemacht wird, nicht nur von ano­nymen, unsichtbaren Kräften. Das ist in Zeiten, in denen die Geschichtsschreibung und die öffentliche Debatte gerne die individuelle Zurechenbarkeit hinter „Struktur“, „Gesellschaft“ und „Markt“ verschwinden lassen möchten, recht traditionell und genau deswegen sehr erfrischend. Kissingers Studienobjekten sind ihre Leistungen und Verfehlungen voll zurechenbar. Und Kissinger begründet ihre Größe gut, auch wenn nicht alle sechs Essays gleicher Qualität sind.



Das Porträt de Gaulles ist vielleicht der Höhepunkt des Bandes. Bei keinem seiner Porträts ist Kissinger der Essenz des Führens näher gekommen als bei diesem Mann, den er vermutlich von allen sechsen am wenigsten kannte. De Gaulles staunenswerte Leistung, einem am Boden liegenden Frankreich durch pure Willenskraft, beharrliches Insistieren auf bloß imaginierten Wirklichkeiten, taktischem Genie und großer persönlicher Integrität wieder Geltung zu verschaffen, wird hier auf brillante Weise deutlich.



Bei Lee hingegen, dem Erfinder und langjährigen Herrscher des Nationalstaat-Start-ups Singapur, mit dem Kissinger eine enge Freundschaft verband, ist das Porträt zu nah an einer Eloge. Was der enormen und ganz und gar unwahrscheinlichen Leistung Lees beim Aufbau Singapurs zu einer multiethnischen Erfolgsgeschichte allerdings keinen Abbruch tut.



Alle Obsessionen Kissingers kommen in diesem beachtlichen Alterswerk noch einmal zum Vorschein: die um persönliche Stellung und Anerkennung, die um die Macht und ihre Versuchungen. Die um Ideale innerhalb einer Weltanschauung, die zum kalten Realismus neigt. Und die um den schmalen Grat zwischen Demokratie und Autorität. An vielen dieser Fragen wird deutlich, wie wenig Kissinger eigentlich je in die vorherrschenden Denktraditionen und Gefühlslagen der amerikanischen Außenpolitik gepasst hat.



Ein Fremdkörper ist er denn auch immer ein bisschen geblieben. Und so ist es kein Wunder, dass sein Porträt Nixons mitunter berührende Passagen hat. Man kann es als sorgfältig verhüllte Liebeserklärung an einen Mann lesen, der Kissinger Bedeutung und Weltruhm ermöglichte, dessen beachtliche außenpolitische Lebensleistung durch einen katastrophalen Skandal für immer verschüttet bleiben muss, und dessen strategisches Erbe, das auch Kissingers Erbe ist, daher nie die Anerkennung gefunden hat, die beide so dringend suchten. Man liest dieses kluge und bisweilen ungewollt offenherzige Buch mit gutem Gewinn.

 

Michael Cox: Agonies of Empire – American Power from Clinton to Biden. Bristol: Bristol University Press 2022. 202 Seiten, 24,99 Britische Pfund

Elbridge A. Colby: The Strategy of Denial – American Defense in an Age of Great Power Conflict. New Haven: Yale University Press 2021. 384 Seiten, 32.50 US-Dollar

Henry Kissinger: Staatskunst – Sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert. München: C. Bertelsmann Verlag 2022. 608 Seiten, 38,00 Euro

 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2022, S. 120-123

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Jan Techau leitet das Referat Reden und Texte im Bundesministerium der Verteidigung.