Titelthema

02. Sep 2024

Partner mit Anspruch: Deutschland und der Globale Süden

Rohstoffe, Handel, Sicherheit: In Zeiten der Verschiebung globaler Kräfteverhältnisse hat auch
Deutschland Schwierigkeiten, neue Kooperationen anzubahnen. Oft fehlt es an Gespür und an wahrer Augenhöhe – und dann ist da noch China. 

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Bild: Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze und Bundesarbeits­minister Hubertus Heil beim Besuch einer Schule der Sunbeam Foundation (Ghana) im Februar 2023.
Europa liefert die weiche Infrastruktur: Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze und Bundesarbeits­minister Hubertus Heil beim Besuch einer Schule der Sunbeam Foundation (Ghana) im Februar 2023.
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Schmerzhaft hat Deutschland nach Russlands Überfall auf die Ukraine lernen müssen, wie hoch die Kosten einer übermäßigen wirtschaftlichen Abhängigkeit sein können. Nun will Berlin auch die Importabhängigkeit von China in kritischen Bereichen reduzieren. „De-Risking“ ist das Stichwort. Es geht um die Diversifizierung von Rohstoffquellen, Produktionsstätten und Lieferketten. Der Blick richtet sich gen Süden. Doch egal, wohin man schaut: China ist schon da. 

Deutschlands Bemühungen, die Kooperation zu vertiefen, kommen reichlich spät. Zu lange hat man den Globalen Süden vor allem in Kategorien von Armut und Unterentwicklung gedacht, wenn man ihn überhaupt jenseits entwicklungspolitischer Debatten sah. Die deutschen wirtschafts- und geopolitischen Diskussionen drehten sich über Jahre hinweg fast ausschließlich um das Dreieck USA–Europa–China. Der „Rest“ kam darin kaum vor; und wenn, dann meist als Opfer von Chinas Ressourcenhunger und Schuldenfallendiplomatie – ein Opfer, das vor China zu retten sei.

Jetzt will sich Deutschland selber retten und sucht dafür nach De-Risking-Partnern im Globalen Süden. Die Zukunft der deutschen Industrie und somit auch des Wohlstands und der sozialen Marktwirtschaft stehen auf dem Spiel. Doch es gehe, so die Botschaft, um mehr als ausschließlich nationale – oder europäische – Interessen, sondern um global faire Wettbewerbsbedingungen. Nicht gegen China, sondern um De-Risking für alle. 

Allerdings will sich der Globale Süden den entsprechenden Einladungen nicht so recht anschließen. Auch Warnungen vor China fallen auf wenig fruchtbaren Boden, obwohl sich im Globalen Süden kaum ein Land findet, in dem die Interaktionen mit China ohne Kontroversen ablaufen. Denn oft geht Pekings Präsenz mit kolonialen Handlungsmustern einher: Infrastruktur und Industriegüter gegen Zugang zu natürlichen Ressourcen, massive Handelsdefizite, Missachtung von Arbeits- und Sozialstandards, Umweltzerstörung, Rassismus oder Korruption – die Liste der Vorwürfe an China seitens betroffener Gruppen ist lang. 

Pekings Präsenz im 
Globalen Süden geht oft mit kolonialen Handlungsmustern einher 

Aber China bringt genau die Themen auf den Tisch, die für die Politiker im Globalen Süden die höchste Priorität haben, die Entwicklung von Infrastruktur und Industrien. Es bringt auch das notwendige Geld und Investitionen mit, um entsprechende Vorhaben zu realisieren. Für das Umsetzen dieser Prioritäten ist China oft nicht einfach eine Option, es ist die eine Option. Denn, so äußern sich afrikanische Politikerinnen, „wenn wir mit China reden, kriegen wir eine Straße oder einen Flughafen. Wenn wir mit Europa reden, kriegen wir Vorträge.“ 

Man will keine Vorträge, man will mitreden. Das aber scheitert, trotz der deutschen Rhetorik von Partnerschaft auf Augenhöhe, oft schon schlicht und ergreifend am Visum. Anfang Juni 2024 tagten in Bonn die ständigen Nebenorgane der dort ansässigen Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen. 5000 Delegierte wurden am Rhein erwartet, sehr viele davon aus dem Globalen Süden, darunter Staaten, die am meisten vom Klima­wandel betroffen sind. Für sie geht es auch um De-Risking. 

Doch Dutzende Verhandler konnten gar nicht nach Bonn reisen, da ihnen die Einreisevisa entweder verweigert wurden oder die positiven Visabescheide erst nach Beginn der Konferenz ankamen. Mehrere Koalitionen afrikanischer und asiatischer Klimaaktivistinnen wandten sich per Brief direkt an Außenministerin Annalena Baerbock. In dem Abschlussdokument der Konferenz nahmen die Delegierten „mit Besorgnis die Schwierigkeiten einiger Delegierter zur Kenntnis, Visa für die Teilnahme an den Sitzungen in Bonn zu erhalten“ und drängten auf eine „rechtzeitige Erteilung von Visa“. 


Kaum Gespür für die Stimmung 

Wie wenig Gespür es für den Blick der Länder des Globalen Südens auf weltweite Verschiebungen gibt, zeigt sich am Umgang mit dem Begriff „Globaler Süden“. Die gleichen politischen, Policy- und akademischen Zirkel, die selbstverständlich den Begriff „Westen“ als Kategorie für die reichen Industriestaaten des Globalen Nordens verwenden, würden den Begriff „Globaler Süden“ am liebsten begraben. Zu unterschiedlich und divers sind die Länder, um die es geht, von ihrer Wirtschaftsstruktur und Entwicklung bis hin zu den politischen Interessen. Hinzu kommt: Auch China nimmt für sich in Anspruch, ein Teil des Globalen Südens zu sein. Das macht den Begriff besonders problematisch. 

Doch wer den Begriff ablehnt, obwohl die Staaten des Globalen Südens ihn extensiv für sich reklamieren, übersieht, welche Bedeutung und Nützlichkeit er für dies Länder als Ausdruck einer kollektiven Identität hat. In den Worten des ehemaligen singapurischen Diplomaten und Wissenschaftlers Bilahari Kausikan, der sein Land unter anderem bei den Vereinten Nationen vertrat, verkörpert der Begriff „Globaler Süden“ eine bestimmte Stimmung – einen Kater von der kolonialen Erfahrung, Verdruss über die politischen und wirtschaftlichen Ungleichheiten im globalen System und schließlich eine gewisse Verärgerung über die wahrgenommene Einigkeit westlicher, insbesondere europäischer und nordamerikanischer diplomatischer Positionen. 

Laut Kausikan ist China im Globalen Süden so erfolgreich, weil es diese Stimmung ernst nimmt – oder zumindest vorgibt, sie ernst zu nehmen. Oft sind Chinas Erfolge ein direktes Ergebnis davon, dass der Westen, allen voran Europa und die USA, diese Stimmung nicht ernst genommen hat. China ist in Räume gegangen, die der Westen offengelassen hat.

China dominiert den Handel mit den wichtigsten Ländern des Globalen Südens. Zwischen 2019 und 2023 verdoppelte sich Pekings Handel mit dem Globalen Süden um nahezu 50 Prozent und belief sich auf über 1,9 Billionen US-Dollar. Es hat die EU und die USA als wichtigste Handels­partner abgelöst. 

Nirgendwo ist Chinas Fußabdruck so groß wie in Afrika. Während Europa den Kontinent noch immer größtenteils als einen der Armut und der Krisen sieht, ist er für China das Land der unbegrenzten Möglichkeiten – nicht immer zum Vorteil der afrikanischen ­Bevölkerung. Die Europäische Union und die USA mögen zwar die größten Geber von öffentlicher Entwicklungshilfe in Afrika sein, aber als größter wirtschaftlicher Akteur hat China die USA inzwischen überholt. Zwischen 2007 und 2020 verlieh China mehr als doppelt so viel Geld für Infrastrukturprojekte in Subsahara-Afrika wie die USA, das Vereinigte Königreich, Japan und Deutschland zusammen. 2023 erreichte Chinas Handelsvolumen mit Afrika das histo­rische Hoch von 282 Milliarden Dollar, etwa genauso viel, wie der kumulierte Handel der EU-Staaten mit Afrika. 

Das Handelsvolumen zwischen den USA und Afrika dagegen betrug im Jahr 2022 gerade einmal 72 Milliarden Dollar. Während Chinas Handel mit Afrika seit 2000 kontinuierlich wächst, fällt der Amerikas seit der globalen Finanzkrise von 2008 stetig; mehr noch, er hat sich seit 2008 halbiert. Inzwischen zeichnet China für ein Drittel aller großen Infrastrukturprojekte in Afrika verantwortlich. Chinesische Bauunternehmen zählen inzwischen zu den größten Arbeitgebern in Afrika. Auch in Afrikas Telekommunikations- und Digitalsektor ist China der größte Akteur. 


Die neue Blockfreiheit

Die europäische Antwort auf all das sollte nach den Worten von Kommissionpräsidentin Ursula von der Leyen die Global Gateway-Initiative sein: „Intelligente Investitionen in hochwertige Infrastruktur, die entsprechend unseren Werten und ­Ansprüchen höchsten Sozial- und Umweltstandards genügen.“ Sie sollte Entwicklungsländern eine bessere Wahl ermöglichen. Inzwischen, im vierten Jahr der Initiative, gibt es zwar fast 90 Projekte. Doch diese sind recht kleinteilig und unkoordiniert, bemängeln Kritiker. Es fehlen der begleitende politische Dialog und eine koordinierte europäische Vision.

Der Globale Süden will sich nicht entscheiden. Die Antwort auf den systemischen Konflikt zwischen den USA und China, den einige inzwischen als einen neuen Kalten Krieg bezeichnen, ist eine neue Form von Blockfreiheit. Die Länder des Globalen Südens gehen lieber spezifische und thematische Allianzen ein, als sich in Blöcke einzuordnen. Der ehemalige chilenische Wirtschaftsminister und Ökonom Carlos Ominami bezeichnet dies als eine „aktive Blockfreiheit“ in einer multiplexen Welt, in der es keine klaren ideologischen und wirtschaftlichen Trennlinien mehr gibt. In ihr sind die westliche liberale Moderne und ihre bevorzugten Pfade der wirtschaftlichen Entwicklung und des ­Regierens nur ein Teil des Angebots. 

Das binäre Narrativ „Demokratie versus Autokratie“ findet im Globalen Süden kaum Resonanz

Die Demokratien im Globalen Süden mögen politisch und emotional nah am Westen sein, doch das binäre Narrativ „Demokratien versus Autokratie“ findet angesichts der engen wirtschaftlichen Verflechtungen mit China kaum Resonanz. Während die USA und die EU Zugänge zu ihren Märkten beschränken, sei China „open for business“, erzählte der ehemalige Präsident Boliviens Jorge Quiroga Ramírez beim Raisina-Dialog im Februar dieses Jahres in Neu-Delhi. Es sei derzeit unmöglich, ein Freihandelsabkommen durch den US-Kongress zu bekommen. Das habe „nichts mit Trump zu tun, sondern damit, wie der US-Kongress funktioniert, oder wie er eben nicht funktioniert“. Mit Europa sehe es auch nicht besser aus, denn die Organisation Mercosur verhandelt inzwischen seit 1999 ein Handelsabkommen mit der EU, „das längste Turteln ohne Hochzeit, das es in der Geschichte des Universums je gegeben hat“, sagt Ramírez.

Es scheint, als hätten in dieser neuen geopolitischen Auseinandersetzung die Akteure die Seiten getauscht. Die alte „Dritte Welt“ sah sich als Opfer eines internationalen Systems, das sie ­ausbeutete, und propagierte daher eine Agenda der autarken Entwicklung und einer Abkopplung von den Ländern des Globalen Nordens. Der faire Handel war ein Schlagwort gegen die Ungerechtigkeiten des freien Welthandels. Die aufstrebenden Mächte des neuen Südens hingegen haben von der Globalisierung profitiert und diese aktiv mitgestaltet. Nun sind es nicht mehr die Entwicklungsländer, die sich von den Dynamiken der globalen politischen Ökonomie bedroht fühlen und sich abschotten wollen. Es sind die Industrieländer des Globalen Nordens, die sich dem Protektionismus zuwenden, im Falle der USA auch dem Isolationismus, und „fairen Wettbewerb und Handel“ fordern. 


Spielt Deutschland keine Rolle mehr?

Die harte Realität, die sich in Deutschland kaum jemand eingestehen will: Die größte Gefahr im Globalen Süden ist, dass Berlin keine Rolle mehr spielt. Der US-Journalist Fareed Zakaria definierte die postamerikanische Weltordnung als eine, die sich nicht durch den Niedergang der USA auszeichne, sondern durch den Aufstieg des Rests. Und dieser „Rest“ emanzipiert sich. Die größte Freihandelszone der Welt, das Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP), zu der die ASEAN-Staaten, China, Japan, Südkorea, Indien, Austra­lien und Neuseeland gehören, findet ohne die Beteiligung der Europäischen Union oder der USA statt. 

Beim letzten BRICS-Gipfel in Johannesburg, bei dem die Erweiterung des Blocks auf der Agenda stand, hatten 40 Länder einen Beitrittswunsch bekundet. 67 Staatsoberhäupter waren geladen – der französische Präsident Emmanuel Macron, der gegenüber Pretoria einen Teilnahmewunsch geäußert hatte, hingegen nicht. Westliche Zeitungen stellten sich daraufhin die Frage, ob die liberale ­Demokratie versagt habe und ob der Globale Süden sich vom Westen löse. 

Nun sind es die Industrieländer des Globalen Nordens, die sich abschotten oder isolieren wollen 

Doch auch wenn China und Russland den Block in wachsendem Maße als eine Allianz gegen den Westen betrachten, so sind die meisten BRICS-Entwicklungsländer weder prochinesisch oder prorussisch noch antiwestlich. Stattdessen leitet sie die Hoffnung, dass mehr Größe mehr Sicherheit bedeutet. Denn viele Länder des Globalen Südens empfinden die bestehende internationale Ordnung als zutiefst ungerecht. Sie sehen darin ein System, das vorrangig die Interessen des Westens schützt und ihre Interessen nicht ausreichend repräsentiert. Allem Reden von der „regelbasierten Ordnung“ wird mit Misstrauen begegnet. 

Zudem sehen viele Länder ihre Stabilität durch steigende Energie- und Nahrungsmittelpreise im Gefolge der Sanktionen gegen Russland gefährdet. Auch wenn sie Russlands Invasion in der Ukraine verurteilen, glauben sie gleichzeitig, dass die USA und Europa sich nicht genug für einen Waffenstillstand einsetzen.

Dabei gibt es unter den BRICS selbst viel Uneinigkeit. China und Russland wollten eine Erweiterung des Blocks, Brasilien und Indien nicht, stattdessen fordern sie mehr Koordination mit der Gruppe reicher Industrieländer, den G7. China und Indien tragen teilweise mit Waffengewalt Grenzstreitigkeiten aus. Doch trotz der Unterschiede funktioniert der Block; auch das ist etwas, das ihn für viele Länder ­attraktiv macht.


Interessen des Südens ernst nehmen

Wenn Deutschland den Globalen Süden als einen De-Risking-Partner gewinnen will, muss es seine Interessen ernst nehmen. Das Narrativ „Demokratie versus Autokratie“ verfängt im Globalen Süden nicht. Stattdessen ist das Kerninteresse Entwicklung. Während Europa mit der Global Gateway-Initiative eine Alternative zu China sein will, sieht der Globale Süden China und Europa nicht als Konkurrenten an, sondern als Anbieter unterschiedlicher Entwicklungsleistungen: China liefert harte Infrastruktur wie Straßen, Fabriken, Telekommunikationsnetze – Europa liefert die weiche Infrastruktur, also Good Governance und Standards. Das öffnet Räume für Dreieckskooperation mit China bei Infrastruktur und Industrieent­wicklung. 

Bisher war die Bundesregierung zurückhaltend: Zu groß ist die Angst vor dem Vorwurf des Whitewashing, der Schönfärberei. Viele stellen sich auch die Frage, würde man des autoritären Chinas dadurch Herr, dass man dessen Projekte besser machte? Dieser Angst zu folgen, ist aber der Weg in die Irrelevanz. Es wäre verkehrt, die Entwicklung allein China zu überlassen. Dreieckskooperation ist von Seiten zahlreicher Entwicklungsländer ausdrücklich erwünscht, eine deutsche Beteiligung würde sicherstellen, dass zum Beispiel die dringend benötigte Infra­struktur umwelt- und sozialverträglich und nachhaltig gebaut würde. 

 Gleichzeitig sind echte Reformen der Global-Governance-Strukturen wichtig – und zwar am besten, bevor „der Rest“ das Vertrauen in deren Reformfähigkeit oder gar in sie selbst verliert. Einen Sitz der Afrikanischen Union in der G20 zu unterstützen, ist dafür kaum ausreichend. Die viel größere Frage ist, ob der Westen bereit ist, die Macht zu teilen und den Globalen Süden als einen Mitgestalter der internationalen Ordnung zu akzeptieren.      

Dieser Artikel ist in der gedruckten Version unter dem Titel „Partner mit Anspruch" erschienen.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 5, September/Oktober 2024, S. 46-51

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Dr. Marina Rudyak ist Sinologin und forscht am Zentrum für Asien- und Transkulturelle Studien der Universität Heidelberg zu Chinas Entwicklung und Außenpolitik.

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