Gegen den Strich

30. Okt. 2023

Gegen den Strich: US-Präsidentschaftswahlen

Wenn sich die Menschen in Deutschland alle vier Jahre Anfang November die Nacht um die Ohren schlagen und wie selbstverständlich mit Begriffen wie „Primaries“, „Electoral College“ oder „Swing States“ hantieren, dann sind mal wieder Präsidentschaftswahlen in Amerika. Warum ist dieses Ereignis so wichtig für Europa, und  was wissen wir wirklich darüber? Sechs Thesen auf dem Prüfstand.

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Bild: Zeitungsartikel US-Wahlkampf
Bitte nicht schon wieder: Sollte Donald Trump nach 2016 auch die Präsidentschaftswahlen 2024 gewinnen, dann stünde zu befürchten, dass die Ukraine als das erste Opfer einer Neuausrichtung amerikanischer Sicherheitspolitik preisgegeben würde.
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„Die amerikanischen Präsidentschaftswahlen 2024 sind für Europa wichtiger als die Europawahlen im selben Jahr“

 

Natürlich, aber die Gründe dafür liegen nicht allein in den Vereinigten Staaten. Der Unterschied ist: Bei der amerikanischen Wahl geht es um die Vergabe genuiner exekutiver Macht, von deren Ausübung Europa direkt abhängig ist, bei den Europawahlen nicht. Die US-Wahlen bestimmen, wer Zugang zum wichtigsten diplomatischen Apparat der Welt erhält, zum leistungsfähigsten Militär, zu den Steuereinnahmen der dynamischsten Volkswirtschaft, zu schwergewichtiger globaler Handelsmacht. All diese Dinge betreffen Europa direkt oder indirekt, in manchen Be­reichen existenziell.

Denn darum geht es aus europäischer Sicht bei diesen Wahlen eigentlich: Die gesamte Sicherheitsordnung Europas hängt an Amerika, und die Wahlen dort entscheiden, ob ein Präsident ins Amt kommt, der die von seinem Land gegebenen Sicherheitsgarantien achtet und einzuhalten gedenkt.

Amerikanische Atomwaffen, über deren Einsatz in letzter Instanz der Präsident entscheidet, halten im Rahmen der „Extended deterrence“ die nichtnuklearen Staaten Europas frei von politischer und militärischer Erpressung durch andere Atommächte, besonders durch Russland. Der wesentliche geostrategische Unterschied zwischen der Ukraine und Deutschland sind amerikanische Atomwaffen. Berlin wird durch sie abgeschirmt, Kiew nicht. Das Resultat erleben wir täglich in den Nachrichten.

Ohne das Wohlwollen des amerikanischen Präsidenten wären nicht die Vereinigten Staaten die Ordnungsmacht in Europa, sondern Russland. Der Kontinent hätte dann ein anderes Gesicht. Mindestens die europäischen Staatshaushalte sähen ganz anders aus, denn die Europäer, sofern sie noch frei wären, müssten ein Vielfaches für Verteidigung ausgeben – Geld, das dann anderswo fehlte.

Deutlich mehr von ihnen hätten sich selbst Atomwaffen gebaut oder beschafft. Die geopolitischen Realitäten wären für die meisten Europäer erheblich unangenehmer, für einige von ihnen an der östlichen Peripherie wären sie vermutlich schrecklich.

Das alles hängt auch von den US-Wahlen ab, denn in ihnen wird jedes Mal neu entschieden, ob ein Präsident kommt, der diese enorme Verantwortung versteht und sie annimmt. In jeder US-Wahl geht es auch darum, ob jemand im Weißen Haus sitzt, dem Europa nicht gleichgültig ist. Man kann sich diese strategische Realität nicht oft genug vor Augen halten.

Neben diesen Fundamentalerwägungen, die mit den US-Wahlen zwingend verbunden sind, verblasst naturgemäß die Bedeutung der Europawahlen, und mancher würde vielleicht schon den Vergleich der beiden Urnengänge als unstatthaft empfinden. Aber er schärft den Blick für die vergleichsweise geopolitische Schwäche Europas, an der auch die filigran ausgearbeitete institutionelle Verfasstheit der Europäischen Union nichts ändert.

Das Europäische Parlament ist über die Jahrzehnte zu einem ernstzunehmenden Machtfaktor im Brüsseler Gefüge geworden, seine Mitspracherechte sind deutlich ausgeweitet worden und damit auch sein tatsächlicher Einfluss. Aber der letztlich entscheidendere Gesetzgeber in Brüssel bleibt der Rat, also die Vertretung der Mitgliedstaaten. Auch die EU-Kommission ist für die tägliche Ausgestaltung Europas wirkmächtiger als das Parlament.

Zudem ist das Parlament in den Augen der europäischen Wahlbürger nie zur Heimat der europäischen Demokratie geworden, was nicht nur an seiner beschränkten Macht, sondern auch an seiner demokratisch heiklen Konstruktion liegt. Das Europäische Parlament trägt mit seiner Mehrheit weder eine Regierung – wie klassischerweise im parlamentarischen System –, noch sind seine Abgeordneten über das Wahlkreisprinzip wirklich direkt dem Wähler gegenüber verantwortlich, denn alle Abgeordneten werden über Listen gewählt. Auch sind die Abgeordneten, anders als in den Vereinigten Staaten, keine Politunternehmer in eigener Sache, dafür ist die Rolle der Parteien, von denen Abgeordnete abhängen, in Europa zu stark.

Keines der üblichen Korrektive, denen Parlamente sonst unterliegen und durch die sie im Rahmen der Gewaltenteilung idealerweise diszipliniert werden, greift also beim Europäischen Parlament. Das führt zu einer eigentümlichen Abgehobenheit dieses Parlaments, die sich auch in manch realitätsfremder parlamentarischer Obsession äußert, vor allem in der Außenpolitik.

Selbst nach den, im Vergleich zu den Vereinigten Staaten, machtpolitisch niedrigeren Standards der EU ist das Europäische Parlament also deutlich nachrangig. Es ist nicht unwichtig, und es erfüllt innerhalb der EU-Logik wichtige, sogar zentrale Funktionen. Dennoch spüren Europas Bürger intuitiv, dass für ihr eigenes Schicksal mehr von den US-Wahlen abhängt als von den Europawahlen. Diese Einschätzung ist berechtigt, besonders im Jahr 2024.



„Das amerikanische Präsidentschafts-Wahlsystem hat ausgedient“

Europäer sehen das so, aber die Wahrheit ist komplexer. Nicht das Wahlsystem per se ist ein Kernproblem amerikanischer Demokratie, es sind wesentliche Nebenelemente dieses Systems, deren Bedeutung übergroß geworden ist. Dazu gehören vor allem die Wahlkampffinanzierung, der Zuschnitt der Wahlkreise und das System der parteiinternen Vorwahlen, der Primaries.

Zusammengenommen schaffen diese Faktoren ein Anreizsystem, das die politischen Ränder im Wettbewerb stärkt, extremistische Kandidaten begünstigt, damit den Raum für Kompromisse und überparteiliches Zusammenwirken systematisch verringert, der Polarisierung des politischen Betriebs Vorschub leistet und im Extremfall die Institutionen in die Lähmung führt.

Die Entscheidung des amerikanischen Obersten Gerichtshofs im Citizens-United-Fall von 2010, in dem Parteispenden als Teil des Rechts auf freie Meinungsäußerung interpretiert werden, die praktisch keiner Beschränkung unterliegen dürfen, hat die Tore für politische Einflussnahme durch finanzstarke Interessenvertreter und Einzelpersonen weit geöffnet.

Die Folge war das deutliche Erstarken politischer Kampagnen-Organisationen (Political Action Committees – PACs), die bei der Formulierung politischer Zielvorstellungen nicht den Regularien und disziplinierenden Ausgleichsmechanismen des Parteibetriebs unterliegen. Das wiederum hatte eine enorme Verschärfung der Wahlkampf­rhetorik und des politischen Demagogentums zur Folge. Die amerikanische politische Kultur hat sich dadurch nachhaltig polarisiert und ins hochgradig antagonisierende Freund-Feind-Denken verschoben.

Entscheidend verschärft wird diese Tendenz durch die Neigung beider Parteien, dort, wo sie die Macht besitzen, die Wahlkreise so zuzuschneiden, dass dort sicher vorhersehbare Wahlergebnisse in ihrem Sinne erzielt werden, der politische Wettbewerb vor dem Wähler also de facto abgeschafft ist. Das hat zur Folge, dass der eigentliche Wettbewerb um Macht und Mandat sich in die Parteien verlagert. Innerparteiliche Machtkämpfe, die ohne den Realitätscheck des Wählers auskommen, neigen aber dazu, ein Kampf um die reine Lehre zu sein, ein Wettbewerb, der nicht zur politischen Mitte weist, sondern die Ränder stärkt und Ideologen, Eiferer und Extremisten in die Parlamente spült.

Die Folge ist bis in die obersten Ebenen des amerikanischen Parlamentarismus zu spüren: größtmögliche Parteilichkeit, giftige Anfeindungen, institutioneller Kleinkrieg, geringe Kompromissfähigkeit. Dass ein solchermaßen vergifteter Parlamentsbetrieb in eine ohnehin polarisierte Gesellschaft zurückwirkt, dort bei den Gemäßigten für Desillusionierung sorgt und bei den Aufgebrachten für zusätzliche Polarisierung, verwundert nicht.

Das amerikanische Wahlsystem krankt also vor allem an Organisations- und Finanzierungsmechanismen, nicht so sehr an seinem ursprünglichen institutionellen Aufbau.

In Europa mokiert man sich zwar gern über das Wahlmännerprinzip, demgemäß das Electoral College die eigentlichen Stimmen der Bundesstaaten für den zu wählenden Präsidenten abgibt, nicht der Wähler. Auch die relative Übergewichtung ländlicher, tendenziell konservativer Regionen im Senat und in den Primaries steht in der Kritik. Diese Elemente sind aber nicht entscheidend für die Krise der amerikanischen Demokratie, die sich vor unseren Augen vollzieht, und für die Donald Trump ein Symptom ist, nicht ihr tieferer Grund.

Amerikanische Demokratie steht und fällt letztlich mit der Zahl der demokratisch Gesinnten, die das System am Leben erhalten. Die hier genannten Faktoren verringern die Anzahl dieser Systemträger. Zusammen mit anderen polarisierenden ökonomischen, demografischen und kulturellen Entwicklungen, die außerhalb des Wahlrechts oder der Institutionen liegen, zeichnen sie das besorgniserregende Bild der amerikanischen Demokratie, das sich uns heute bietet.

 

„In einer zweiten Präsidentschaft würde Trump die amerikanische Demokratie zerstören“

Nein, das wird er nicht schaffen, aber der Schaden könnte immens sein. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass Donald J. Trump nicht der Grund für die amerikanische Krise ist, sondern ihr augenfälligstes Symptom. Trump hat die Probleme der amerikanischen Demokratie nicht ­geschaffen, aber er hat ein extrem ausgeprägtes Gespür dafür, wie er diese Probleme zum persönlichen Gewinn nutzen kann und wie man sie verschärft, damit der Nutzen noch größer wird.

Trump ist dem Anschein nach kein von tiefen ideologischen Überzeugungen geleiteter Politiker, auch wenn er diesen Eindruck zu erwecken versucht. Trump scheint eher von seinen persönlichen Pathologien getrieben, von einem tief verankerten Narzissmus, der sich in einer unstillbaren Geltungs- und Liebesbedürftigkeit äußert.

Für Trump ist die Zerstörung der Institutionen, Regeln und Traditionen nicht das Ziel seiner politischen Vorstellungen, sondern Mittel der persönlichen Bedürfnisbefriedigung. Er hat instinktiv erkannt, dass ihm das Zertrümmern der Demokratie nicht nur die Liebe seiner Stammwähler, sondern die Aufmerksamkeit aller Amerikaner (und eines Großteils der Welt) sichert. Nichts könnte ihn stärker motivieren.

Die Gefahr, die von Donald Trump ausgeht, besteht vor allem darin, dass er den eigentlichen Ideologen, Revolutionären und Reaktionären Jobs und Mandate gibt, ihnen Spielräume verschafft und sie schützt und fördert. Sie verrichten das von ihnen lang erträumte Zerstörungswerk, sie bereiten die präsidentiellen Erlasse vor, sie leiten aus Trumps groben ­Ideen Politik ab, erstellen die Pläne und setzen sie um. Und sie ­bleiben im System, wenn Trump einmal nicht mehr sein sollte.

Die eigentliche Langfristgefahr für Amerikas Demokratie geht von diesen Funktionsträgern aus, den Funktionären des Trumpismus. Es steht zu befürchten, dass dieses „Team Trump“ in einem möglichen zweiten Anlauf erheblich kompetenter, planvoller und entschlossener zu Werke gehen wird als in seiner ersten Amtszeit. Sie alle wissen, dass unter normalen Umständen eine weitere Amtszeit nicht zu erwarten ist, sie arbeiten also gegen die ablaufende Zeit.

Und genau das ist auch einer der Gründe, weswegen ihnen ihr Zerstörungswerk nicht vollständig gelingen wird. Sie haben de facto nur rund zwei Jahre, bevor die natürliche Machterosion eines „lame duck president“ einsetzt, bevor Geldgeber und Parteiorganisation sich auf die Suche nach einem neuen Kandidaten machen, bevor der amtierende Präsident die Fähigkeit einbüßt, glaubwürdige Versprechen für die Zukunft – den eigentlichen Kern von Macht – zu machen.

Das wird nicht reichen, um eine etablierte Demokratie, deren Stärke ja vor allem an der Basis, in den Towns, Cities und Communities, wurzelt, zu beseitigen. Schon in Trumps erster Amtszeit haben sich die Institutionen der amerikanischen Demokratie als resilienter erwiesen, als es skeptische und schadenfreudige Europäer wahrhaben wollten. Zwar ist in dieser ersten Amtszeit Schaden entstanden, aber es hat auch Stärkendes gegeben. Nicht nur Trumps Mitstreiter, auch seine Gegner sind jetzt besser vorbereitet. Es besteht kein Zweifel daran, dass Trump 2.0 schwerste innere Krisen und erbitterte Kämpfe innerhalb des Systems auslösen würde. Aber nach allem, was heute erkennbar ist, wird es einen Zusammenbruch der amerikanischen Demokratie nicht geben.

 

„Die Präsidentschaftswahlen 2024 werden die ersten Wahlen, die von Künstlicher Intelligenz entschieden werden“

Entschieden vielleicht nicht, aber der Einfluss von KI auf eine bedeutsame Wahl wird erstmals voll sichtbar werden. Die Bedeutung von KI für die Wahlen hat mehrere Dimensionen. Auf der allgemeinen Habenseite steht, dass Suchmaschinen verlässlicher, Informationen genauer und Informationsflüsse schneller werden. Zum anderen besteht das viel grundsätzlichere Problem, dass KI durch täuschend echte Nachahmung von Text, Bild und Ton die Grenzen von Realität und Fiktion, von Wahrheit und Lüge noch stärker auflöst, als es bereits heute der Fall ist, vielleicht sogar vollends.

Für die öffentliche Verhandlung der gemeinsamen Sache, von Politik, Staatsgeschäft und Demokratie, die letztlich auf der kollektiven Anerkennung von Fakten, also auf Vertrauen, beruht, stellt dies eine gigantische Herausforderung dar. Alle Formen des Diskurses und der Auseinandersetzung zerbröseln, wenn Wahrheit und Lüge auch für Kundige und Versierte nicht mehr unterscheidbar sind.

Die US-Wahlen 2024 werden aller Voraussicht nach die ersten Wahlen sein, in denen dieses Phänomen in großem Stil beobachtbar sein wird. Die Kultur der Fake News wird zu neuer technischer Reife gelangen, Manipulationen werden in großem Stil eingesetzt werden. Folge: Der medialen Darstellung des Wahlkampfs, des Wahlgangs und der Ergebnisse wird mit noch größerem Vorbehalt begegnet werden als heute schon üblich.

Diese Kultur des Misstrauens wird Vertrauen weiter untergraben und so dafür sorgen, dass die zentrale demokratische Grundlage erodiert. Die Langzeitfolgen für Demokratie und Politik sind kaum absehbar.

Aber auch der Wahlkampf selbst wird von KI bestimmt werden. Modellrechnungen des Wahlverhaltens, die schon heute täglich zehntausendfach generiert werden, werden erheblich umfassender und damit verlässlicher, selbst für kleine und kleinste Zielgruppen.

Entsprechend wird das „Targeting“, die gezielte Ansprache potenzieller Wähler, komplexer, verfeinerter, genauer. Große Teile der Wählerschaft, auf die es schon heute kaum mehr ankommt, weil sie nicht in den entscheidenden Wahlkreisen der entscheidenden Vororte in den entscheidenden Swing States leben, werden vom Wahlkampf weitgehend verschont, andere werden noch präziser nach den Spezifika ihrer bestimmten Sub-Unter-Nebengruppe angesprochen – und vielleicht durch ausgefeiltes „Micro-messaging“ manipuliert.

Die amerikanischen Wahlen 2024 werden ein riesiges Testlabor für Künstliche Intelligenz in der Demokratie werden. Die hier angerissenen Phänomene dürften dabei angesichts der rasanten Entwicklung der KI nur ein kleiner Teil dessen sein, was sich tatsächlich abspielen wird.

 

„Bei einem Wahlsieg Trumps würden die USA als Führungsmacht bei der Ukraine-Unterstützung wegfallen“

Das ist sehr wahrscheinlich, und die Folgen für Europa würden gravierend sein. Als Anfang Oktober 2023 der damalige Sprecher des amerikanischen Repräsentantenhauses, Kevin McCarthy, durch eine republikanische Palastrevolte seines Amtes enthoben wurde, sah das zunächst nur nach einem weiteren Kapitel im seit zwei Jahrzehnten währenden Bürgerkrieg innerhalb der Republikanischen Partei aus.

Doch es dauerte nicht lange, bis die Europäer die ganze Tragweite des Schauspiels erkannten. Bei McCarthys Ablösung ging es in der Konsequenz auch um die Frage amerikanischer militärischer Unterstützung für die Ukraine. McCarthy hatte kurz zuvor einen Haushaltskompromiss mit den Demokraten ausgehandelt, der die amerikanische Unter­stützung für Kiew sicherte.

Nach seinem Sturz war nicht klar, ob die umfangreichen Lieferungen von Raketen, Artilleriemunition und Flugabwehrgerät, den täglichen Verbrauchsgütern an der ukrainisch-russischen Front, die das Überleben der Ukraine sichern, fortgesetzt werden könnten. Schnell wurde klar: Wenn extremistische Republikaner ihren eigenen Mann opfern, um ideologisch reine Politik zu machen und dafür letztlich die Ukraine zu opfern bereit sind, müssen auch die Europäer damit rechnen, dass ihr Schutz für Republikaner keine Priorität mehr ist. Die Causa McCarthy sandte Schockwellen durch die gesamte europäische Community.

Sollte Trump Präsident werden, so steht zu befürchten, dass die Ukraine als das erste Opfer einer Neuausrichtung amerikanischer Sicherheitspolitik preisgegeben würde. Schon das allein würde die strategische Konstellation Europas stark verändern, selbst wenn die Vereinigten Staaten ihre Schutzmachtfunktion innerhalb der NATO nicht formal aufkündigten.

Die Stellung Amerikas in Europa wäre in einem Maße erschüttert, das bei nicht wenigen Europäern zu Panik führen würde: Was tun, wenn man Washington nicht mehr glaubt, die gesamte Sicherheitsarchitektur aber von Washington abhängt?

Glühende Europäer hoffen, dass ein solcher Moment zu einem „Ruck“, einem Zusammenschluss der Europäer führen würde, einem vereinten Voranschreiten Richtung strategischer Autonomie. Wahrscheinlicher indes ist ein Zerfallen Europas in Grüppchen und Einzelakteure, die sich mit der neuen Lage jeweils ganz unterschiedlich arrangieren würden, manche opportunistisch („Vladimir, let’s talk …“), manche trotzig, manche durch nukleare Aufrüstung, andere durch Ad-hoc-Allianzen oder durch maximale Anbiederung an Washington.

Mit anderen Worten: Die Ukraine ist längst zur entscheidenden Sicherheitsfrage Europas geworden. An ihr wird sich entscheiden, ob die Pax Americana noch eine Weile halten kann, oder ob der europäische strategische Markt schon bald neu sortiert wird – mit allen Folgen, die das hat.

Eines ist dabei sicher: Die Europäer, die sich freiwillig in eine Position militärischer und fiskalischer Schwäche begeben haben, werden dafür bezahlen, so oder so.



„Ein Wahlsieg der Demokraten 2024 wäre besser für die transatlantischen Beziehungen“

Zweifellos. Vor allem aber würde er den Europäern etwas zusätzliche Zeit verschaffen, um endlich selbst zu einem wesentlichen ­Garanten ihrer Sicherheit zu werden. Dafür müsste allerdings ein ganz erhebliches Umdenken in Europa stattfinden. Und es müssten interne Verteilungskämpfe hin zur Verteidigung in einer Dimension ausgefochten werden, die sich heute noch niemand vorstellen kann.

Wenn Europa ganz ohne Amerika sicher sein will, muss es zur sicherheitspolitischen Weltmacht werden. Das schließt nukleare Abschreckung ein. Das ist vielen Europäern, die von strategischer Autonomie träumen oder Amerika dringend loswerden wollen (oder beides), meist nicht klar.

Ob aber ein solcher Kraftakt angesichts von Demografie, Kassenlage und allgemein überspannter Nervenkostüme zu stemmen ist, das ist höchst fraglich. Die US-Wahlen werden diese Frage nicht beantworten, aber sie entscheiden womöglich darüber, wie schnell wir Europäer unsere eigene Antwort darauf geben müssen.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2023, S. 124-129

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Jan Techau ist Direktor für Europa bei der Eurasia Group und Senior Fellow beim Center for European Policy Analysis in Washington, D.C.

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