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01. Jan. 2007

Zu hohe Erwartungen?

EU-Ratspräsidentschaft und G-8-Vorsitz: 2007 wird ein Schlüsseljahr deutscher Außenpolitik

Zu Beginn seiner EU- und G-8-Präsidentschaft ist Deutschland politisch und wirtschaftlich in einer so guten Verfassung wie schon lange nicht mehr. Wenn es die wichtigsten anstehenden Fragen nun beherzt anpackt, könnte es tatsächlich ein Global Player sein. Aber die deutschen Eliten sind darauf nicht wirklich vorbereitet.

Im Jahr 2007 übernimmt Berlin die Präsidentschaft von zwei der weltweit wichtigsten multilateralen Foren, der Europäischen Union und der Gruppe der acht wichtigsten Industrieländer (G-8). Endlich scheint sich auch der ständige deutsche Trübsinn gelichtet zu haben; unter den Kommentatoren herrscht sogar ein beunruhigender, erregter Taumel über die Erfolgschancen der deutschen Diplomatie. Betrachtet man die Weltlage aus europäischer Sicht – Wachstumsraten, die sich nur allmählich von Dauertiefständen erholen, das Scheitern der europäischen Verfassung in Frankreich und den Niederlanden, der an die Wand gefahrene Türkei-Beitritt, die in Mitgliedsstaaten wie Österreich und Frankreich ausbrechende Erweiterungsmüdigkeit und fehlendes Einvernehmen über den generellen zukünftigen Kurs der EU – dann scheint diese Zuversicht auf den ersten Blick kaum mehr als ein Pfeifen im Walde zu sein.

Dennoch gibt es handfeste Gründe für diesen Optimismus. Trotz ihrer immer noch sehr niedrigen Umfragewerte steht die Regierung Merkel weitaus besser da als die meisten anderen wichtigen westlichen Staatsführungen. Jacques Chirac liegt im politischen Koma, die letzten Tage von Tony Blair sind angebrochen, und George W. Bush ist von seinen desillusionierten Landsleuten endlich gefügig gemacht worden – allein die Bundesregierung unter Frau Merkel zeigt Anzeichen von politischem Durchhaltevermögen. Das wird in den anstehenden EU- und G-8-Treffen der entscheidende politische Faktor sein, weil Berlin dadurch Spielräume hat, die den unter Druck stehenden Gesprächspartnern fehlen.

Zweitens lässt sich Deutschlands hohes politisches Gewicht einfach nicht ignorieren. Auch wenn es weite Teile der deutschen politischen Elite vielleicht noch nicht wahrhaben mögen: Berlin spielt eine politisch, wirtschaftlich und diplomatisch zentrale Rolle, sowohl für die transatlantischen Beziehungen als auch für das europäische Projekt. Deutschland wird als der entscheidende Katalysator für die europäische Entscheidungsfindung wahrgenommen, da es eine konzeptionelle Mittelposition einnimmt zwischen dem britischen Wunsch, die EU beständig zu erweitern (ohne sie stark zu vertiefen) und dem französischen Ziel, die EU-Strukturen zu vertiefen (ohne sie noch stärker zu erweitern). Als ein traditioneller Vertreter sowohl der Vertiefung als auch der Erweiterung (und trotz der gegenwärtigen Türkei-Krise) wird Berlin als der uneigennützigste der Großen Drei in Europa betrachtet. Deshalb werden Berlin die besten Chancen eingeräumt, Brüssel aus seiner momentanen Krise herauszuholen.

Das gleiche gilt für die transatlantische Allianz. Großbritannien wird von vielen als Amerikas „Trojanisches Pferd“ betrachtet, Frankreich als reflex-artig amerikakritisch und damit wenig sachdienlich. Berlin aber gilt immer noch als Europas Tie-Breaker: proamerikanisch und proeuropäisch, ein kritischer Freund Amerikas, aber dennoch ein Verbündeter. Angela Merkel hat ihr Land wieder in diese traditionell sehr vorteilhafte Stellung zurückmanövriert, indem sie eine sehr gute, vertrauensvolle Basis mit George W. Bush gefunden hat. So ist es ihr gelungen, Deutschland aus dem Abseits der Ära Schröder zu holen, ohne die substanzielle Kritik an der Politik der Bush--Regierung aufzugeben.

Drittens scheint der europäische Dauerpatient Deutschland auch wirtschaftlich auf dem Weg der Besserung zu sein. Für das deutsche Bruttoinlandsprodukt wird 2006 mit einer Wachstumsrate von 2,3 Prozent gerechnet. Auch wenn das nach amerikanischen Maßstäben noch nicht beeindruckend ist, für Deutschland ist es die beste Wachstumsrate seit 2000. Die Arbeitslosenquote, lange Zeit der Fluch der allzu reglementierten deutschen Wirtschaft, ist zum ersten Mal seit 2002 unter zehn Prozent gefallen. Die Regierung Merkel bringt auch das Haushaltsdefizit wieder unter Kontrolle. Selbst wenn man berechtigte Zweifel haben kann, ob diese vielversprechenden Wirtschaftstrends wirklich allein das Ergebnis von Regierungs-initiativen sind, kann man doch nicht übersehen, dass Deutschland seinen ersten wirtschaftlichen Miniboom seit vielen Jahren erlebt. Zu Beginn seiner EU- und G-8-Präsidentschaft befindet sich Deutschland also politisch und wirtschaftlich in einer so guten Verfassung wie schon lange nicht mehr.

Viertens wird die Kanzlerin, auch wenn die Innenpolitik ihrer Großen Koalition nicht sehr beliebt ist, auf der internationalen Bühne als erfolgreich wahrgenommen. Sowohl in der EU als auch in transatlantischen Kreisen hat sie in ihrem ersten Regierungsjahr beachtliche Erfolge erzielt. Mit dem Entwurf eines britisch-französischen Kompromisses in der heiklen Frage des EU-Budgets legte sie kurz nach Amtsantritt ihre diplomatische Reifeprüfung ab. Daraufhin schloss sie, ohne erkennbaren Kotau vor dem Weißen Haus, die deutsch-amerikanische Kluft, die durch das Irak-Zerwürfnis Kanzler Schröders mit Präsident Bush entstanden war. Wenn einem der diplomatische Erfolg dann erst einmal zugetraut wird, kann er zum Selbstläufer werden. Auch das erklärt die äußerst positive Stimmung gegenüber Berlin.

Zeichen politischer Unreife

In dieser besonderen Konstellation aus historisch gewachsenem Gewicht, stabiler innenpolitischer Wetterlage, handlungsfähiger Führung und wirtschaftlichem Aufschwung sollten die Grundvoraussetzungen für eine erfolgreiche und dynamische Führungsarbeit Deutschlands im Schlüsseljahr 2007 eigentlich gegeben sein. Aber Deutschland besteht nicht nur aus einer starken Kanzlerin und seinen Exportweltmeister-Unternehmen. In weiten Teilen der Bevölkerung und der politischen Klasse sind die Größe der Aufgabe und die daraus erwachsenden, weitreichenden Konsequenzen für Deutschland noch nicht erfasst worden – oder werden schlicht abgelehnt. In der diffusen Ablehnung der Globalisierung und der ausschließlichen Wahrnehmung ihrer Risiken, einer Zurückweisung des politischen Kernkonzepts des nationalen Interesses, einer zunehmenden Skepsis gegenüber der (auch militärischen) Verantwortung Deutschlands in der Welt und einer Brandmarkung wirtschaftlich dringend notwendiger Reformen als neoliberal und ausbeuterisch manifestiert sich der tief sitzende biedermeierliche Reflex eines reformmüden Landes. Praktischen Niederschlag findet diese Haltung vor allem dann, wenn sich Deutschland dann doch auf die Bühne der Weltpolitik begibt, etwa mit der von vornherein aussichtslosen Kampagne um einen ständigen Sitz im UN--Sicherheitsrat und der aus Populismus geborenen, unpolitischen und undiplomatischen Haltung in der Irak-Frage. Von den verpassten Chancen, sich vor und bei der EU-Osterweiterung als Anwalt der auf Deutschland hoffenden mittel- und osteuropäischen Staaten zu positionieren, ganz zu schweigen.

Diese Reduktion der deutschen Rolle, das ist das Bizarre daran, ist vollkommen selbst verordnet und eben nicht von außen vorgegeben. Dies ist der entscheidende Unterschied zur Zeit vor dem 9. November 1989, als eine zwar freie, aber nicht voll souveräne Bundesrepublik und eine weder freie noch souveräne DDR im Windschatten ihrer Garantiemächte Nebenrollen im Weltgeschehen spielten. Aus dieser verordneten Unmündigkeit der Nachkriegszeit hat das vereinte Deutschland noch nicht herausgefunden. Erschwert wird dies dadurch, dass, anders als früher, die deutsche Frage nicht mehr das Zentrum aller geostrategischen Fragen bildet.

Wenn heute ausländische Gäste nach Deutschland kommen, dann wollen sie nicht mehr über Deutschland reden, sondern mit Deutschen über die Welt. Als Gesprächspartner bleibt Deutschland deshalb nur dann interessant, wenn es bereit und in der Lage ist, auf weltpolitischem Niveau intellektuelle und materielle Beiträge zu leisten. Die Welt erwartet dies von Deutschland. Nur Deutschland erwartet es noch immer nicht von sich selbst. Das ist ein Zeichen politischer Unreife, und sie abzulegen ist wahrscheinlich eine der wichtigsten Reformleistungen, die Deutschland in den kommenden Jahren erbringen muss. Falls diese Leistung nicht erbracht wird, läuft das Land Gefahr, als provinzieller Riese nicht nur nicht ernst genommen zu werden, sondern sogar Misstrauen und Angst zu erzeugen. Denn nicht vor einem selbstbewussten Deutschland muss man sich fürchten, sondern vor dem Deutschland, aus dessen Unsicherheit Wankelmut und aus dessen Schwäche Unzuverlässigkeit werden könnte. Letztlich ist das deutsche Problem ein Problem der Selbstwahrnehmung. Die Mentalität eines Großteils der deutschen politischen Elite stammt aus der Zeit vor dem 9. November. Das reicht nicht für die Welt nach dem 11. September.

Die Türkei-Frage

Die anhaltende politische Krise um den EU-Beitritt der Türkei ist so etwas wie der ungebetene Gast an der deutschen Präsidentschaftstafel. Denn trotz fieberhafter Aktivitäten ist es der finnischen Ratspräsidentschaft nicht gelungen, ein Abgleiten der türkischen Beitrittsgespräche in eine ausgewachsene Krise zu verhindern. Die EU hat am 12. Dezember 2006 beschlossen, acht von 35 Verhandlungskapiteln mit Ankara auszusetzen, bis die Türkei ihre Häfen und Flughäfen für den griechischen Teil Zyperns öffnet. Die Regierung Erdogan zeigte sich enttäuscht; ihre kurzfristige Initiative zur Entschärfung der Lage war wirkungslos geblieben. Grundsätzlich ist die Türkei zum Einlenken nur dann bereit, wenn die EU zugleich ihre Politik gegenüber dem türkisch kontrollierten Norden der Insel aufgibt, die auf ein Wirtschaftsembargo hinausläuft. Die griechischen Zyprioten wurden unverständlicherweise in die EU aufgenommen, bevor die Zypern-Frage gelöst wurde. Sie waren es, die den letzten Versuch für eine Friedenslösung für die Insel abgelehnt hatten. Man muss gar kein Unterstützer Ankaras sein, um zu verstehen, dass die Türkei das Gefühl haben könnte, mit ihr sei nicht immer ganz ehrlich verhandelt worden.

Die Türkei-Frage ist für die Kanzlerin deshalb so gefährlich, weil sie die tiefe Spaltung in ihrer eigenen Regierung offenbart. Außenminister Steinmeier ist einer der Architekten der sozialdemokratischen protürkischen Beitrittshaltung, während Frau Merkel eine deutlich skeptischere Linie verfolgt, die in ihrer Partei viele Anhänger hat. Während der Ratspräsidentschaft wird es Angela Merkels Aufgabe sein, diese schwierige Spaltung mit der staatsmännischen Rolle in Einklang zu bringen, die sie als Gesicht und Stimme Europas einnehmen muss. Dieser Spagat ließe sich am besten bewerkstelligen, indem man die Türkei-Frage nüchtern und auf der Basis grundlegender Fakten beurteilt.

Die Einsicht mag unbequem sein, aber es wäre eine geostrategische Katastrophe für den Westen und besonders für die EU, wenn die türkischen Beitrittsgespräche endgültig scheiterten. Denn im Gegensatz zu fast allen anderen EU-Beitrittskandidaten verfügt die Türkei über strategische Alternativen zum Beitritt, auch wenn diese alle weniger attraktiv sind. Ankara wird, über 80 Jahre nach dem säkularen, westlich orientierten Atatürk, kaum eine umfassende Partnerschaft mit den iranischen Mullahs oder den panarabischen Baathisten in Syrien eingehen. Eine mürrische, nach innen gewandte, nachtragende und unkooperative Türkei wäre die wahrscheinlichere Folge. Eine solche Türkei hätte nur geringes Interesse am Funktionieren westlicher Institutionen und würde dem Westen kaum dabei helfen, Reformdruck auf ihre arabischen Glaubensbrüder im Nahen Osten auszuüben. Sie würde eine gewaltige transatlantische Debatte über die Frage „Who lost Turkey?“ auslösen, die die angeschlagene transatlantische Allianz noch weiter gefährden könnte.

Aber die Regierung Merkel hat eine Reihe von Optionen, mit denen sie den Schaden begrenzen kann. Eine erwachsene, reife Außenpolitik ist oft wie Klempnerarbeit, d.h. man repariert kleine Schäden, bevor sie sich zu großen Schäden auswachsen. Als erstes sollte Deutschland sich mit Nachdruck für eine Wiederbelebung des Annan-Plans für eine Lösung des Zypern-Problems einsetzen. Die griechischen Zyprioten müssen dazu bewegt werden, die darin vorgesehene Dezentralisierung der Insel zu akzeptieren. Zweitens sollte die EU unbedingt die Beitrittsverhandlungen in den weiterhin offenen Kapiteln fortsetzen. Drittens sollte sie diskret auf einer Öffnung der türkischen Häfen bestehen und parallel dazu an einer Aufhebung des Handelsembargos gegen Nordzypern arbeiten. (Athen muss dafür gewonnen werden, entsprechenden Druck auf die griechischen Zyprioten auszuüben.)

Nachdem Berlin so der EU ihre vermittelnde Rolle in der Beitrittsfrage wiedergegeben hat, sollte es, viertens, im Stillen damit beginnen, dem Konzept der „privilegierten Partnerschaft“ (oder anderen alternativen Absprachen zwischen der EU und der Türkei) in der Praxis mehr politische Substanz zu verleihen. Derzeit sind diese Ideen nur rein rhetorische Mittel, die der Türkei von in Verlegenheit geratenen europäischen Politikern angeboten werden, während in Wirklichkeit versucht wird, die Aussichten für eine Mitgliedschaft Ankaras im Club der EU zu verringern. Das ist weder eine akzeptable noch eine kluge politische Position. Die Merkel-Präsidentschaft könnte der EU (und der Türkei) einen großen Gefallen tun, wenn sie diese Gedanken ausbuchstabiert, und zwar nicht als Alternative zu einem EU-Beitritt, sondern als Rückzugsposition im Fall eines Scheiterns des Beitrittsprozesses. Dann könnte man der Türkei, statt sie ins internationale Nichts zu befördern, substanzielle Alternativen anbieten. Eine echte privilegierte Partnerschaft müsste die Fortsetzung weiterer wirtschaftlicher Integration einschließen, weitere Abkommen zum Austausch von Geheimdienstinformationen sowie Maßnahmen, um die bereits existierenden Verbindungen zwischen den USA, Europa, der Türkei und Israel zu formalisieren. Wenn die Regierung Merkel der EU so eine weitere Handlungsoption für den Fall einer Krise eröffnete, ohne dabei die ernsthaften Bemühungen um einen Beitritt zu unterlaufen, wäre sie auf jede Unwägbarkeit vorbereitet. Es wäre ein Versuch, den Schaden zu begrenzen, den ein Scheitern des Beitritts verursachen könnte. So handeln erwachsene Großmächte.

Die Kosovo-Frage

Ein großer Teil der außenpolitischen Agenda der deutschen Präsidentschaft wird durch das aktuelle Tagesgeschehen und die sich kurzfristig entwickelnden globalen Krisenszenarien bestimmt werden. Gleich am Anfang wird dabei die Kosovo-Frage wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Am 21. Januar 2007 wird in Serbien ein neues Parlament gewählt, und obwohl sich die wesentlichen serbischen politischen Kräfte in der Kosovo-Frage nicht unterscheiden, ist es vor dem Wahltermin vorrangiges Ziel der internationalen Gemeinschaft, die innerserbische Debatte nicht durch Vorstöße aufzuladen. Wahrscheinlich schon kurz nach den Wahlen wird zudem der UN-Sonder-gesandte Ahtisaari seinen Vorschlag für eine zukünftige Regelung der Statusfrage vorlegen. Und so mehren sich auch in der Bundesregierung die Stimmen, die davon ausgehen, dass das Kosovo ein Hauptthema der deutschen Präsidentschaft werden könnte.

Die Ziele der EU in dieser Region vor ihrer Haustür sind klar: Für die Länder des westlichen Balkans ist im Juni 2003 in der Erklärung von Thessaloniki eine klare, aber zeitlich unbestimmte Perspektive für eine Vollmitgliedschaft in der EU geschaffen worden.1 Was wie Einigkeit klingt, ist in Bezug auf das Kosovo innerhalb der EU aber höchst umstritten. In dem Prinzipienstreit zwischen Serben und Kosovoalbanern, die unvereinbare Positionen bezogen haben, hat die EU ihre Rolle als Ordnungsmacht noch nicht gefunden, da sie sich auf eine einheitliche und damit starke Position nicht einigen kann. Um hier nicht von den Ereignissen überrollt zu werden, muss die EU diese Einigkeit aber zügig herstellen. Die gemeinsame Position der EU kann im Fall Kosovo realistischerweise nur die Akzeptanz einer möglichst weitgehenden Unabhängigkeit des Kosovo bei gleichzeitiger Garantie robuster Minderheitenrechte der dort lebenden Serben sein. Auch geht der internationale Trend in diese Richtung. Der Wille der mehrheitlich albanischen Bevölkerung im Kosovo kann auf Dauer nicht ignoriert werden, wenn man Frieden und Stabilität erreichen will.

Bevor man aber Serbien diese schmerzhafte Entscheidung abringen kann, muss die EU-Position stehen. Vor allem Spanien lehnt eine Unabhängigkeit des Kosovo kategorisch ab, da es fürchtet, damit ein Exempel für die Unabhängigkeit des Baskenlands zu schaffen, d.h. gegenüber den separatistischen Basken jede Glaubwürdigkeit einzubüßen, wenn es den Kosovaren die den Basken verwehrte Unabhängigkeit zugesteht. Aufgabe der deutschen Ratspräsidentschaft müsste es sein, Spanien aus seiner Vetostellung herauszuhelfen. Die Kosovo-Frage ist eben nicht mit der Baskenproblematik vergleichbar. Das Kosovo hatte bereits im jugoslawischen Staatsverbund eine autonome Stellung und ist seit Ende des Krieges ein UN-Protektorat. Das Kosovo kann also auf eine Anerkennung gewisser Formen der Selbständigkeit verweisen, die das Baskenland nie hatte. Das spanische Baskenproblem wird nicht auf dem Balkan gelöst; eine Verquickung dieser Probleme ist deshalb unstatthaft und unterminiert die außenpolitische Rolle der EU.

Deutschland hat darüber hinaus auch ein veritables Eigeninteresse, die Blockade in der EU aufzulösen. Seine Soldaten stehen seit vielen Jahren auf dem Balkan, speziell im Kosovo, um eine multiethnische Fiktion aufrechtzuerhalten, die illusorisch ist, aber auch aus innereuropäischen Gründen nicht hinterfragt werden darf. Es macht sich damit zum Anwalt der innenpolitischen Staatsräson anderer Mitgliedsstaaten, ohne selbst in derselben Weise betroffen zu sein oder in diesem Bereich ähnliche Interessen zu verfolgen.

Die kommenden Entscheidungen zum Kosovo sind also ein Test für die Ernsthaftigkeit, innereuropäische Hindernisse zu überwinden, um die einheitliche Stimme, die Frau Merkel zu Recht so vehement einfordert, zu erzeugen. Sie ist damit auch ein Test für die Reife der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). Schon einmal hat der Balkan die Glaubwürdigkeit dieser Politik zutiefst erschüttert. Sollte die EU diesmal erneut nicht handlungsfähig sein, und sollte die Lage auf dem Balkan erneut eskalieren, kann sich die EU nicht darauf verlassen, dass die USA diesen Missstand, wie Anfang der neunziger Jahre, noch einmal korrigieren werden. Dann werden auch spanische Soldaten gefragt sein. Deutsche ohnehin.

Die Energie-Frage

Vorn auf der Liste der deutschen Ratspräsidentschaft steht auch das Thema Energiesicherheit. Derzeit ist Energie ein Gewinnerthema, denn es ist nicht nur en vogue, sondern bietet dank seiner handfesten Bedeutung für jedermann auch eine Möglichkeit zur Profilierung der EU, die anderen EU-Themen oft abgeht. Die Bevölkerung versteht intuitiv den Kern des Problems, nämlich die Frage der Versorgungssicherheit, und kann sich die strategische Bedeutung, die aus den Lieferabhängigkeiten erwächst, sehr gut ausmalen. Zudem kann hier ein perfekter politischer Querpass zu dem anderen heißen aktuellen Thema, dem Klimawandel, gespielt werden. Ausgerechnet dort aber, wo die Energiefrage den konkretesten Europa-Bezug hat, reicht die deutsche Linie nicht weit genug. Denn das Energiethema ist auf europäischer Ebene ein Binnenmarktthema.

Der Energiesektor gehört nicht zu den vergemeinschafteten Bereichen; im EG-Vertrag findet sich kein einziger Bezug auf diesen essenziellen Wirtschaftszweig. Die deutsche Ratspräsidentschaft hat sich auf die Fahnen geschrieben, den Binnenmarkt für Energie weiter auszubauen; sie hebt dabei vor allem auf die Richtlinien für Gas und Strom ab, die es endlich voll umzusetzen gelte. Gleichzeitig hat sie aber wiederholt Stellung gegen eine volle Vergemeinschaftung der Energiepolitik, d.h. die weitgehende Abgabe nationaler Regulierungsrechte an die Brüsseler Ebene, bezogen.2 Dieser Spagat ist auf Dauer nicht durchzuhalten. Eine nachhaltige Position in dieser Frage sollte die Notwendigkeit gesamteuropäischer Märkte mit den Bedürfnissen nationaler Daseinsvorsorge vereinen. Ein Weg könnte es sein, die Hoheit über den umstrittenen Energiemix (also die Anteile verschiedener Energiequellen) nicht europaweit zu regulieren, sondern bei den EU-Mitgliedsstaaten zu belassen, und dafür im Gegenzug eine weitgehende Vergemeinschaftung dieses Wirtschaftszweigs einzufordern. Eine separate Regulierungsbehörde für Energie würde so überflüssig, denn diese Aufgabe kann von der Kommission, die auch jetzt schon alle anderen vergemeinschafteten Politiken überwacht, wahrgenommen werden.

Diese Lösung hätte mehrere Vorteile: Sie orientiert sich an einem bewährten Modell, nämlich der Gründungsidee der Europäischen Gemeinschaft, die mit der Montanunion und Euratom Schlüsselindustrien erfolgreich vergemeinschaftet hatte. Zweitens lässt diese Lösung beim „Wie“ der Energieerzeugung jeden Wettbewerb zu. Modelle, die auf herkömmliche Erzeugung setzen, stehen dabei in direkter Konkurrenz zu Modellen, die in den Zukunftstechnologien Wachstumsmärkte erkennen. Drittens würde diese Lösung ein wichtiges Signal für die Stärkung des Binnenmarkts und der europäischen Wettbewerbsregeln setzen. Protektionistischen Neigungen, wie sie sich in der spanischen Behinderung der Endesa-Übernahme durch Eon zeigen, könnte damit erheblich wirksamer begegnet werden. Viertens schließlich würde dieses Modell auch die von der Kanzlerin wiederholt eingeforderte Einstimmigkeit der EU in Fragen der Energieaußenpolitik3 demonstrieren und die EU als außenpolitischen Akteur in einem zentralen Zukunftsthema stärken. Es wäre jetzt an Deutschland, für diese Lösung zu werben, auch wenn bis zur Umsetzung noch viel Zeit vergehen wird. In die Zukunft projiziert erscheint dieses noch unrealistisch anmutende Konstrukt alternativlos.

Die Frage des transatlantischen Freihandels

In Anbetracht der gescheiterten WTO-Runde zur Liberalisierung des Welthandels ist es höchste Zeit, die Sache des Freihandels weiter voranzutreiben. Die Kanzlerin hat hierzu den Versuch unternommen, die Idee eines Transatlantischen Freihandelsabkommens (TAFTA) wiederzubeleben, eine Idee, für die sich bereits der künftige britische Premier Gordon Brown eingesetzt hat.

Auf den ersten Blick spricht viel für diese Idee. Obwohl Amerikas Handelsvolumen mit Asien größer ist, investiert es weit mehr in Europa als in Fernost. Dasselbe gilt für europäische Investitionen in den USA (wenn auch nicht in gleichem Maße). Dank der Investitionen Großbritanniens, der Niederlande und Irlands ist Europa die weltweit mit Abstand größte Quelle von Auslandsdirektinvestitionen in den USA – und umgekehrt. Großbritannien ist dabei der größte individuelle Investor in den USA, die USA sind der größte Investor auf der Insel. Angesichts solch enger, bereits bestehender Bindungen, so könnte man meinen, sollte jeder Vorstoß, der den weiteren Ausbau dieser Investitionsflüsse zum Ziel hat, ein Kinderspiel sein.

Das kleine, schmutzige Geheimnis der Doha-Runde ist es aber, dass sie vor allem an der Widerspenstigkeit eben dieser beiden Partner gescheitert ist. Europa hat sich hoffnungslos in der Gemeinsamen Agrarpolitik verheddert und sich nicht genügend um die agrarpolitische Liberalisierung bemüht, die eigentlich Kennzeichen dieser „Entwicklungsrunde“ der Handelsliberalisierung hätte sein sollen. Präsident Bush hat die Doha-Runde ebenfalls nie zu einer Priorität gemacht, weder durch die Vereinbarung (hinter verschlossenen Türen) einer gemeinsamen Agrarposition mit den Europäern noch durch den Einsatz echten politischen Kapitals, um ein Abkommen voranzutreiben. Und das trotz eines freihandelsfreundlichen Kongresses in Washington.

Wenn die Landwirtschaft also der entscheidende Stolperstein für Doha war, ist TAFTA dann nicht von Anfang an zum Scheitern verurteilt? In Anbetracht der sich weiter verhärtenden Positionen nach dem Scheitern von Doha scheint eine umfassende TAFTA tatsächlich unrealistisch – und wenn sie doch möglich wäre, dann sollte man lieber gleich eine komplette multilaterale WTO-Runde zum Erfolg bringen. Bedenkt man allerdings die Größe der beiden Märkte, so wäre bereits ein unvollkommenes bilaterales Abkommen ein Hoffnungsschimmer, da es ein Signal für Freihandel setzen und die praktischen Vorzüge weiterer Liberalisierung aufzeigen würde. Ein bisschen mehr Freihandel auf bilateraler Ebene ist besser als gar kein weiterer Freihandel.

Zwar muss die Kanzlerin bei TAFTA sehr vorsichtig sein, um damit eine Wiederbelebung von Doha nicht von vornherein zu unterminieren. Aber sie sollte dennoch ihre TAFTA-Idee zeitgleich vorantreiben. Insbesondere sollte sie auf die Angleichung von Produktstandards (inklusive Sicherheitsvorschriften) und Dienstleistungen drängen und die weitere sektorale Liberalisierung vorantreiben. Frau Merkel sollte zudem auf den Abbau von Hemmnissen im Kapitalverkehr hinarbeiten. Obwohl diese technischen Fragen wenig politischen Sex-Appeal aufweisen, würde eine solche Initiative dem Wachstum in Europa wie in Amerika zu Gute kommen. Wichtiger noch: Es wäre eine globalisierungsfreundliche Initiative aus jenem Europa, dem so oft vorgehalten wird, es würde in einen nostalgischen, aber destruktiven Protektionismus zurückgleiten.

Erwachsen werden heißt, sich vom Wunschdenken zu verabschieden

Allein die Absicht, in einem so kurzen Zeitraum Themen wie das Kosovo, Energie, TAFTA und die Türkei entscheidend anpacken zu wollen, ist aller Ehren wert. In der Tat wäre es bereits ein großer Erfolg, wenn man nur bei der Hälfte der anstehenden Themen nennenswerten Fortschritt erzielen könnte, besonders angesichts der ernüchternden weltweiten diplomatischen Bemühungen der vergangenen Jahre. Um in diesen luftigen Höhen der Weltpolitik zu bestehen, benötigt man Entschlossenheit, Disziplin, Führungsstärke und Finesse. Darüber hinaus wäre allerdings noch eine weitere Eigenschaft vonnöten, die reife Staaten von anderen unterscheidet: die Fähigkeit, nicht zu viel Zeit auf Luftschlösser zu verwenden. So wie ein Kind beim Erwachsenwerden lernen muss, die Realität zu sehen, so müssen Deutschland und der Rest Europas einsehen, dass die überdrehte Verfassungsdebatte als das betrachtet werden muss, was sie eigentlich ist: Ablenkung von den eigentlichen politischen Herausforderungen der Zukunft.

Und doch steht das Thema ganz oben auf der deutschen Agenda. Die deutsche Regierung hat von Anfang an darauf hingewiesen, dass Deutschland zur Rettung der Verfassung während seiner Präsidentschaft 2007 quasi verpflichtet sei. Damit hat sie diese Frage zum wesentlichen Bewertungsmaßstab der Präsidentschaft gemacht. Doch leicht wird es nicht. Die Franzosen zeigen sich in Umfragen noch stärker als zum Zeitpunkt ihres „Nein“ verfassungskritisch. Polen, Dänemark und Irland sind unsichere Kandidaten. Das holländische Problem müsste angesprochen werden, und die Briten würden mit Sicherheit in jedem Referendum mit „Nein“ stimmen. Es ist also erkennbar, dass die Rettung des Verfassungsentwurfs Wunschdenken ist. Zudem ist es sehr unwahrscheinlich, dass der andere verfügbare Weg – nämlich Wählerbefindlichkeiten zu ignorieren und stattdessen rasch vorzugehen –, den weit verbreiteten Eindruck korrigieren würde, bei der EU handle es sich um ein elitäres, von den Bedürfnissen der Bürger losgelöstes Projekt mit Demokratiedefizit. Es ist ein Zeichen für die Unreife der Brüsseler Elite und für das Fehlen von Führungsstärke in Europa, dass die Verfassungsfrage die Agenda so dominieren konnte, während die Liste so vieler anderer drängender und relevanterer Fragen so lang ist.

Schlimmer noch: Die Fixierung auf die Verfassung wird Deutschland eher daran hindern, die sehr hohen Erwartungen an seine Doppelpräsidentschaft zu erfüllen. Denn nur durch echten Fortschritt in den drängenden politischen Fragen – wie dem Kosovo, Energie, Handel und der Türkei – können Deutschland und seine europäischen Partner hoffen, ihre künftige Relevanz unter Beweis zu stellen und Europa dauerhaft wettbewerbsfähig zu halten. Es hat viel zu viele von oben verordnete Träumereien über die zukünftige globale Rolle Europas gegeben und viel zu wenige Anstrengungen, Probleme an der Wurzel zu packen. Deutschland sollte seinen einzigartigen weltpolitischen Moment dazu nutzen, die Debatte vom Kopf auf die Füße zu stellen. Der europäische Traum wird sich nur durch harte Arbeit an alltäglichen Problemen erfüllen lassen, auch das sollten Erwachsene wissen.

Dr. JOHN C.HULSMAN, geb. 1967, ist Alfred von Oppenheim Scholar in der DGAP in Berlin.

JAN TECHAU, geb. 1972, ist Resident Fellow der DGAP und leitet das Alfred von Oppenheim-Zentrum für Europäische Zukunftsfragen.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar 2007, S. 16 - 25.

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