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01. Jan. 2009

Zaungast Europa: die Krise als Chance

Wie der alte Kontinent wieder zum Akteur erster Klasse werden kann

Die gegenseitige Einschätzung in der transatlantischen Partnerschaft könnte gegensätzlicher nicht sein: Europa meint, in Barack Obama einen amerikanischen Europäer zu erblicken, für Amerika aber liegen die strategischen Partner in anderen Teilen der Welt. Will Europa wieder ernster genommen werden, muss es anfangen, initiativ zu handeln.

Jede Krise geht einmal zu Ende. Auch die derzeitige Finanz- und Wirtschaftskrise wird da keine Ausnahme sein. Noch mag der Zeitpunkt irgendwo in der Zukunft liegen. Soviel steht aber heute schon fest: Was als Immobilien- und Finanzkrise in den USA begann, hat sich zu einer Weltwirtschaftskrise veritablen Ausmaßes gewandelt. Wenn sie zu Ende geht, werden nicht nur Buchwerte, sondern auch reale Vermögen in gewaltigem Umfang vernichtet sein. Weniger fest steht, wie sich durch diese Krise die Tektonik der Weltpolitik verändert haben wird. Die Kontinentalplatten der Erdkruste verschieben sich ähnlich langsam und scheinbar unmerklich wie die Gewichte in der internationalen Politik. Plötzliche Erschütterungen führen zu Erdbeben. Und häufig genug sind Tsunamis die Folge, die alles mit sich reißen, was bislang vermeintlich fest gefügt und stabil war. Wir leben mitten in einem solchen Tsunami und stellen wieder einmal fest, dass nur Krisen dieses Ausmaßes – oder Kriege – die Triebkräfte wirklich fundamentaler Veränderungen sind.

Werden wir also schon bald die Konturen einer neuen Weltordnung sehen, in welcher der viel beschworene „Westen“ (also die USA und EU) längst nicht mehr die bestimmende Rolle spielen wird wie in den letzten Jahrzehnten? Werden allen voran die USA, aber auch die EU an internationalem Einfluss verlieren, weil Schwellenländer wie Russland, Indien und China in der Lage sind, ihre neu gewonnene Wirtschafts- und Finanzkraft auch in politische Macht zu übersetzen? Oder kann auch das genaue Gegenteil eintreten? Trifft die weltweite Wirtschaftskrise die Schwellenländer so hart, dass sie wegen unausgewogener Wirtschaftsstrukturen und wachsender sozialer Probleme im Inneren am Ende einen wieder erstarkten Westen unter Führung der USA erleben, die kraft ihrer sprichwörtlichen Widerstandsfähigkeit die Krise gestärkt und leistungsfähig wie eh und je überstehen?

Die Welt wartet in dieser Situation auf den Beginn der Amtszeit von Barack Obama. Aber die Erwartungen an den neuen Präsidenten sind überzogen hoch. Sie mögen in einem Wahlkampf der Hoffnung und im ersehnten Kontrast zu George W. Bush begründet sein. Sie entsprechen zum Teil natürlich auch idealistischem europäischen Wunschdenken an eine multilaterale amerikanische Außenpolitik. Die Aufbruchstimmung in den USA ist trotz der Krise echt. Und sie überträgt sich allzu leicht auf Europa. Die Europäer hätten in ihrer überwiegenden Mehrheit für Obama gestimmt. Aber er ist nun einmal nicht der Präsident der Europäer, sondern der Präsident der USA. Allzu leicht verkennen die Europäer die Warnsignale, die Obama selbst schon im Wahlkampf gegeben hat und sie übersehen, dass seine Handlungsspielräume politisch und finanziell außerordentlich begrenzt sind. Nur langsam mehren sich in Europa die Stimmen, die anerkennen, dass der neue US-Präsident nicht in der Lage sein wird, die Wunder zu vollbringen, die man von ihm erwartet – und die in der Tat nötig wären, wollte man die unbestrittene Führungsrolle der USA auf absehbare Zeit fortschreiben.

Dieser Präsident braucht wie Franklin D. Roosevelt in den frühen dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts in der Tat einen „New Deal“ oder einen „Grand Bargain“, wie man in Washingtons hyperaktiver Beraterszene gerne formuliert. Niemand erwartet, dass Obama alle Probleme auf einmal lösen kann. Also empfiehlt man ihm eine alte Strategie von Präsident Dwight D. Eisenhower: Wenn du ein Problem nicht lösen kannst, erweitere es! Und das kann nur bedeuten: Die USA werden versuchen, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen, die das von ihr bislang dominierte internationale System ablösen soll, um von dort die Kontrolle über die Bewegung zu erhalten. Mit politischen und wirtschaftlichen Krisen sind die USA immer wieder – und meistens besser als ihre Konkurrenten – fertiggeworden. Über das funktionierende Institutionengefüge für tiefgreifende, schnelle und effiziente Maßnahmen verfügen sie allemal. Von ihren Mitbewerbern um die Neuverteilung globaler Macht kann man das nur mit großen Einschränkungen behaupten.

Die vermeintlich neuen Pole im multipolaren System sind von der globalen Wirtschaftskrise viel härter betroffen, als man ursprünglich angenommen hat. China und Russland sind im Wesentlichen mit sich selbst beschäftigt und weit davon entfernt, zu Rettungsankern in der Krise zu werden. Trotz ihrer hohen Finanz- und Devisenreserven zollen sie einseitigen Wirtschaftsstrukturen und internen Verwerfungen erheblichen Tribut. Vor allem in China stehen die Zeichen auf Sturm. Tausende von geschlossenen Betrieben und Millionen von entlassenen Wanderarbeitern lassen für die Wirtschaftsentwicklung Chinas und im schlimmsten Fall auch für die Stabilität des Landes nichts Gutes erwarten. Den globalen Ambitionen der neuen Schwellenländer wird das langfristig keinen Abbruch tun. Aber mittelfristig sind sie schlechter gerüstet als die USA und Teile Europas, um die Krise unbeschadet zu überstehen. Vorschnelle Schadenfreude ist fehl am Platz. Gerade in der Krise ist der Westen auf die Stabilität dieser Länder dringend angewiesen.

Das eigentliche Trauerspiel findet derweil in Europa statt. Man muss nicht in die immer wieder aufflammende Euroskepsis verfallen, um trotzdem nüchtern feststellen zu können: Europa ist überdehnt, ohne klare Entscheidungsstrukturen und unfähig, in wesentlichen Fragen globaler Politik politischen Konsens und Handlungsfähigkeit herzustellen. Europas Defizite drohen zur Marginalisierung zu führen. Gipfelhektik und das Jonglieren mit Milliardensummen und Konjunkturprogrammen täuscht Handlungsfähigkeit vor, ersetzt aber keine konsolidierte und koordinierte Politik. Und selbst wenn es uns wichtig erscheint, endlich den Vertrag von Lissabon zu ratifizieren, den Rest der Welt ficht das kaum an und er wartet auch nicht, bis die Europäer endlich ihre Hausaufgaben gemacht haben.

Die Wahl Obamas hat zwar gerade in Europa neue Hoffnungen geweckt, aber die grundsätzlichen transatlantischen Interessenunterschiede bestehen fort. Es mag sein, dass die neue Administration weniger Interesse an einem überdehnten und entscheidungsschwachen Europa hat, aber dadurch allein wird Europa nicht stark. Erwartungen insbesondere an die USA zu pflegen ist jetzt die falsche Strategie. Aber noch scheint das leichter zu sein, als die EU selbst zu einem Interessenträger aus eigener Kraft zu machen. In vielen aktuellen Bereichen globaler Risikopolitik hat die EU (noch) keine eigene Politik anzubieten. Die Konsequenz ist ebenso einfach wie riskant: Die EU beschränkt sich auf wortreichen Symbolismus und wird immer weniger ernst genommen. Dies gilt sowohl für die USA, aber erst recht für die politischen Eliten der Schwellenländer. Sie treiben Handel, als sie lassen sich nicht mehr politisch von Europa belehren.

Die transatlantische Brücke trägt nicht mehr automatisch. Während uns im Kalten Krieg die gemeinsame Bedrohung und der Schutzschirm der USA über Europa zusammengehalten haben, sind Verlegenheitslösungen unter Bush und jetzt eine blanke Obamania kaum tragfähige Voraussetzungen für belastbares gemeinsames Handeln. Die Ausrede, Bush sei an allem schuld, funktioniert bald nicht mehr und die Einsicht will nicht in unsere Köpfe, dass die USA keine „europäische Macht“ mehr sind wie sie es in den guten alten Zeiten des Kalten Krieges sicherlich waren. Heute liegt das strategische Interesse der USA im Pazifik, im Nahen und Mittleren Osten und in Südasien. Es sollte uns natürlich freuen, nicht mehr im Brennpunkt globaler Spannungen zu leben. Aber gerade deshalb gibt es keine Ausreden mehr, die neue Machttektonik der Welt zu erkennen und schnell darauf zu reagieren.

Das heißt zunächst nur eines: Auch in den transatlantischen Beziehungen ist radikales Umdenken angesagt. Idealistische Sprüche über gemeinsame Werte haben wir genug gehört. Ein reiner Bezug auf gemeinsame Werte verkommt zur Floskel, wenn daraus keine politisch umsetzbaren gemeinsamen Interessen entstehen. Dass wir „nur gemeinsam stark sind“ ist auch bekannt. Bedauerlicherweise bleiben solche Bekundungen graue Theorie. Mit der Wirklichkeit transatlantischer Interessendivergenzen haben sie kaum noch etwas zu tun.

Es ist Zeit für einen ehrlichen und realistischen Kassensturz in den transatlantischen Beziehungen. Schlichte Freundlichkeiten zwischen Spitzenpolitikern reichen bei weitem nicht mehr aus, um die auseinanderlaufende Interessenlage zu überdecken. Das Amerika, das wir Europäer gerne wahrnehmen, ist immer noch das Amerika der Neuenglandstaaten, der global aufgeschlossenen Eliten, die man in New York, Washington und Boston trifft. Das pazifische Amerika hat eine gänzlich andere, transpazifisch und hispanisch geprägte Perspektive. Und das große Kernland dazwischen bleibt aus unserer Sicht parochialem Denken und fundamentalistischen Werten verhaftet.

Wer in den USA als verlässlicher Partner ernst genommen werden will, muss bereit und fähig sein, mehr zu tun, als sich nur verbal auf die glorreiche Vergangenheit und gemeinsame Werte zu berufen. Wer ernst genommen werden will, muss liefern. Noch ist Europa dazu weder bereit noch in der Lage. Beiderseitige Enttäuschung und der nächste transatlantische Katzenjammer könnten also schon vorprogrammiert sein. Aber vielleicht hilft den Europäern ja die derzeitige Krise, zumindest einzusehen, dass sie in der unmittelbaren Gefahr stehen, in der künftigen globalen Ordnung am Ende dieser Krise an den Rand gedrängt zu werden. Europa ist aus dem Dornröschenschlaf der letzten 20 Jahre noch nicht erwacht. Wenn es kein böses Erwachen werden soll, muss vor allem Deutschland handeln.

Dazu ist es zunächst notwendig, einen einfachen Sachverhalt stärker ins Bewusstsein der politischen Eliten und der Öffentlichkeit zu bringen: Deutschland ist seit der Wiedervereinigung von einem Importeur von Sicherheit zu einen Exporteur von Sicherheit geworden. Sicherheit war vor 1989 nur durch die Truppenpräsenz der USA, durch die NATO und das westliche Bündnis zu gewährleisten. Heute ist dieser Grundzug deutscher Außenpolitik ins genaue Gegenteil verkehrt. Deutsche Soldaten stehen im Kampfeinsatz in Afghanistan, helfen den Balkan zu stabilisieren, patrouillieren vor der Küste Israels und bekämpfen Piraten am Horn von Afrika. Der Prozess war schleichend und vorsichtig, aber das Ergebnis ist 20 Jahre nach der Wiedervereinigung klar: Wir exportieren Sicherheit in andere Regionen der Welt, die im Zuge der Globalisierung strategische Bedeutung für uns erlangt haben.

Stimmt es also noch, dass vornehme strategische Zurückhaltung, die im Wesentlichen mit den Erfahrungen deutscher Vergangenheit begründet wird, Grundprinzip deutscher Außenpolitik sein sollte? Man muss berechtigte Zweifel haben. Globalisierte Probleme erfordern von jedem und nicht nur von uns globalisierte Antworten. Mangelnde Handlungsfähigkeit Europas erfordert glaubwürdige Führung. Wir sollten nicht auf Obama warten. Ausreden gibt es nicht mehr. Im Minimum muss deutsche Außenpolitik ähnlich wie Frankreich und Großbritannien ihre langfristigen strategischen Ziele formulieren und kommunizieren. Eine nationale Sicherheitsstrategie ist überfällig, damit die Welt weiß, woran sie mit uns ist. Und gemeinsam mit unseren europäischen Partnern würde es sich lohnen, über die Welt und Europas Rolle in 20 Jahren nachzudenken. Gerade legt der National Intelligence Council seinen Bericht „Global Trends 2025 – A Transformed World“ vor. Europa wird in der Rubrik „andere Schlüsselakteure“ in zweieinhalb Spalten mit dem Zusatz beschrieben „loosing clout in 2025“. Deutschland wird nicht einmal erwähnt. Das ist die Realität transatlantischer Wahrnehmungen. Weder gebetsmühlenartige Beschwörungsformeln noch die automatisierte Flucht in Forderungen nach immer wieder neuen Institutionen werden daran etwas ändern. Solange Europa auf Amerika wartet, anstatt selbst die Initiative des Handelns zu ergreifen, bleibt es ein Akteur zweiter Klasse und muss damit leben, immer weniger ernst genommen zu werden.

Die Wahrscheinlichkeit, dass die USA die derzeitige Krise zumindest nicht nennenswert geschwächt überstehen werden, ist nicht von der Hand zu weisen. Für Europa gibt es weniger Anlass zu Optimismus. Es sei denn, man setzt auf die Hoffnung, dass in schweren Krisen die politische Dynamik zu echten Veränderungen entsteht. Ob Europa tatsächlich zu einem der Pole in einer multipolaren Weltordnung wird, entscheiden nur die Europäer selbst.

Als Konsequenz kann es nur eine Devise geben: Genug der Erwartungen, genug gejammert. Es ist Zeit, zu handeln und aus europäischer Sicht zu bestimmen, was wir selbst tun wollen, anstatt es nur von anderen zu erwarten. Die Liste der Agenda ist lang. Sie finden Sie auf den folgenden Seiten der IP.

Prof. Dr. EBERHARD SANDSCHNEIDER ist Otto-Wolff-Direktor des Forschungsinstituts der DGAP.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar 2009, S. 10 - 14.

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