Zu komplex und fragmentiert
China muss seine Strukturen für Entwicklungshilfe dringend reformieren
China ist ein Entwicklungsland. Aber es ist seit vielen Jahrzehnten auch Entwicklungshelfer – allerdings mit völlig intransparenten Strukturen. Das Handelsministerium spielt eine zentrale Rolle, denn Entwicklungshilfe ist eng verzahnt mit Außenhandel. Doch Kritik kommt von höchster Stelle: Staatschef Xi Jinping selbst nimmt sich des Themas an.
Entwicklungshilfe ist ab jetzt Chefsache. Anfang Februar verabschiedete die Zentrale Führungsgruppe zur umfassenden Vertiefung der Reformen die „Stellungnahme zur Umsetzung der Reform der Entwicklungshilfe“. Allein die Tatsache, dass sich diese Führungsgruppe der Entwicklungshilfe annimmt, ist bedeutsam. Ende 2013 von Partei- und Staatschef Xi Jinping eingerichtet, steht sie unter seiner Leitung, ihr gehören die führenden Kader aller zentralen Politikfelder an und sie soll dafür sorgen, dass die von der Zentrale vorgegebenen Reformen auch umgesetzt werden.
Xis persönliche Zielvorgaben für die Entwicklungshilfe, so heißt es, sprechen eine deutliche Sprache: Die strategische Konzeption der Entwicklungshilfe muss optimiert, das Management der Entwicklungshilfefinanzen und -projekte verbessert, das Verwaltungssystem und -mechanismen reformiert und die Effektivität der Entwicklungshilfe als Ganzes gesteigert werden.
Die Reformvorgaben mögen den einen oder anderen kritischen China-Beobachter in der westlichen Entwicklungscommunity überraschen. In China selbst ist die Kritik nicht neu. Noch vor Veröffentlichung des ersten Weißbuchs zur Entwicklungshilfe (April 2011), in dem der Staatsrat als „Antwort auf die westliche Kritik“ erstmals Zahlen zu chinesischen Entwicklungsfinanzen offenlegte, hatte Ministerpräsident Wen Jiabao im August 2010 in einer Rede vor der Nationalen Entwicklungshilfekonferenz die Architektur der Entwicklungshilfe kritisiert: Die Koordinierung zwischen den Behörden lasse zu wünschen übrig, die Aufsicht über Staatsunternehmen, die Entwicklungshilfeprojekte umsetzen, sei quasi nicht durchsetzbar und die Wirkungen als Ganzes kaum messbar.
Damals beging China gerade den 60. Jahrestag des „Entwicklungshilfemodells mit chinesischen Charakteristika“, das kurz nach Gründung der Volksrepublik mit den Wiederaufbauhilfen für Nordkorea auf den Weg gebracht wurde. Oft wird ja übersehen, dass die Volksrepublik eine genauso lange Geschichte als Geber hat wie als Empfänger – sie ist sogar länger Geber als viele „traditionelle“ Geberländer.
Doch die chinesische Entwicklungshilfearchitektur, darin sind sich Politiker und Experten seit Langem einig, ist zu komplex und fragmentiert. Das ist der wahre Grund für die fehlende Transparenz der chinesischen Entwicklungshilfefinanzen, die so oft in der westlichen Entwicklungscommunity kritisiert wird. Eigentlich hat niemand den Überblick, wird in privaten Gesprächen zugegeben.
Neu ist allerdings die Deutlichkeit, mit der die Führung Kritik übt: „China muss weiser handeln, wenn es Entwicklungshilfe vergibt“, wird Xi Jinping in der South China Morning Post nach einer Sitzung der Reform-Führungsgruppe zitiert. Dabei hat das Inspektionsteam der Zentralen Disziplinarkommission im Zuge von Xis Antikorruptionskampagne in seinem Untersuchungsbericht vom September 2013 ein hohes Potenzial für Korruption in Entwicklungshilfeprojekten gemeldet, denn es ist kaum möglich, ihre Umsetzung vor Ort zu kontrollieren. Auch bei der Projektvergabe an Staatsunternehmen traten viele Ungereimtheiten auf. Es gab zahlreiche Fälle, in denen Projektbudgets nachträglich angepasst wurden, und eine besorgniserregende Häufung von illegalen Ausgaben.
Das für die Koordinierung der Entwicklungshilfe zuständige Handelsministerium gelobte Besserung und setzte nach dem 12. Nationalen Volkskongress im März 2014 eine interne Reform-Führungsgruppe unter der Leitung von Handelsminister Gao Hucheng ein. Doch außer der Verabschiedung einiger Verordnungen wie den „Maßnahmen für die Administration der Entwicklungshilfe“, die immerhin das erste umfassende rechtliche Dokument mit Gesetzescharakter waren, ist nicht viel geschehen. Gao Hucheng, der sich dem Pensionsalter nähert, wurde im März durch den Handelsexperten und Xis Verbündeten Zhong Shan ersetzt.
Eine ambitionierte Agenda
Je nach Schätzung rangiert der Umfang der chinesischen Entwicklungshilfe derzeit zwischen dem sechsten und dem neunten Platz weltweit. Berücksichtigt man die nichtkonzessionären Kredite und geht man von einer breiten Definition von Entwicklungsfinanzierung aus, liegt China sogar fast gleichauf mit den USA. Seit 2009 betrug der jährliche Zuwachs etwa 11 Prozent. Gleichzeitig jedoch fielen Chinas Devisenreserven Ende Januar auf unter drei Billionen Dollar und somit auf den niedrigsten Stand seit sechs Jahren. Dies erzeugt viel Druck, auch auf die Entwicklungshilfe, die im Sinne von Chinas proklamierter „Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen“ neben der Bekämpfung der weltweiten Armut noch weiteres leisten soll: den chinesischen Unternehmen bei ihrem „Going Global“ eine sanfte Landung bereiten, die Umsetzung der Seidenstraßen-Strategie unterstützen, das Image als international verantwortungsvollen Akteur stärken und nicht zuletzt dabei helfen, die eigene Reformagenda in der globalen Ordnungspolitik voranzutreiben.
Mit steigenden Zahlen und Zielvorgaben wächst auch der Legitimationsdruck nach innen. „Warum gibt man immer mehr Geld in anderen Ländern aus, wenn bei uns auf dem Land die Schulen und Krankenhäuser auf dem Stand von Dritte-Welt-Ländern sind?“, lautet eine typische Kritik in Internetforen, wenn wieder einmal neue Projektzusagen verkündet werden. Hinzu kommt, dass natürlich auch die internationale Kritik an der chinesischen Entwicklungshilfe im Lande sehr wohl wahrgenommen wird. Als im Januar 2015 Kambodscha infolge massiver lokaler Proteste den Bau des Stung-Cheay-Areng-Staudamms in der Provinz Koh Kong stoppte, der durch das Staatsunternehmen Sinohydro durchgeführt werden sollte, schrieb die japanische Wirtschaftszeitung Nikkei: „Der Schwerpunkt der chinesischen Entwicklungshilfe muss sich von Quantität zu Qualität verschieben.“ Über 30 chinesische Staatsmedien veröffentlichten diesen Artikel auf ihren Webseiten, mit Titelzusätzen wie „Zerstört nicht die Umwelt“ und „Entwicklungshilfe-Bauprojekt führt zu Unmut bei der lokalen Bevölkerung“. In der politischen Öffentlichkeit Chinas werden Nachdrucke ausländischer Artikel oft als Kommunikationsinstrument im Umgang mit sensiblen Themen verwendet, wenn keine direkte Kritik möglich ist.
Veraltete Strukturen
Dem Afrika-Experten Li Anshan von der Peking-Universität zufolge gab es bereits 2008 Überlegungen, eine eigenständige Entwicklungshilfeagentur oder ein Entwicklungshilfeministerium einzurichten. Schon damals war man der Ansicht, dass die Koordinierung des stetig wachsenden Entwicklungshilfeetats die Kapazitäten des Handelsministeriums übersteigt. Reformen wurden immer wieder eingefordert. Jedes Mal gelang es aber dem Handelsministerium, diese abzuwehren. Ein Blick auf die Zahlen offenbart, warum es auch kein Interesse daran haben dürfte, den Entwicklungshilfeposten abzugeben: Entwicklungshilfe macht über 80 Prozent seines Gesamtetats aus. Das Handelsministerium ist also de facto schon ein Entwicklungshilfeministerium. Doch wenn die chinesische Entwicklungshilfe all das leisten soll, was sich die Pekinger Führung von ihr verspricht, ist eine Reform der Entwicklungshilfearchitektur unabdingbar.
Derzeit stehen in ihrem Zentrum neben dem Handelsministerium das Außen- und das Finanzministerium. Zwar liegen Koordinierung und Administration beim Handelsministerium, doch da Entwicklungshilfe auch ein außenpolitisches Instrument ist, erfolgt die Formulierung der Politik gemeinsam mit dem Außenministerium. Bei der Budgetplanung muss es sich mit dem Finanzministerium abstimmen, wobei das Budget von der Nationalen Entwicklungs- und Reformkommission genehmigt wird. Daneben sind über 20 weitere Ministerien und ministerielle Strukturen auf zentralstaatlicher Ebene sowie ihre nachgeordneten Behörden auf Provinzebene in die Umsetzung von Hilfsprojekten involviert. Hinzu kommen die China Export- und Importbank sowie Spezialfonds wie der China-Afrika-Fonds oder der Süd-Süd-Kooperationsfonds.
Die zentrale Rolle des Handelsministeriums spiegelt die Verzahnung von Entwicklungshilfe, Außenhandel und Auslandsinvestitionen wieder. Das ist etwas, so gibt man hinter verschlossenen Türen zu, was China von Japan gelernt hat. Denn in den achtziger Jahren stellte Peking mit Bewunderung fest, dass japanische Investitionen in Infrastruktur und Schwerindustrie sowohl einen wichtigen Beitrag zur Wirtschaftsentwicklung und Armutsminderung in China leisteten, als auch der japanischen Industrie halfen, sich zu internationalisieren. So wurde Japan ab Mitte der neunziger Jahre Modell für die Verknüpfung von Entwicklungshilfe und der „Going-Global“-Strategie.
Doch Entwicklungshilfe ist nur eine der Aufgaben des Ministeriums, das eigentlich den chinesischen Außenhandel voranbringen soll. Politikformulierung, Vorbereitung und Durchführung von Projekten sind bei der Abteilung für Entwicklungshilfe angesiedelt, die etwa 100 Mitarbeiter hat, von denen allerdings nur etwa 70 Entwicklungshilfeexperten sind. Den verfügbaren zuverlässigen Zahlen zufolge bedeutet dies, dass der Entwicklungshilfeetat des Handelsministeriums zwischen 2010 und 2014 von 1,78 auf 2,9 Milliarden Euro anstieg, während das Personal der Abteilung im Wesentlichen gleichblieb. Zum Vergleich: Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) verwaltete 2014 einen Etat von 6,4 Milliarden Euro mit 1025 Mitarbeitern im Inland; durch die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) als Vorfeldorganisation kamen 2014 noch 16 410 Mitarbeiter weltweit hinzu.
Doch nicht nur die personelle Knappheit der Entwicklungshilfeabteilung ist in China ein Problem. Als „Abteilung“ hat sie innerhalb der bürokratischen Hierarchie einen niedrigeren Rang als die Ministerien, die sie eigentlich koordinieren soll. Und da alle Behörden zumeist eigene Interessen verfolgen, berichten sie vertikal nach oben innerhalb der eigenen Bürokratie. Horizontale Koordinierung auf Ebene des Handelsministeriums findet eigentlich nicht statt. Wenn es vor Ort Probleme gibt, erfährt das Handelsministerium (und der Staatsrat) es im schlimmsten Fall aus der westlichen Presse. China braucht eine professionelle Entwicklungshilfebehörde, schrieb Miao Lu, die Generalsekretärin der Denkfabrik „Zentrum für China und Globalisierung“ in einem Kommentar der Global Times.
Deutsch-chinesische Kooperation
Deutschland und China haben im Juni 2016 die Gründung eines deutsch-chinesischen Zentrums für nachhaltige Entwicklung vereinbart. Ziel ist es, gemeinsame Projekte der Entwicklungszusammenarbeit für Partnerländer in Asien und Afrika durchzuführen. Doch innerhalb des chinesischen Handelsministeriums ist der Ansprechpartner des BMZ gar nicht die Entwicklungshilfeabteilung, sondern die Abteilung für den internationalen Handel und wirtschaftliche Angelegenheiten, die traditionell für die nach China eingehende Entwicklungshilfe und Geberangelegenheiten zuständig war.
Nachdem die meisten Geberländer die bilaterale Entwicklungshilfe mit China eingestellt haben, sucht sie nach einer neuen Legitimation ihrer Existenz. Abstimmung zwischen den beiden Abteilungen gibt es kaum, so sagt man im Handelsministerium. Sollte Xi seine Reformpläne tatsächlich umsetzen, eröffnet sich für die deutsch-chinesische Zusammenarbeit ein neues Handlungsfeld.
Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit hatte in China traditionell einen guten Ruf – wegen ihres Projektmanagements und ihrer Wirkungsorientierung. Der neue deutsche Marshall-Plan für Afrika wird in der Volksrepublik eher kritisch gesehen, teilweise belächelt. „Deutschland will nun ausgerechnet das machen, wofür es gemeinsam mit anderen westlichen Ländern China lange kritisiert hat“, schreibt Li Xiaoyun, einer der bekanntesten chinesischen Entwicklungshilfeexperten. „Und nun fängt Deutschland an, sich China als Beispiel zu nehmen“ – weg von der Geber- und Nehmermentalität, hin zu wirtschaftlicher Kooperation zum gegenseitigen Nutzen und zur Verflechtung von Entwicklungs-, Handels- und Investitionspolitik.
Anstatt also mit China zu konkurrieren, könnte Deutschland mit China in den Bereichen zusammenarbeiten, in denen beide Länder komplementär sind und in denen Xi Reformen gefordert hat: bei der Verbesserung des Managements der Entwicklungshilfefinanzen und -projekte, Beratung beim Aufbau einer spezialisierten Entwicklungshilfebehörde und Einführung eines Wirkungsmonitoring-Systems, das den Namen wirklich verdient. Das wäre dann eine „Win-Win-Win“-Situation: für Deutschland, China und die Partnerländer.
Marina Rudyak arbeitet am Institut für Sinologie der Universität Heidelberg und promoviert zur chinesischen Entwicklungshilfepolitik. Zuvor war sie mehrere Jahre für die GIZ in Peking tätig.
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2017, S. 102-106