Wundertüte Weltnetz
Parag Khannas atemloses Plädoyer fürs globale Zusammenrücken
Handelsvolumen und Dezentralisierung, Souveränität und Seidenstraße, Megacities und Moral, Weltbürgertum und gemischte Ethnizität: In seinem Rundumschlag über den Globalisierungsschub lässt Parag Khanna nichts aus. Sein Manifest gegen die nationalistische Versuchung bietet einen Wirbelwind an Fakten, dem es aber an analytischer Tiefe mangelt.
In den neunziger Jahren hatte Amerika alles, was man sich nur wünschen konnte: ein unipolares Machtmonopol, den Dotcom-Boom, zurechnungsfähige Republikaner und Mariah Carey. Es war so gesegnet, dass es sich mit der legendären Comedy-Serie Seinfeld eine „show about nothing“ als beliebteste Fernsehsendung leisten konnte.
Heute ist alles anders. Zweifel an der eigenen Großartigkeit haben einen zutiefst verunsicherten Egomanen ins Weiße Haus gespült, die Früchte der Globalisierung blühen scheinbar anderswo, und als Ergebnis ist eines der bestverkauften Bücher zur Lage der Welt ein „book about everything“. So bezeichnet Erfolgsautor Parag Khanna sein 450-Seiten-Werk über die Macht der Globalisierung. Und so wie Seinfelds geniale, aber auch sehr zufriedene Selbstbespiegelung in den Neunzigern Ausdruck des Zeitgeists war, so ist Khannas kluges, aber verbal ausuferndes und letztlich völlig überfrachtetes Buch Ausdruck der aktuellen Verwirrtheit.
Dabei liegt dem Buch ein zwingender Gedanke zugrunde: Wenn Globalisierung und Vernetzung die Welt „flach“ machen, gleichzeitig aber die Geografie ihre Bedeutung als Determinante von Politik nicht verliert, wie passt das zusammen? Welche Auswirkungen hat dieser vermeintliche Widerspruch auf internationale Politik, Krieg und Frieden, Diplomatie und Alltag? In einer Zeit, in der wir uns fragen, warum sich Russland in der vernetzten Welt eine ganz traditionelle territoriale Eskapade auf der Krim leistet und in der Islamisten einen „Staat“ ausrufen, dessen Herrschaftsgebiet zwar kaum definierbar ist, der als operatives Netzwerk aber zum Schreckgespenst eines hysterisierten Westens wird, wäre eine solche Studie genau das Richtige, um Licht ins Halbdunkel zu bringen.
Eine Art Globalreportage
Khannas Antwort hierauf ist eine kiloschwere Werbeschrift fürs weltweite Zusammenrücken. Wie kaum ein anderer Autor gibt er der unfassbaren Transformation, die unser weltweites Miteinander seit zwei Jahrzehnten durchläuft, Ausdruck und Form. Wie ein schlaues Kind staunt er darüber, wie massiv alles anders ist als früher, und wie die Vernetzung von Datenströmen, Wertschöpfungsketten und Kapitalflüssen traditionelle Organisationsformen wie den Staat und multilaterale Organisationen überlagern und unterminieren. Khanna belegt die Tiefe und die Qualität der Veränderung mit zahllosen Statistik-Nuggets, zitierten Studien, Aussagen von Experten und natürlich Landkarten. Zwei 16-seitige Kartenteile mit Infografiken sind dem Buch eingefügt.
Kein Thema bleibt unbeackert, ob es sich dabei um Handelsvolumina und Dezentralisierung, Souveränität und Seidenstraße, Megacities und Moral, Weltbürgertum und gemischte Ethnizität handelt. Khanna hat eine Art Globalreportage zusammengetragen, hat Armeen von Experten interviewt (er dankt mehreren hundert Gesprächspartnern im Danksagungsteil des Buches) und sicher fast ebenso viele Rechercheassistenten mit dem Ausgraben relevanter Daten und dem Anfertigen von Grafiken beauftragt.
Das Buch ist durchzogen von ausgesprochen interessanten Infos übers planetarische Durchstarten, und genauso salopp, wie es hier klingt, ist es dort auch formuliert. Nur ein paar Beispiele für solche Soundbites: Im Jahr 2025 wird es weltweit 40 Städte mit mehr als zehn Millionen Einwohnern geben. In der ganzen Welt gibt es überhaupt nur noch zwölf Nationalstaaten (also Staaten, die nur eine einzige Ethnie beherbergen), sieben davon in Europa. Die Regionen mit dem geringsten internen Handelsvolumen sind die mit den meisten Konflikten. Und so weiter, ohne Pause.
Viele (nicht alle) dieser Feststellungen verdichtet Khanna zu Thesen über das Heute und die Zukunft, die dann genauso atemlos daherkommen wie der zusammengestellte Wirbelwind an Fakten: Der Wettbewerb um den höchsten Grad an Vernetztheit in der Welt ist das moderne Äquivalent zum Wettrüsten vergangener Tage. Globale Lieferketten sind heute wichtiger als militärische Fähigkeiten. Städte sind wichtiger als Staaten, Netzwerke wichtiger als Territorien. In den kommenden 40 Jahren wird die Menschheit so viel Infrastruktur errichten (Straßen, Häfen, Bahnlinien, Flughäfen, Datenverbindungen) wie in den 4000 Jahren davor. Das Ganze soll dann ein Bild ergeben von einer Welt, in der, wie es der Klappentext der englischsprachigen Originalausgabe ankündigt, die am stärksten vernetzten Mächte – und Menschen – die Gewinner sein werden.
Khanna hat natürlich recht. Wenn er uns mit der Nase auf die schiere Unglaublichkeit des globalisierten Wunders stößt, dann ist das ein notwendiger Weckruf. Es ist die Erinnerung daran, dass „connectivity“ (Vernetzung) die unwiderstehlich treibende Kraft der Veränderung in unserer Welt ist, dass ein Entgegenstemmen zwecklos und selbstzerstörerisch ist, und dass sich heute die Natur von Macht, Reichtum und Größe von der vergangener Epochen unterscheidet.
Es ist auch richtig, wenn Khanna mit großem Grundoptimismus anmerkt, dass dieser Vernetzung grundsätzlich positive Kräfte innewohnen, bei denen unterm Strich erheblich mehr Ertrag bleibt als Verlust. Khanna hat eigentlich ein hochaktuelles Manifest gegen den Protektionismus, die nationalistische Versuchung, die Abschottung und die ethnozentrische Heilssuchung geschrieben.
Vertrauter Song
Und dennoch ist das Buch seltsam unbefriedigend. Das liegt einerseits daran, dass man das alles im Grunde schon weiß. Die Fülle verblüffender Fakten und Zusammenhänge kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser Song vertraut klingt und unter dem Schlagwort Globalisierung seit mindestens einer Dekade in allen Facetten diskutiert wird. Am Ende liefert Khanna außer der Wundertüte, die er zweifellos randvoll gefüllt hat, nicht genug strukturelle Analyse, um der qualitativen Seite des Wandels tief genug auf den Grund zu gehen.
Es liegt aber auch am Ton, der von Beginn an eine sensationalistische Qualität hat, eine Atemlosigkeit, die schnell ihre Frische verliert. Es gibt einfach zu viele vollmundige Slogans, Einzeiler und Generalisierungen, als dass nicht der Verdacht intellektueller Heißlufterzeugung aufkäme. Das Unternehmensberaterhafte des Buches hat die New York Times in ihrer Rezension als „globaloney“ bezeichnet, was ein bisschen zu hart ist, und mit „Globalisierungsgewäsch“ nur unzureichend übersetzt ist.
Dieser Mangel des Buches wiegt dennoch schwer, weil Khanna es gar nicht nötig hätte, seine Funde und die von ihm zu Recht aufgezeigten Zusammenhänge mit so viel Verbalbarock einzukleiden. Er hätte der Kraft seines Materials vertrauen sollen, das solcher Mätzchen gar nicht bedarf.
Und es liegt andererseits daran, dass die Politikempfehlungen, die der Autor aus seinen Analysen ableitet, auf ein lautes „Mehr von alledem“ hinauslaufen. Ja, es ist richtig, dass nur das Land, nur das Unternehmen wird mithalten können, das in seine Vernetztheit investiert, das also seine physische und IT-Infrastruktur massiv ausweitet und absichert.
Doch welche Investitionen sind darüber hinaus erforderlich? Khanna legt viel Gewicht auf Produktions- und Lieferketten, sagt aber wenig über Dienstleistungen oder die noch wichtigere globale Finanzwirtschaft. Er sagt auch nicht viel über jene Menschen, deren Lebensrealität von der globalisierten Welt weit entfernt ist und von denen es auch in hochvernetzten Gesellschaften mehr gibt, als man bei der Lektüre von „Connectography“ ahnen würde.
Khanna hat ein reichhaltiges, ruheloses Buch geschrieben, das wie kaum ein anderes den staunenswerten Wandel unserer Welt dokumentiert und in Teilen ein guter Wegweiser für die Zukunft ist. Er empfiehlt uns, über die Organisationsformen des menschlichen Lebens auf unserem Planeten „ganz neu nachzudenken“. Aber für wirklich neues Denken haben ihm beim rastlosen Reisen in jede nur denkbare Weltgegend vielleicht selbst ein wenig die Ruhe und Zeit gefehlt. Konzentration auf das Wesen des Wandels statt auf die atemberaubende Fülle seiner Erscheinungsformen hätte dem Buch gut getan.
Parag Khanna: Connectography. Mapping the Future of Global Civilization. New York: Penguin Random House 2016. 496 Seiten, 30,00 $
Jan Techau ist Direktor des Richard C. Holbrooke Forums an der American Academy in Berlin.
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2017, S. 136-138