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01. März 2010

Rettet die nukleare Ordnung

... und schafft die Atomwaffen ab!

Die Menschheit steht vor einer doppelten Herausforderung: Wollen wir die Welt von Atomwaffen befreien, muss zunächst die nukleare Ordnung gerettet werden. Dazu benennt der Autor sieben zentrale Punkte. Umgekehrt gilt: Ohne die Perspektive einer Welt ohne Kernwaffen können wir die nukleare Ordnung nicht aufrechterhalten.

Ein zentrales Element internationaler Sicherheit droht aus den Fugen zu geraten: die nukleare Ordnung. Bislang ist es gelungen, die militärische Nutzung des Atoms auf wenige Staaten zu begrenzen. Die USA, Russland, Frankreich, Großbritannien und China sind laut Nuklearem Nichtverbreitungsvertrag (NVV) zum Kernwaffenbesitz autorisiert. Bis auf drei Ausnahmen (Indien, Pakistan, Israel) haben alle anderen Staaten rechtlich verbindlich für immer auf die stärkste aller Waffen verzichtet. Sie wollten dadurch gefährliche nukleare Rüstungswettläufe in ihrer jeweiligen Region verhindern.

Zudem erwirkten die nuklearen Habenichtse zwei wichtige Zugeständnisse: das nukleare Abrüstungsversprechen der Kernwaffenstaaten und die Zusicherung des freien Zugangs zur friedlichen Nutzung des Atoms. Nun droht aus einer Reihe von Gründen der Zerfall dieses Fundaments. Dazu zählen die Atomprogramme Nordkoreas und des Iran ebenso wie die Zerstrittenheit der Vertragsstaatengemeinschaft in Fragen der nuklearen Abrüstung. Damit die Wahrscheinlichkeit atomarer Kriege nicht steigt, muss der NVV zunächst einmal bewahrt werden. Das Fernziel muss jedoch in der Überwindung eben dieser atomaren Ordnung bestehen, nämlich in der Abschaffung aller Kernwaffen.

Indien und Pakistan verweigern ihre NVV-Mitgliedschaft. Beide demonstrierten 1998 mit ihren Nuklearexplosionen ihre Fähigkeit zum Bau von Kernwaffen. Trotz Sanktionsmaßnahmen des UN-Sicherheitsrats haben sie sich mittlerweile als Atommächte etabliert. Indien hat sogar auf Betreiben der USA insofern einen Sonderstatus erhalten, als es nunmehr bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie unterstützt werden darf – ein Privileg, das sonst nur Nichtkernwaffenstaaten zukommt, die sich in vollem Umfang den Überwachungsmaßnahmen der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) unterwerfen.

Israel, das dem NVV ebenfalls nicht beitrat, ist ein Sonderfall. Es verfügt seit Ende der sechziger Jahre über Nuklearwaffen, aber keine israelische Regierung hat dies je ausdrücklich bestätigt. Aufgrund seiner restriktiven Informationspolitik in nuklearen Angelegenheiten gibt es keine öffentlich zugänglichen, gesicherten Erkenntnisse über Art und Umfang des israelischen Atomwaffenarsenals.

Schließlich Nordkorea: Trotz NVV-Mitgliedschaft hat die dortige Clandiktatur ein militärisches Atomprogramm fortgeführt und zweimal nuklear getestet, zuletzt im Mai 2009. Pjöngjang war von der IAEO bereits Anfang der neunziger Jahre bei seinen illegalen Aktivitäten erwischt worden. Dennoch gelang es trotz vielfacher Bemühungen der internationalen Staatengemeinschaft unter Führung verschiedener US-Regierungen nicht, das nahezu völlig isolierte Land auf seinem Weg zur Bombe zu stoppen. Inzwischen hat Nordkorea den NVV gekündigt. Ob es jemals wieder auf einen nichtnuklearen Zustand zurückgeführt werden kann, erscheint gegenwärtig zweifelhaft.

Der Iran könnte das Fass zum Überlaufen bringen.

Bislang ist es trotz dieser Ausreißer gelungen, die nukleare Ordnung einigermaßen aufrechtzuerhalten. Doch nun droht das iranische Atomprogramm, das Fass zum Überlaufen zu bringen. Allem Anschein nach hat sich Teheran im Schatten eines zivilen Nuklearprogramms auf den Weg zum Bau der Bombe gemacht. Nicht nur hat es allen Sanktionen und Beschlüssen des UN-Sicherheitsrats zum Trotz seine Urananreicherung fortgesetzt, sondern es hat auch seine intensiven Arbeiten an nuklearen Sprengkopfdesigns und entsprechenden Zündern weiter vorangetrieben.

Warum ist gerade der Fall Iran für die nukleare Ordnung so bedrohlich? Nach Nordkorea wäre der Iran das zweite NVV-Mitglied, dem es gelänge, sich den Weg zur Bombe zu ebnen. Dies provoziert die Frage: Was ist der Vertrag – dessen Kern ja darin besteht, das Entstehen neuer Atommächte zu verhindern – noch wert, wenn Staaten, die rechtlich bindend auf Atomwaffen verzichtet haben, diese dann doch bauen? Diesen grundsätzlichen Punkt hat US-Präsident Barack Obama in seiner Prager Rede über die globale Abschaffung aller Atomwaffen im April 2009 thematisiert, als er davon sprach, dass Regeln verpflichtend sein müssen, Verstöße zu ahnden sind und Worte etwas bedeuten müssen.

Doch schlimmer noch: Eine iranische Bombe könnte im gesamten Nahen und Mittleren Osten gefährliche nukleare Rüstungswettläufe auslösen. Saudi-Arabien, Ägypten und auch die Türkei sind mögliche Kandidaten für eigene Atomwaffenprojekte. Dies ist kein Automatismus. Keinem dieser Länder würde es leicht fallen, die Bombe tatsächlich zu bauen oder sie anderweitig zu erwerben. Doch die Gefahr ist zweifellos gegeben. Vor allem dann, wenn Israel im Angesicht einer iranischen Atombedrohung seine bisherige Politik ändern und offen sein nukleares Abschreckungspotenzial ausweiten würde.

Neue Atomwaffenstaaten im Nahen Osten würden sich auch auf die Szenerie in Ostasien auswirken. Dort vertrauen Japan, Südkorea und andere amerikanische Partner auf Washingtons Sicherheitsgarantien. Ist die Barriere ihrer NVV-Mitgliedschaft und ihres damit einhergehenden Atomwaffenverzichts jedoch brüchig geworden, könnten sich auch diese Staaten angesichts chinesischer atomarer Aufrüstung und Nordkoreas Kernwaffen entschließen, sich lieber eine eigene nukleare Abschreckungsfähigkeit zuzulegen. Kurzum: Die nukleare Ordnung auch dann noch aufrechterhalten zu wollen, wenn sich der Iran trotz NVV-Mitgliedschaft bis zu einer Atomwaffenoption vorgearbeitet hat, dürfte sich als Illusion erweisen.

Deutsche Befindlichkeiten

Der Gefahren, die hier am Horizont lauern, ist man sich in Deutschland nur wenig bewusst. An starken Worten der Regierenden mangelt es jedoch nicht. Das Weißbuch der Bundesregierung aus dem Jahr 2006 spricht von der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und ihren Trägermitteln als der potenziell größten Bedrohung globaler Sicherheit und damit der größten politischen Herausforderung für die internationale Staatengemeinschaft. Doch wenn dem so ist, warum wird dann in diesem Land so wenig öffentlich darüber diskutiert, wie dieser Gefahr begegnet werden soll?

Der öffentliche Diskurs wird von innenpolitischen Themen dominiert. Sofern über internationale Fragen diskutiert wird, stehen andere Probleme als die nukleare Proliferation im Vordergrund: Klima, Wirtschaftskrise, Afghanistan. Kein Zweifel: Die sind alle wichtig. Doch fast immer wird übersehen, in welch engem Zusammenhang gerade diese Themen mit nuklearen Problemkomplexen stehen.

Mit dem Argument des notwendigen Klimaschutzes forciert die Nuklearindustrie das, was sie „Renaissance der Kernenergie“ nennt, und serviert damit immer mehr Ländern eine Begründung für den Bau von Kernkraftwerken auf dem Silbertablett. Sollte jedoch demnächst die nukleare Ordnung aufhören zu existieren, entfielen für diese friedlichen Nuklearprojekte die notwendigen Überwachungsmaßnahmen der IAEO, um militärische Zweckentfremdung auszuschließen. Abgesehen davon sei der Hinweis erlaubt, dass die globale Erderwärmung nach einem Atomkrieg wohl völlig neu zu diskutieren wäre. Die internationale Wirtschaftskrise dürfte sich dramatisch verschärfen, käme es rund um das iranische Atomprogramm zu einer Konflikteskalation. Und sollte Afghanistan doch wieder in die Hände der Taliban fallen, wäre auch Pakistans Stabilität weiter gefährdet. Niemand kann sich jedoch angesichts der pakistanischen Atomwaffen dort ein extremistisches Regime wünschen.

Dass diese Zusammenhänge oft ausgeblendet bleiben, ist kein Zufall. Vielmehr entspricht die weitgehende Ignoranz atomarer Bedrohungen einer inzwischen tief verwurzelten deutschen Befindlichkeit: Im Kalten Krieg wurden Atomwaffen nicht eingesetzt, die Abschreckung funktionierte. Am Ende fiel die Mauer, seither ist das atomare Damoklesschwert in den Archiven verschwunden. Schon zu Zeiten der Ost-West-Konfrontation hatten wir uns an die Rede vom nuklearen Tabu gewöhnt. Doch ist dies möglicherweise fahrlässig oder jedenfalls voreilig. Wäre der Einsatz von Atomwaffen tabu, dann bräuchten wir in der Tat keine Angst vor einem Atomkrieg zu haben. In Wahrheit wissen wir jedoch gar nicht, ob es dieses Tabu wirklich gibt.

Vielleicht ist der Verzicht auf den Einsatz von Kernwaffen seit 1945 bloß eine liebgewonnene Tradition. Traditionen können sich aber ändern. Insofern wäre dann die Rede vom nuklearen Tabu gefährlich, da sie die Auffassung nährt, die Verbreitung von Atomwaffen sei nicht mehr aufzuhalten. Dies sei aber nicht dramatisch, da diese Waffen ja ohnehin nicht eingesetzt würden. Diese Art von Fatalismus bezeichnete Obama in Prag zu Recht als gefährlichen Gegner. Wenn wir glauben, so der US-Präsident, immer mehr Atommächte hinnehmen zu müssen, dann geben wir uns selbst gegenüber zu, dass der Einsatz von Kernwaffen letztlich unausweichlich ist. Offenbar glaubt der amerikanische Präsident also nicht an das nukleare Tabu, und er hat gute Gründe dafür.

Abschreckungspessimismus

In der Tat ist Abschreckungsoptimismus fehl am Platz. Abschreckungspessimismus hingegen könnte uns, so paradox dies klingen mag, den Weg in die Zukunft weisen. Denn nur wenn wir erkennen, wie dünn das Eis ist, über das wir in atomaren Angelegenheiten bisher gewandelt sind, werden wir die Kraft aufbringen, uns der drohenden Zerstörung der nuklearen Ordnung zu widersetzen.

Zunächst wissen wir gar nicht, ob die nukleare Abschreckung wirklich funktionierte. Logisch ist es nicht zu beweisen, warum ein Ereignis – hier der heiße Ost-West-Krieg – nicht stattfand. Gewiss ist die Annahme plausibel, die Gefahr der nuklearen Eskalation habe beide Seiten zur Zurückhaltung bewogen. Aber selbst wenn dies richtig sein sollte, sagt es nichts darüber aus, ob und wie erfolgreiche nukleare Abschreckung unter gänzlich anderen Bedingungen auch in Zukunft gelingt. Überdies hatten Ost und West während ihrer Konfrontation mehrmals schieres Glück, dass es nicht zu einer atomaren Katastrophe kam, besonders während der Kuba-Krise.

Diese löste ein „nukleares Lernen“ aus. Beide Seiten begriffen, dass sie trotz ihrer Konfrontation auch Elemente der Kommunikation und Kooperation benötigten, um den beiderseitigen Untergang zu vermeiden. Die Rüstungskontrollverhandlungen der siebziger und achtziger Jahre waren von dieser Einsicht geprägt. Sie führten zwar erst zu spürbaren nuklearen Reduzierungen, als sich der politische Kern des Konflikts langsam auflöste. Schon viel früher aber trug der Dauerdialog zu einem gegenseitigen Verständnis von Strategien und Doktrinen bei. Auch legten beide Seiten Wert auf klare Kommando- und Kontrollstrukturen, um unbeabsichtigte oder aufgrund von Fehlinformationen ausgelöste Atomwaffeneinsätze zu verhindern. Nach der Watergate-Affäre sollen in den USA sogar Vorkehrungen getroffen worden sein, um einen nicht mehr zurechnungsfähigen Präsidenten daran zu hindern, auf den berühmten Knopf zu drücken. Es ist mehr als fraglich, ob solche Lernprozesse angesichts der vielschichtigen Konflikte beispielsweise im Nahen und Mittleren Osten mit mehreren Atommächten wiederholbar sind.

Einige Experten sind der Auffassung, Indien und Pakistan seien bereits auf den Pfad des „nuklearen Lernens“ eingeschwenkt. Seit ihren Atomtests habe sich die Lage in Südasien stabilisiert. Doch 1999 führten die beiden gegeneinander den Kargil-Krieg. Islamabad war damals offenbar der Auffassung, sich eine begrenzte konventionelle Aggression erlauben zu können, da Indien vor einer nuklearen Eskalation zurückschrecken würde.

Seither rüsten beide Seiten nuklear auf. Mehr noch: Indien beabsichtigt im Falle erneuter pakistanischer Provokationen à la Kargil, mit massierten konventionellen Kräften größere Teile Pakistans schnell zu besetzen, um dem unliebsamen Nachbarn eine Lehre zu erteilen. Stabilität zwischen Atommächten stellt man sich anders vor. Eine Welt mit noch mehr Atommächten würde also kaum stabiler sein. Im Gegenteil: Mehr nukleare Akteure mit vielfältigen Konflikten, instabilen innenpolitischen Bedingungen und mangelhafter Fähigkeit zu „nuklearem Lernen“ – das wäre eine brisante Mischung.

Sieben Punkte zur Rettung der nuklearen Ordnung

Was also ist zu tun, um die nukleare Ordnung zu retten, und welche Rolle könnte Deutschland dabei spielen? Sieben Punkte seien in der gebotenen Kürze genannt.

  1. Regelverletzungen ahnden: Das Wichtigste ist, deutlich zu machen, dass Verstöße gegen den rechtlich verbrieften Verzicht auf Atomwaffen geahndet werden – auch dann, wenn das entsprechende Land nach Aufdeckung eines Atomwaffenprogramms den NVV kündigt. Das betrifft zum einen Nordkorea. Die notwendigen Versuche, Pjöngjangs Nuklearwaffenprogramm zurückzuführen, sollten Deutschland und seine europäischen Partner den in den Sechs-Parteien-Gesprächen engagierten Regierungen überlassen (Nord- und Südkorea, China, USA, Japan, Russland). Anders im Fall Iran. Hier hat sich Berlin im Rahmen der E-3 plus 3 (Frankreich, Großbritannien, Deutschland, USA, Russland, China) auf einem so hohen diplomatischen Niveau engagiert wie nie zuvor in einer vergleichbaren Krise. Dieser Weg muss nun über entschlossene Sanktionen fortgeführt werden, nachdem Teheran die ausgestreckte Hand Obamas ausschlug. 
  2. Ein Abschlussdokument bei der NVV-Überprüfungskonferenz anstreben: Die im Mai 2010 anstehende NVV-Überprüfungskonferenz sollte ein von möglichst allen Delegationen getragenes Schlussdokument annehmen, das den NVV-Dreiklang „Nichtverbreitung–Abrüstung–friedliche Nutzung des Atoms“ erneut bekräftigt. Alle Vertragspartner würden verdeutlichen, dass die durch den NVV konstituierte nukleare Ordnung weiterhin in ihrem Interesse liegt. Mehr sollte man von der Zusammenkunft nicht erwarten.
  3. Die Verifikation stärken: Die IAEO hat in den neunziger Jahren das Zusatzprotokoll zu den Sicherungsabkommen zur Verhinderung des militärischen Missbrauchs friedlicher Atomprogramme beschlossen. Es enthält erweiterte Meldepflichten für die Regierungen und verbesserte Zugangsmöglichkeiten für die Inspektoren. Leider werden diese modernen Verifikationsregeln derzeit nur von etwa der Hälfte der NVV-Mitglieder umgesetzt. Deutschland hat im Rahmen der EU wie der G-8 und der Gruppe der nuklearen Lieferländer dafür geworben, das Zusatzprotokoll zum Standard der NVV-Verifikationserfordernisse zu machen. Dies ist bislang nicht nur beim Iran, sondern auch etwa bei Ägypten oder Brasilien auf Widerstand gestoßen. Dennoch sollte sich Berlin nicht beirren lassen und gemeinsam mit Gleichgesinnten die Akzeptanz des Zusatzprotokolls weiterhin einfordern. 
  4. Den Brennstoffkreislauf internationalisieren: Bisher verfügen nur wenige Staaten über sensitive Technologien wie Urananreicherung und Wiederaufbereitung, die sich besonders gut auch für militärische Atomprogramme eignen. Damit dies künftig so bleibt, müssen Strategien weiterentwickelt werden, diese beiden Enden des Brennstoffkreislaufs zu internationalisieren. Dazu liegen viele Vorschläge auf dem Tisch, darunter auch ein sehr interessanter deutscher über die Errichtung einer Urananreicherungsanlage auf exterritorialem Gebiet unter Aufsicht der IAEO. Viele Schwellen- und Entwicklungsländer bleiben skeptisch, da sie Einschränkungen ihrer Rechte auf die friedliche Nutzung der Kernenergie fürchten. Es wird noch viel Überzeugungsarbeit bedürfen, diese Zweifel zu zerstreuen. Dabei muss immer wieder die Freiwilligkeit der Beteiligung an internationalen Projekten sowie die Sicherung des Zugangs zu nuklearem Brennstoff für zivile Atomprogramme betont werden.
  5. Indien, Pakistan und Israel einbeziehen: Indien, Pakistan und Israel können nicht für immer der internationalen Nuklearordnung fernbleiben. Indiens zivile Atommeiler werden bereits IAEO-Kontrollen unterzogen. Dies ist auch in Pakistan der Fall, wo die IAEO ebenfalls wichtige Unterstützungsleistungen für die Sicherung ziviler nuklearer Anlagen und nuklearer Materialien leistet. Diese beiden Länder wie auch Israel müssen jedoch perspektivisch enger an die nukleare Ordnung angebunden werden. Dabei gilt es zu beachten, dass diese Staatengruppe alles andere als homogen ist. Die Gründe für ihren Atomwaffenerwerb waren sehr unterschiedlich. Von Israel beispielsweise zu verlangen, es sollte seine Atompolitik ändern, solange Teheran nicht zweifelsfrei auf Kernwaffen verzichtet und sich seine Lage in einer feindlichen Umgebung geändert hat, dürfte wenig aussichtsreich sein. Dennoch sollte sich Deutschland an diplomatischen Bemühungen beteiligen, schrittweise über Transparenz- und Kooperationsmaßnahmen die nukleare Außenseiterrolle Indiens, Pakistans und Israels aufzuheben. 
  6. Die Abschaffung aller Atomwaffen anvisieren: Vieles von dem, was bis hierher als erstrebenswert geschildert wurde, wird nur erreichbar sein, wenn die Atommächte die nukleare Abrüstung weiter vorantreiben. Das hat US-Präsident Obama richtig erkannt. Mit seiner Prager Initiative für eine „Globale Null“ hat er einen Fixstern gesetzt. Berlin sollte Obama bei der Verfolgung dieses Zieles uneingeschränkt unterstützen. Allerdings gilt es dabei zu beachten, dass Obama in Prag auch davon sprach, dass eine glaubhafte nukleare Abschreckung notwendig ist, solange Atomwaffen existieren. Für Deutschland stellt sich die Frage, welchen Sinn die hierzulande stationierten US-Nuklearwaffen noch haben. Schierer Populismus ist hier fehl am Platz. Militärisch mögen diese Waffen weitgehend überflüssig geworden sein. Doch haben sie allianzpolitische Funktionen: Sie binden Amerika nuklear an Europa an, was besonders neue NATO-Mitglieder mit Blick auf Russland weiterhin schätzen; sie geben Stationierungsländern erweiterte Mitspracherechte und sie verhindern, dass NATO-Mitglieder ihre eigenen Atomwaffen entwickeln. Im gleichen Maße, in dem die amerikanischen Atomwaffen in Europa – möglichst im Kontext von Abrüstungsverhandlungen mit Moskau, die auch zur Reduzierung russischer nichtstrategischer Nuklearwaffen beitragen – abgebaut werden, muss für diese allianzpolitischen Aufgaben Ersatz gefunden werden. Eine NATO-weite Raketenabwehr bietet sich hier an.
  7. Die Raketenabwehr kooperativ weiterentwickeln: Viele in Deutschland mögen sich noch immer nicht mit dem Gedanken anfreunden, aber der Raketenabwehr wird in den kommenden Jahren erhöhte Bedeutung zukommen. Sollte die nukleare Ordnung nicht zu halten sein und sollten daher immer neue Atommächte entstehen, würde Raketenabwehr eine sehr wichtige Schadensbegrenzungsoption bieten. Denn beabsichtigte oder auch unbeabsichtigte Kernwaffeneinsätze könnten nicht verlässlich ausgeschlossen werden. Sollte die „Globale Null“ Wirklichkeit werden, hätte Raketenabwehr ebenfalls eine wichtige Funktion. Eine Welt ohne Atomwaffen wäre keine Welt ohne Diktaturen. Der Überprüfung wären daher immer Grenzen gesetzt.  Zugleich wäre eine Welt ohne Atomwaffen keine Welt ohne Raketen, denn immer mehr Staaten werden zivile Weltraumprogramme initiieren. Damit bestünde immer die Gefahr prompter Nuklearbedrohungen im Falle geheim gehaltener Nuklearprogramme. Raketenabwehr könnte dagegen eine Rückversicherung bieten. Allerdings müsste sie vor allem mit Blick auf Russland und auch China kooperativ angelegt sein. Über die Architektur einer solchen umfassenden Raketenabwehr nachzudenken, ist eine sehr schwierige, aber lohnenswerte Aufgabe.

Die nukleare Ordnung retten – und überwinden

Die anstehende Herausforderung ist eine doppelte: Wer die Welt von Atomwaffen befreien will, muss zunächst die nukleare Ordnung retten. Umgekehrt gilt: Ohne die Perspektive einer Welt ohne Kernwaffen wird die nukleare Ordnung nicht aufrechtzuerhalten sein. Barack Obama hat den Weg für die „Globale Null“ skizziert. Damit Deutschland sich an diesem Projekt kreativ beteiligen kann, ist eine breitere gesellschaftliche Debatte vonnöten.

Dr. OLIVER THRÄNERT ist Senior Fellow bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2011, S. 10 - 19

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