IP

01. Nov. 2009

Abrüstung und Global Zero

... gegen den Strich gebürstet

Die UN-Resolution 1887 und Obamas Prager Rede über die globale Null, die im Mai 2010 anstehende Überprüfungskonferenz zum Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag, die amerikanisch-russischen Verhandlungen über strategische Atomabrüstung, der Streit um das iranische Atomprogramm sowie Obamas Verzicht auf Raketenabwehr in Polen und Tschechien – eigentlich spannende Zeiten für atomare Abrüstung und Rüstungskontrolle. Doch die Debatten werden immer wieder von den gleichen Stereotypen dominiert.

» Der Nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NVV) ist ein Relikt des Kalten Krieges «

Falsch. Das Abkommen, das 1970 in Kraft trat, wurde im Wesentlichen von den damaligen Supermächten USA und Sowjetunion auf den Weg gebracht und sichert ihnen sowie Frankreich, Großbritannien und China eine Sonderrolle als vom Vertrag anerkannte Kernwaffenmächte zu. Doch der NVV dient auch den nationalen Interessen der nuklearen Habenichtse: Ihnen geht es darum, durch die im Vertrag festgelegte nukleare Nichtverbreitungsnorm gefährliche atomare Rüstungswettläufe in ihrer jeweiligen Region zu verhindern. Gerade in einer Zeit, in der im Zuge der „Renaissance der Kernenergie“ sowohl friedliche als auch militärisch verwendbare Nukleartechnologien für immer mehr Staaten zugänglich werden, ist der NVV umso wichtiger. Ohne ihn würden mindestens drei Dinge fehlen:

1. Transparenz.

Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO) führt jährlich mehr als 2000 Inspektionen in kerntechnischen Anlagen durch. Damit soll militärischer Missbrauch verhindert werden. Mit dem Zusatzprotokoll zu den IAEO-Sicherungsabkommen kann die Wiener Behörde sich noch besseren Einblick in friedliche Nuklearprogramme verschaffen. Die Vertragsstaaten unterliegen umfassenderen Meldepflichten und müssen nunmehr über das gesamte Spektrum ihrer Nuklearaktivitäten berichten, einschließlich Forschungs- und Entwicklungsvorhaben. Die IAEO-Inspektoren haben bessere Zugangsmöglichkeiten und dürfen sogar Umweltproben an jedem Ort ihrer Wahl vornehmen. Leider hat etwa die Hälfte der NVV-Vertragsstaaten das Zusatzprotokoll noch nicht in Kraft gesetzt; diese Länder müssen von einem Beitritt überzeugt werden. Ganz ohne IAEO-Inspektionen würde jedoch große Unsicherheit darüber herrschen, ob als friedlich deklarierte Atomprogramme heimlich zu Waffenzwecken missbraucht würden. Zudem könnte es Terroristen leichter fallen, sich Zugang zu Spaltmaterial zu verschaffen. Nur aufgrund der IAEO-Inspektionen sind die Staaten gezwungen, nachvollziehbare Materialbilanzen zu erstellen und Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, sodass ein heimliches Entwenden von Plutonium oder angereichertem Uran aus kerntechnischen Einrichtungen erschwert wird.

2. Internationale Koalitionsbildung.

Der NVV ist Voraussetzung dafür, dass internationale Koalitionen gegen solche Staaten gebildet werden können, die sich Atomwaffen verschaffen wollen. Ohne die Existenz des NVV wäre die Bildung der E-3 plus 3 – also der Zusammenschluss Frankreichs, Großbritanniens, Deutschlands, der USA, Russlands und Chinas zu einer Koalition zur Verhinderung einer iranischen Atombewaffnung – viel schwieriger, wenn nicht sogar unmöglich gewesen. Zwar verfolgen diese Staaten unterschiedliche Interessen gegenüber Teheran, aber sie eint der Wille an der Aufrechterhaltung der nuklearen Nichtverbreitungsnorm. Ohne den NVV würden manche Großmächte vermutlich Kernwaffenprogramme ihnen wohlgesonnener Länder unterstützen, während andere Großmächte sich dagegen stemmten. Dies würde zu einem erheblichen Zuwachs an internationaler Instabilität führen.

3. Politikstil.

Der NVV ist oft als Eckstein der gesamten internationalen Nichtverbreitungspolitik beschrieben worden. Zu Recht. Die Verträge zum Verbot Biologischer Waffen (BWÜ) sowie Chemischer Waffen (CWÜ) wären ohne die Existenz des NVV kaum aufrechtzuerhalten. Ohne NVV ginge das Konzept, den Zugang zu den gefährlichsten Waffen dieser Welt mit kooperativen, diplomatischen Mitteln zu begrenzen, vollständig verloren.

Der Vertrag erweist sich also keineswegs als ein Relikt des Kalten Krieges. Er ist in einer globalisierten Welt, in der auch militärisch verwendbare Technologien immer zugänglicher werden, vielmehr unverzichtbar und muss deshalb dringend gestärkt werden.

» Der NVV ist in der Krise, weil die Atommächte nicht genügend abrüsten «

Stimmt höchstens bedingt. In der Tat basiert der NVV auf drei Säulen. Neben der Nichtverbreitungsnorm, also dem dauerhaften Verzicht von über 180 Staaten auf Atomwaffen, verpflichtet das Abkommen die Kernwaffenmächte USA, Russland, Frankreich, Großbritannien und China zu ernsthaften atomaren Abrüstungsbemühungen im Rahmen der generellen Abrüstung, für die alle Staaten verantwortlich sind. Die dritte Säule bildet der freie Zugang zur friedlichen Nutzung der Kernenergie.

Viele Nichtkernwaffenstaaten beklagen seit langem eine ungleichmäßige Gewichtung dieser drei Pfeiler seitens der Großmächte. Vor allem die Regierung von George W. Bush wurde heftig kritisiert, weil sie immer wieder potenzielle Normbrecher wie den Iran oder Syrien anklagte, selbst aber die Abrüstung zu vernachlässigen schien. In der Tat zeigte die Bush-Regierung wenig Interesse an formalen Abrüstungsverträgen. Dennoch rüstete sie den Bestand der US-Atomwaffen auf das von Washington als erforderlich angesehene Maß ab, sodass mehrere tausend Sprengköpfe außer Dienst gestellt werden konnten. Präsident Barack Obama hat mit seiner Prager Rede vom 5. April 2009 einen generellen Schwenk vollzogen: Amerikanisches Ziel ist nunmehr die „globale Null“, also die Abschaffung aller Atomwaffen weltweit. Die internationale Gemeinschaft schloss sich dieser Vision an, indem der UN-Sicherheitsrat am 24. September 2009 einstimmig die als historisch bezeichnete Resolution 1887 verabschiedete. Als ersten Schritt auf diesem Weg streben Washington und Moskau noch vor Ende 2009 einen neuen Vertrag zur Begrenzung strategischer Kernwaffen an.

Abgesehen davon hat die NATO bereits ein Konzept der nuklearen Minimalabschreckung in die Realität umgesetzt. Während auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges die USA mehr als 7000 nichtstrategische Kernwaffen auf unterschied-lichen Trägern in Europa stationiert hatten, sind davon heute nur noch etwa 200 amerikanische Flugzeugbomben in Europa übrig geblieben.

Aber gibt es überhaupt einen nachweisbaren Zusammenhang zwischen nuklearer Nichtverbreitung und nuklearer Abrüstung? Als sich in den achtziger Jahren Ronald Reagan und Michail Gorbatschow endlich aufmachten, die amerikanischen und sowjetischen Atomarsenale im Zuge der INF- (Mittelstreckenwaffen) und START- (strategische Waffen) Abkommen massiv zu reduzieren, begannen Länder wie der Irak unter Saddam Hussein, der Iran, Libyen oder Nordkorea ihre Atomprogramme. Ausschlaggebend dafür waren Vormachtambitionen (Irak), Sicherheitsbedürfnisse (Iran gegenüber dem damaligen Kriegsgegner Irak), Prestige (Libyen) oder das Streben, sich eine Lebensversicherung zu verschaffen und Wirtschaftshilfe zu erpressen (Nordkorea). Ob Moskau und Washington Fortschritte bei der atomaren Abrüstung machten, scherte diese Länder in keiner Weise. Auch heute wird niemand ernsthaft annehmen, dass Kim Jong Il oder Machmud Achmadinedschad auf Atomwaffen oder eine entsprechende Option verzichten, weil die USA und Russland die Anzahl ihrer Nuklearwaffen verringern. Und doch gibt es einen politischen Zusammenhang zwischen Abrüstung und Nichtverbreitung: Denn je größer die Fortschritte bei der Abrüstung sind, desto leichter fiele es wohl, anlässlich der im Mai 2010 anstehenden NVV-Überprüfungskonferenz bislang unwillige Länder von den erforderlichen Maßnahmen zur Stärkung des NVV – wie der Inkraftsetzung des IAEO-Zusatzprotokolls – zu überzeugen.

» Der Nukleare Teststoppvertrag kann nicht in Kraft treten, weil die USA ihn nicht ratifiziert haben «

Nicht wirklich. Im September 1996 stimmte die UN-Generalversammlung für das Nukleare Teststoppabkommen, das sämtliche Kernwaffentests wie auch so genannte friedliche Nuklearexplosionen untersagt. Der Teststopp wird von vielen Nichtkernwaffenstaaten als wichtiges Symbol der nuklearen Abrüstung angesehen. Damit der Vertrag völkerrechtlich in Kraft treten kann, muss er von einer im Abkommen aufgeführten Gruppe von 44 Ländern ratifiziert werden, die Kernkraftwerke oder Forschungsreaktoren besitzen. Zu dieser Gruppe gehören selbstverständlich die USA. Die Clinton--Regierung legte den Teststoppvertrag denn auch dem US-Senat zur Ratifikation vor. Doch im Oktober 1999 stimmte dieser mit 51 zu 48 Stimmen dagegen. George W. Bush lehnte eine erneute Senatsvorlage ab. Präsident Obama hingegen will bald einen neuen Anlauf unternehmen. Zwar haben die Demokraten im Senat jetzt die Mehrheit, doch müssen mindestens sieben Republikaner für die erforderliche Zweidrittelmehrheit vom Teststoppvertrag überzeugt werden. Selbst falls dies gelänge: In Kraft wäre das Teststoppabkommen damit noch lange nicht. Weitere Staaten wie China, Indien, Pakistan, der Iran, Nordkorea und auch Israel müssten zunächst ihre Ratifikationsurkunden hinterlegen. Nach einer US-Ratifikation würde der politische Druck auf diese Länder zwar enorm wachsen, eine Garantie für ihre Zustimmung wäre dies aber noch lange nicht.

So will sich Peking die Option für Nukleartests offen halten, um sein Kernwaffenarsenal weiterentwickeln zu können und seine Atommacht ausbauen. Ähnliches gilt für Indien: Solange es das Teststoppabkommen nicht in Kraft setzt, ist eine pakistanische Ratifikation ausgeschlossen, macht Islamabad dies doch strikt vom indischen Verhalten abhängig. Angesichts ihres derzeitigen unkooperativen Verhaltens sind Teststoppratifikationen des Iran und Nordkoreas unwahrscheinlich. Und selbst Israel wird wohl kaum ratifizieren. Es hält sich bisher von sämtlichen multilateralen Rüstungskontroll-abkommen fern. Da das Teststoppabkommen auch die Möglichkeit von Vor-Ort-Inspektionen vorsieht, müsste Israel seine bisherige Politik, solche Überwachungsmaßnahmen aus Sorge vor der Preisgabe militärischer Geheimnisse auszuschließen, radikal ändern; damit ist nicht zu rechnen.

Fazit: Eine amerikanische Ratifikation des nuklearen Teststoppvertrags wäre allenfalls ein politisches Signal Washingtons, Abrüstung wieder ernster zu nehmen. Ein Inkrafttreten des Abkommens wäre damit jedoch keinesfalls gesichert.

» Der Iran hat das Recht zur friedlichen Nutzung  der Kernenergie, insbesondere der Urananreicherung «

Ja, aber. Der NVV sagt den freien Zugang zur friedlichen Nutzung der Kern-energie in der Tat zu. Allerdings sind bestimmte Technologien wie Urananreicherung oder Wiederaufbereitung im Vertrag gar nicht erwähnt. Vor allem aber bindet der NVV das Recht auf die zivile Anwendung der Kernenergie strikt daran, dass der militärische Missbrauch zweifelsfrei ausgeschlossen werden kann. Genau dies ist aber beim Iran nicht der Fall. Aufgrund des jahrelangen intransparenten Verhaltens Teherans, das bis heute anhält, ist die IAEO nicht sicher, ob nicht gemeldete nukleare Materialien im Iran existieren oder nicht gemeldete Nuklearaktivitäten stattfinden. Vielmehr befürchtet die IAEO, dass das iranische Nuklearprogramm eine militärische Dimension enthält. Diese Befürchtungen wurden durch die Entdeckung einer bisher vom Iran geheim gehaltenen, im Bau befindlichen zweiten Urananreicherungsanlage weiter genährt.

Darüber hinaus hat der UN-Sicherheitsrat in bisher fünf größtenteils einstimmig angenommenen Resolutionen den Iran völkerrechtlich verbindlich dazu aufgefordert, seine Urananreicherungsaktivitäten sowie seine Schwerwasserprogramme – beides Technologien, die sich besonders gut für den militärischen Missbrauch eignen – einzustellen. Bislang ohne Erfolg.

Abgesehen davon, dass der Iran aufgrund seines eigenen Fehlverhaltens derzeit sein Recht auf uneingeschränkten Zugang zu ziviler Nukleartechnologie verwirkt hat, war es nie das Ziel der USA oder seiner europäischen Partner, Teheran grundsätzlich und für immer davon auszuschließen. Vielmehr unterstützt der Westen grundsätzlich die Fertigstellung des iranischen Leichtwasserreaktors in Buschehr, solange die Brennstäbe von Russland geliefert und nach Gebrauch auch wieder zurückgenommen werden. In ihrem Angebot vom Juli 2006 bieten die E-3 plus 3 dem Iran sogar Unterstützung beim Bau weiterer Leichtwasserreaktoren an, sollte Teheran seine Urananreicherung und die Schwerwasserprojekte suspendieren sowie die mit der IAEO noch offenen Fragen klären. Wenn der Iran das durch sein eigenes Verhalten entstandene Misstrauen zerstreut hat, sind die E-3 plus 3 bereit, die Suspendierung der Urananreicherung und anderer Nukleartechnologien schrittweise aufzuheben. Zu keinem Zeitpunkt war es das Ziel, dem Iran ein ihm zustehendes Recht für immer grundsätzlich zu nehmen. Vielmehr liegt es am Iran selbst, das Vertrauen der internationalen Staatengemeinschaft zu gewinnen, um in vollem Umfang Kernenergie für zivile Zwecke zu nutzen.

» Eine Welt ohne Atomwaffen ist nicht erreichbar. Sie wäre auch gefährlicher als die heutige «

Das kommt darauf an. Das Ziel einer atomwaffenfreien Welt sollte nicht aufgegeben werden. Insofern sind Präsident Barack Obamas Abrüstungs-ziele und die jüngste UN-Resolution zu begrüßen. Zu Recht wurde Obama mit dem Friedensnobelpreis u.a. wegen seines Eintretens für eine atomwaffenfreie Welt ausgezeichnet. Nukleare Abschreckung kann fehlschlagen. Entgegen der landläufigen Meinung wissen wir nicht einmal, ob sie während des Kalten Krieges wirklich funktionierte. Auf jeden Fall hatten die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion Glück, dass die Kuba-Krise 1962 nicht nuklear eskalierte. Erfolgreiches Krisenmanagement war es jedenfalls nicht. Und wer wollte sich darauf verlassen, dass in künftigen Krisen beispielsweise Indien und Pakistan ähnliches Glück haben werden? Immerhin haben diese beiden Atommächte schon einmal einen begrenzten konventionellen Krieg – den Kargil-Krieg von 1999 – gegeneinander geführt. Kernwaffenstaaten können also durchaus Kriege gegen nukleare Nachbarn beginnen in der Hoffnung, dass die andere Seite aus Furcht vor einer nuklearen Eskala-tion selbst eine begrenzte Niederlage in einem solchen Konflikt zu akzeptieren bereit ist. Doch wie schon Clausewitz wusste, drängt der Krieg zum Äußersten, und eine Verhinderung der nuklearen Eskalation ist keineswegs garantiert. Dies gilt umso mehr im Nahen Osten, wo Israel unter dem Damoklesschwert einer iranischen Nuklearbewaffnung schon aufgrund seiner geografischen Lage keine Zweitschlagkapazität hätte. Es müsste daher dem Iran seine Atomwaffen schon relativ früh in der Krise aus der Hand zu schlagen versuchen, sodass Teheran wiederum geneigt wäre, diese frühzeitig einzusetzen, bevor sie verloren gingen.

Auf fortgesetzte Stabilität im Zeichen der nuklearen Abschreckung zu setzen heißt also letztlich, die Zukunft auf Sand zu bauen. Insofern ist das Ziel der völligen Atomabrüstung unausweichlich. Doch wer hat je behauptet, dieses Ziel wäre einfach zu erreichen? In der Tat handelt es sich hier um mehr als eine Herkulesaufgabe. Um eine Welt ohne Atomwaffen zu einem sicheren Ort zu machen, müssten heimliche nukleare Wiederaufrüstungen ausgeschlossen werden. Alle Staaten müssten sich dem Atomwaffenverbot anschließen. Ähnliches wurde beim BWÜ oder CWÜ bislang nicht erreicht. Außerdem würde ein verlässliches Überwachungssystem benötigt. Das würde hohe Kosten verursachen und eine gigantische Bürokratie schaffen. Wären die Diktaturen dieser Welt zu der erforderlichen Offenheit bereit? Und was wäre, wenn ein Staat bei einem heimlichen Atomprogramm erwischt würde? Wäre die höchste internationale Autorität, der UN-Sicherheitsrat, bereit, notfalls mit militärischen Mitteln gegen einen solchen Vertragsbrecher vorzugehen? Und was, wenn es sich dabei um ein ständiges Mitglied mit Vetorecht handelte? Gegen dessen Willen daher also keine rechtlich bindenden Resolutionen verfasst werden könnten? Konsequenterweise müsste also mit den Atomwaffen auch das Vetorecht im Sicherheitsrat abgeschafft werden. Mit andere Worten: Eine Welt ohne Atomwaffen setzt eine neue Weltordnung voraus. Es handelt sich also um ein Ziel, das nicht von heute auf morgen erreicht werden kann. Doch wir sollten uns auf den Weg machen. Die Annahme, dass die Menschheit für immer mit Atomwaffen leben kann, ohne dass sie eingesetzt werden, wird sich irgendwann als Irrglaube erweisen. Der dann angerichtete Schaden wäre unermesslich.

» Raketenabwehr verhindert nukleare Abrüstung «

Keineswegs zwingend. Mit seiner Entscheidung vom September 2009, von der Bush-Regierung geplante Raketenabwehrprojekte in Polen und Tschechien erst einmal nicht weiterzuverfolgen, hat Präsident Obama keineswegs Raketenabwehr per se aufgegeben. Angesichts der anhaltenden Gefahr, dass sich der Iran oder andere Länder weit reichende Atomraketen verschaffen, werden die USA weiterhin auf Raketenabwehr setzen, wenn auch mit anderen Schwerpunkten und in verringertem Umfang. Selbst Russland setzt seine Raketenabwehrprojekte fort, auch wenn Moskau gern den Eindruck erweckt, einzig die USA verfolgten solche Vorhaben.

Im Zeichen fortgesetzter Proliferation könnte Raketenabwehr in der Tat wichtige Schadensbegrenzungsoptionen bieten. Sollte eines Tages etwa eine Nahost-Krise mit einem nuklear bewaffneten Iran nicht mehr zu kontrollieren sein, wäre Europa froh, einer iranischen Atombedrohung nicht völlig schutzlos ausgeliefert zu sein. Zugleich darf Raketenabwehr jedoch nicht zu Rüstungswettläufen bei nuklearen Offensivwaffen zwischen den USA und Russland führen. Daher sollten beide die Möglichkeiten einer Zusammenarbeit bei der Raketenabwehr intensiv prüfen. Ansätze dazu sind bereits vorhanden. Auch China, das einen gemeinsamen amerikanisch-russischen Raketenschild fürchtet, wäre einzubeziehen.

Sollte dies gelingen, könnte eine kooperativ angelegte Raketenabwehr sogar zu einem wichtigen Bestandteil eines weltweiten Atomwaffenverbots werden. Eine solche Welt wäre nicht frei von Diktaturen. Damit sind der Überwachung immer Grenzen gesetzt. Sie wäre auch keine Welt ohne Raketen, denn immer mehr Staaten werden zivile Weltraumprojekte verfolgen. Es bestünde daher die Gefahr heimlicher Nuklearaufrüstung in einem Land, das auch Raketen besitzt und daher andere über weite Distanzen bedrohen könnte. Eine kooperative Raketenabwehr böte dagegen eine Rückversicherung und würde somit eine Abschaffung aller Atomwaffen erst ermöglichen.

Dr. OLIVER THRÄNERT ist Senior Fellow der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.