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01. Okt. 2005

Wir sind uns selbst genug

Warum in die Ferne schweifen, wenn Wunschdenken so nahe liegt

Als eine Richtungsentscheidung wollten beide politische Lager die vorgezogene Bundestagswahl 2005 verstanden wissen. Doch zumindest ein Bereich kam in der Auseinandersetzung um die große Weichenstellung für die Zukunft der Republik so gut wie überhaupt nicht vor: die Außenpolitik. Der Exportweltmeister will von der Welt nichts wissen, und Politiker aller Parteien befördern die allgemeine Ignoranz.

Nur ein einziges Mal schien es, als könnte ein weltpolitisches Problem in diesem fast ausschließlich von sozial- und wirtschaftspolitischen Themen bestimmten Wahlkampf einsickern: als Gerhard Schröder – in einer Art Remake seiner Nein-Kampagne zum Irak-Krieg im Jahre 2002 – den amerikanischen Präsidenten während einer Wahlkundgebung aufforderte, die militärische Option im Atomstreit mit dem Iran „vom Tisch zu nehmen“. Doch dieses Mal ging das Kalkül, durch eine demonstrative Geste der Abgrenzung von den USA die Opposition in die Defensive zu drängen, nicht auf. CDU/CSU und FDP beeilten sich, ihrerseits jeden Gedanken an eine kriegerische Drohung als ultimatives Druckmittel gegen das Mullah-Regime weit von sich zu weisen. Das Desinteresse der breiten Öffentlichkeit an den internationalen Turbulenzen um die Nuklearpläne Teherans überwog offensichtlich selbst die in allen Schichten der Bevölkerung und quer durch alle politischen Lager verbreiteten amerikakritischen Affekte.

Natürlich war Schröders Statement nicht ernsthaft als Beitrag zur internationalen Krisenbewältigung gedacht. Auch ihm war klar, dass sein Aufruf vom Rathausplatz in Hannover den US-Präsidenten nicht dazu bewegen würde, dem Einsatz seiner gewaltigen Kriegsmaschinerie für alle Zeiten und unter allen Umständen zu entsagen. Bei Schröders Intervention ging es vielmehr um ein innenpolitisches Signal: Indem er betonte, militärische Aktionen könnten nie zu etwas Gutem führen, wollte er die Erinnerung an seine Verweigerung im Irak-Krieg auffrischen, die ihm auch außerhalb seiner Wählerschaft noch immer hoch angerechnet wird. Er wollte damit bekräftigen, dass er sich im Gegensatz zur Opposition nicht scheue, den Mund gegen die USA aufzumachen. Nicht eigene Lösungsansätze für ein sicherheitspolitisches Problem ersten Ranges – sollte der Iran eines Tages über Nuklearraketen verfügen, könnten sie auch europäisches Territorium erreichen – standen im Mittelpunkt seiner Überlegungen, sondern die reaktive symbolische Abgrenzung von der Politik des ungeliebten „großen Bruders“. Der Kanzler dementierte damit implizit, was er mit seiner Stellungnahme eigentlich zum Ausdruck bringen wollte: dass Deutschland sich von der außenpolitischen Abhängigkeit von Amerika emanzipiert habe und zu einem eigenständigen Mitspieler in der Weltpolitik geworden sei. Der Maßstab deutscher Profilierungsversuche in der Weltpolitik bleibt der innerfamiliäre Beziehungskonflikt mit dem übermächtigen Verbündeten.

Zugleich suggerierte der Kanzler mit seiner Einlassung, deutsche Außenpolitik stehe stets und in jeder Konstellation für eine friedliche Verhandlungslösung auch in der Konfrontation mit aggressiven Regimen ein. Doch das trifft offensichtlich nicht zu. Die Bundeswehr war sowohl 1999 im Kosovo-Krieg als auch 2001 im Feldzug gegen die afghanischen Taliban aktiv in militärische Kampfhandlungen involviert. In Afghanistan sind neben den regulären, zur Friedenssicherung stationierten Bundeswehrtruppen auch Spezialkräfte des KSK im Einsatz, deren genauer Kampfauftrag der deutschen Öffentlichkeit freilich nicht erläutert wird. Gerhard Schröder und die Bundesregierung haben diese Kriegsteilnahmen stets offensiv verteidigt. Die rot-grüne Regierung hat sich zudem aktiv an der Planung einer europäischen Kriseninterventionstruppe beteiligt. Wozu aber würde eine solche aufgebaut, wenn die deutsche Regierung eine militärische Option als ultima ratio zur Lösung internationaler Krisen grundsätzlich und zu jeder Zeit ausschlösse?

Die Ausblendung der Außenwelt

Diese Tatsachen schienen im deutschen Bundestagswahlkampf jedoch durch eine allgemeine Amnesie ausgelöscht worden zu sein. Sonst wäre es nicht zu erklären, dass die Wahlkampfstrategie der SPD, Deutschland als „Friedensmacht“ den unausgesprochen als kriegerisch und imperialistisch – „gegen blinde Gefolgschaft“, lautete eine andere Wahlkampfparole der Sozialdemokraten – charakterisierten Vereinigten Staaten entgegenzustellen, nicht auf heftigen Widerspruch von Seiten der Opposition und der kritischen Öffentlichkeit gestoßen ist. Auch wurde des Kanzlers Iran-Statement von den politischen Kommentatoren primär unter dem Aspekt diskutiert, ob es ihm wahltaktische Vorteile im Streit mit der Opposi-tion einbringen würde. Dass Schröder mit seiner Äußerung aber massiven Einfluss auf die Verhandlungsposition des Westens gegenüber dem Iran nahm, indem er öffentlich ein Druckmittel gegen die Teheraner Regierung verwarf, das eine starke Verhandlungsposition des Westens unverzichtbar grundieren muss, wurde kaum als problematisch oder gar skandalös empfunden. Die Ausblendung der Außenwelt war in dieser ganz nach innen gerichteten Wahlauseinandersetzung beinahe lückenlos.

Eine Anfang September veröffentlichte Studie ergab, dass 72 Prozent der Deutschen von der Angst vor sinkendem Lebensstandard, Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg geplagt werden. Dahinter sei die Furcht vor Krieg und terroristischen Anschlägen in der deutschen Bevölkerung weit zurückgetreten. Es ist, als hätten sich die Deutschen in den Kokon ihrer eigenen unmittelbaren Sorgen eingesponnen. In welchem Maße innen- und außenpolitische Entwicklungen miteinander verbunden sind, dringt in dieser Gefühlslage kaum noch ins öffentliche Bewusstsein ein.

Erstaunlich ist immerhin, dass selbst solche außenpolitische Themen, die in einem offensichtlichen direkten Zusammenhang mit den Strukturproblemen der deutschen Wirtschaft und des deutschen Sozialstaats stehen, nicht als relevant wahrgenommen wurden. So spielte auch die Zukunft der europäischen Integration nach dem Scheitern der EU-Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden in den Debatten fast keine Rolle. Im Fernsehduell zwischen Angela Merkel und Gerhard Schröder wurden auf diese seit vielen Jahren gravierendste Krisensituation innerhalb der EU gerade einmal einige Minuten verwendet. Ungeachtet unterschiedlicher Betonungen waren sie sich im Kern einig: Für die EU-Verfassung müsse nach einer Denkpause weiter geworben werden, nun aber, wie besonders Angela Merkel betonte, unter stärkerer Berücksichtigung der Bedürfnisse und Ängste der Bürger.

Nur eine weitere außenpolitische Frage wurde im TV-Duell angesprochen, und es war zugleich die einzige, die zwischen rot-grüner Regierung und Opposition offenkundig strittig war: die des EU-Beitritts der Türkei. Doch bei näherem Hinsehen erwies sich auch diese Kontroverse als eher rhetorischer Natur. Trotz der Forderung der CDU/CSU, den Türken statt der EU-Vollmitgliedschaft eine „privilegierte Partnerschaft“ anzubieten, wolle sie, betonte Angela Merkel, die begonnenen Beitrittsverhandlungen selbstverständlich nicht rückgängig machen. Denn: „Pacta sunt servanda“.

Exemplarisch für den Standard außenpolitischer Debatten im Wahlkampf war auch der Schlagabtausch zwischen Außenminister Joschka Fischer und dem FDP-Anwärter auf seine Nachfolge, Wolfgang Gerhardt, in der TV-Talkshow „Sabine Christiansen“. Erst nach über der Hälfte der einstündigen Sendung kamen die Kontrahenten überhaupt auf Außenpolitik zu sprechen. Einen erheblichen Teil der verbliebenen Zeit verwendete der Herausforderer darauf, den amtierenden Minister davon zu überzeugen, dass auch seine Partei einen Waffengang im Irak kategorisch abgelehnt habe. Auch in anderen außenpolitischen Fragen widersprach Gerhardt Fischer nicht inhaltlich, sondern bemängelte nur handwerkliche Fehler bei der Umsetzung der Ziele der rot-grünen Regierung. Joschka Fischer konnte sich schließlich befriedigt zurücklehnen und resümieren, Gerhardt dürfe eben nicht einfach sagen, dass Rot-Grün eine „tolle Außenpolitik“ mache, er aber trotzdem unbedingt Außenminister werden wolle. Deshalb rette er sich in Stilkritik.

Die Zurückhaltung der Opposition in außenpolitischen Fragen während des Wahlkampfs musste den Beobachter verblüffen. Hätte sie doch jeden Anlass gehabt, die außenpolitische Bilanz von Rot-Grün einer schonungslosen Kritik zu unterziehen. Schröder und Fischer rühmten sich im Wahlkampf, Deutschland in den Rang einer „selbstbewussten Mittelmacht des Friedens“ geführt zu haben. Als sichtbaren Erfolg hatten sie aber nur die militärische Abstinenz im Irak-Krieg vorzuweisen. Frieden ist dadurch nicht gestiftet worden: Der Krieg fand trotzdem statt, im Irak wütet weiterhin der Terror. Dass die Stabilisierung und Demokratisierung des Iraks trotz der explosiven Lage doch noch gelingt, liegt nicht weniger im deutschen als im amerikanischen Interesse. Eigene Ideen und Initiativen zur Stabilisierung des Landes waren auf deutscher Seite aber zu keiner Zeit zu erkennen. Sogar die Behauptung, am Irak-Krieg nicht beteiligt gewesen zu sein, trifft nur teilweise zu: Im September rügte das Bundesverwaltungsgericht die Regierung wegen ihrer vermeintlich völkerrechtswidrigen logistischen Unterstützung der US-Militäroperationen. Anlass war die Klage eines Majors der Bundeswehr, der degradiert worden war, weil er sich geweigert hatte, an der Entwicklung einer Software teilzunehmen, die im Irak-Krieg verwendet werden könnte.

Die Fiktion vom größeren Spielraum

Der neue Spielraum, den die Distanzierung von Amerika in der zweiten Hälfte der Regierungszeit von Rot-Grün der deutschen Außenpolitik angeblich erschlossen hat, erweist sich bei näherem Hinsehen als weitgehend fiktiv. Das Projekt, Europa als strategischen Gegenpol zu den USA aufzubauen, hat sich mit dem Scheitern der EU-Verfassung auf absehbare Zeit erledigt. Die Kampagne für eine Reform des UN-Sicherheitsrats und einen ständigen deutschen Sitz war ein grandioser Fehlschlag. Er hat Deutschland weiter von den USA sowie von wichtigen europäischen Partnern wie Italien entfremdet, während die erhoffte Unterstützung durch Russland und China ausblieb. Die europäischen Dreierverhandlungen mit dem Iran über die Teheraner Atomrüstung sind vorerst am Ende. Schröders enge Bindung an Putin hat Deutschland in eine bedenkliche energiepolitische Abhängigkeit von Russland geführt. Der auch von der Opposition als großer Erfolg gefeierte Vertrag über die russische Erdgaslieferung per direkter Pipelineverbindung durch die Ostsee hat zudem die EU-Partner Polen, Litauen, Estland und Lettland verärgert, die sich bei diesem Geschäft zwischen ihren zwei übermächtigen Nachbarn umgangen fühlen.

Als Fiasko hat sich auch Gerhard Schröders einsames Plädoyer für die Aufhebung des EU-Waffenembargos gegen China erwiesen. In seinem Vorpreschen in dieser Frage kam die spezifische Unstetigkeit der neueren deutschen Außenpolitik komprimiert zum Ausdruck. Hin- und hergerissen zwischen der Maxime des Multilateralismus, die das Verfolgen nationaler machtpolitischer Interessen als Relikt eines vergangenen Zeitalters verabscheut, und dem Drang, dem gewachsenen Selbstbewusstsein des größeren und stärkeren Deutschlands demonstrativen Ausdruck zu geben, betonte der Kanzler je nach Gelegenheit mal die unbedingte Verpflichtung zu internationaler Kooperation, mal den Primat des nationalen wirtschaftlichen Egoismus.

Doch Schröders beharrliches Eintreten für die Aufhebung des Waffenembargos trug Züge einer Scharade. Dem Kanzler war sicher selbst bald klar geworden, dass er sich mit seiner Forderung in der EU nicht würde durchsetzen können. Dennoch hielt er daran fest – denn er wollte sich den Chinesen als standhafter Partner empfehlen, der zu seinem Wort steht. Von diesem Vertrauensbonus sollte die deutsche Wirtschaft bei ihren zukünftigen Geschäftsabschlüssen mit dem Pekinger Regime profitieren. Damit aber agierte Schröder im Grunde wiederum ganz traditionell im Sinne der außenpolitischen Praxis der alten Bundesrepublik, die Weltpolitik in erster Linie als Absicherung günstiger Rahmenbedingungen für die Exportwirtschaft verstand. Menschenrechtsaspekte spielten dabei wie auch zuletzt bei Schröder allenfalls eine untergeordnete Rolle.

Die große Koalition der außenpolitischen Augenwischerei

Es wäre aber ungerecht, die Unberechenbarkeit der deutschen Außenpolitik unter Gerhard Schröder nur der Sprunghaftigkeit des rot-grünen Politikverständnisses anzulasten. Es kamen darin vielmehr die objektiven Schwierigkeiten zum Ausdruck, die sich aus dem gewachsenen Gewicht Deutschlands in der Welt nach dem Ende des Kalten Krieges ergeben. Von Deutschland wird eine führende Rolle in Europa und die Übernahme größerer Verantwortung bei internationalen Konfliktlösungen erwartet, wobei stets unklar bleibt, in welchem Maße es dabei als Teil einer – einstweilen noch weitgehend theoretischen – gemeinsamen europäischen Außenpolitik und wie weit es in eigenem Namen handeln soll. Ausschläge zwischen Selbstüberschätzung und dem Rückzug in die passive Rolle des bloß kommentierenden Beobachters sind die Folge dieser schwierigen Übergangssituation.

Eine grundsätzliche Neubestimmung der Prioritäten und Möglichkeiten deutscher Außenpolitik wäre somit dringend erforderlich. Doch die Opposi-tion mied im Wahlkampf die Debatte – zum Teil aus Furcht, von Schröder wieder, wie schon 2002, in die Ecke der Amerika-Hörigkeit gestellt zu werden, zum Teil aber auch aus eigener Perspektivlosigkeit. Auch ihr fiel zum Iran-Konflikt nichts anderes ein als die Weiterführung der Verhandlungen mit Teheran – obwohl bereits längst deutlich geworden war, dass die Mullahs diese eingestandenermaßen genutzt hatten, um Zeit für den weiteren Ausbau ihres Atomprogramms zu gewinnen. Die „strategische Partnerschaft“ mit Putins Russland solle unvermindert weitergeführt, die Möglichkeit eines deutschen Sitzes im Sicherheitsrat weiter ausgelotet, für die EU-Verfassung soll weiter geworben werden. Kurz: Die Opposition versprach, die bisherige Außenpolitik im Großen und Ganzen fortzusetzen, nur mit mehr Fingerspitzengefühl und in größerem transatlantischem und europäischem Einvernehmen.

Das Versprechen atmosphärischer Verbesserungen ersetzte bei CDU/CSU und FDP inhaltliche Alternativen. Zwischen Regierung und Opposition herrschte im Wahlkampf ein Grundkonsens, die von wirtschaftlichen und sozialen Zukunftsängsten geplagten Deutschen nicht auch noch mit weltpolitischen Gefahrenquellen zu belasten – etwa mit der Frage, was wäre, wenn die Bundeswehr in Afghanistan demnächst in bewaffnete Auseinandersetzungen verwickelt würde. In einem solchen Fall würde ein Widerspruch aufbrechen, der von beiden politischen Lagern rhetorisch harmonisiert wird: Zwar stehen Bundeswehrtruppen in Krisengebieten, um den Frieden zu sichern, doch vermeidet man es, dies als kriegerische Einsätze zu bezeichnen. Bewaffnete Friedenssicherung bedeutet aber auch, unter Umständen Waffengewalt einsetzen zu müssen und dabei möglicherweise eigene Verluste zu erleiden. Ein solcher Fall aber würde die deutsche Öffentlichkeit weitgehend unvorbereitet treffen.

Die gefährlichen Fehlschlüsse der praktischen Vernunft

Es besteht offenbar ein Einverständnis zwischen der Gesellschaft und den politischen Verantwortlichen, diese Konsequenzen so weit wie möglich zu verdrängen. In der deutschen Gesellschaft dominiert lagerübergreifend das Wunschdenken, man könne in einem Meer verschärfter globaler Konflikte auf Dauer als Insel interesseloser Friedfertigkeit bestehen. Diese Illusion wird mit Parolen wie „Friedensmacht Deutschland“ bedient. Sie suggeriert, deutsche Außenpolitik sei mit Friedenspolitik identisch, die sich über die Niederungen des Verfolgens eigennütziger Interessen erhebe und ihre Ziele stets durch Verhandlungen und gütliche Einigung erreichen könne.

Es gehört gewissermaßen zur Kerndoktrin des deutschen außenpolitischen Diskurses, an die globale Wirkungskraft einer praktischen Vernunft zu glauben, der selbst hartgesottenste Diktaturen und extreme Ideologien auf Dauer nicht standhalten könnten. Die Macht dieser praktischen Vernunft ist nach diesem Denken im Wesentlichen durch die Anziehungskraft ökonomischer Wohlfahrt bedingt. So erklärte der außenpolitische Experte der Union, Wolfgang Schäuble, Ende August in einem Interview mit der Welt am Sonntag auf die Frage, ob er nicht eingestehen müsse, dass man das Teheraner Regime durch bloßes Weiterverhandeln nicht mehr am Atombombenbau hindern könne: „Wenn der Iran seine Interessen richtig abwägt, gewinnt er durch eine Atombombe nichts. Er gewinnt stattdessen unendlich mehr, wenn er in die globale politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit einbezogen wird.“ Teheran könne natürlich auch die Isolation nach dem Vorbild Nordkoreas wählen. „Aber noch pokert das Regime. Da muss die Weltgemeinschaft halt jetzt durchhalten und Geduld zeigen.“

Die Möglichkeit, dass ein Regime wie das der Mullahs im Iran einer ganz anderen Rationalität folgen und von ganz anderen Motiven getrieben sein könnte, als seiner Bevölkerung die größtmögliche wirtschaftliche Prosperität sichern zu wollen, kommt in dieser Logik überhaupt nicht ins Blickfeld. Wenn das Regime „pokert“, dann kann dies nur heißen, dass es noch nicht verstanden habe, wo seine wahren Interessen liegen – nämlich in der friedlichen Zusammenarbeit mit der Weltgemeinschaft. Was aber, wenn Teheran die Geduld des Westens nur dazu benutzt, ungestört aufzurüsten und damit seine Macht im Inneren zu festigen sowie seinen Einfluss im Nahen und Mittleren Osten auszuweiten?

Der gleichsam pädagogische Ansatz Schäubles verkennt nicht nur, dass Teheran schon lange nicht mehr bloß die Wahl zwischen Isolation und Öffnung zum Westen hat. Vielmehr spielt es seine hervorragenden politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland und China erfolgreich gegen den Westen aus. Eine Weltgemeinschaft gegen die iranischen Nuklearambitionen müsste überhaupt erst einmal hergestellt werden, indem der Westen geschlossen auftritt und Russland und China auf seine Seite zieht. Das ist aber angesichts des Interesses dieser Mächte, den westlichen, vor allem den amerikanischen Einfluss im Nahen Osten zurückzudrängen, gegenwärtig alles andere als wahrscheinlich.

Dieser Aspekt schwerwiegender geostrategischer und ökonomischer Interessenkonflikte innerhalb der Weltgemeinschaft wird in Schäubles Sicht ebenso beiseite geschoben wie die Frage nach dem tatsächlichen Charakter des iranischen Regimes. Das Modell einer solchen unverdrossen optimistischen Betrachtung ist natürlich die Überwindung der Kalten-Kriegs-Konfrontation durch die Entspannungs-politik der siebziger und achtziger Jahre. Wolfgang Schäuble verweist in demselben Interview selbst darauf. Auf den Einwand, er wisse offenbar keine Antwort, mit welchen Mitteln man den Iran zum Einlenken bewegen könne, sagt er: „Ach wissen Sie, in der internationalen Politik mangelt es oft an Phantasie, wie Probleme gelöst werden können. Wenn Sie mich vor 20 Jahren gefragt hätten, wie wir aus dem Patt der atomaren Konfrontation herauskommen, hätte ich keine Antwort gewusst.“

Bei der Analogie zur Entspannungspolitik wird hierzulande freilich meistens vergessen, dass sie nur in Kombination mit einer massiven atomaren Drohkulisse wirksam werden konnte. Das Verhandlungsgeschick deutscher und europäischer Diplomaten mag inzwischen nicht geringer geworden sein. Was jedoch fehlt, ist ein Äquivalent zu den Druckmitteln, die dem Westen in der Konfrontation mit dem Sowjetblock zur Verfügung standen.

Exportweltmeister ohne Weltexperten

Was der deutschen Außenpolitik zudem fehlt, ist ein intellektueller Unterbau, eine Expertenkultur, die mögliche Szenarien in weltpolitischen Brennpunkten systematisch durchspielt und nüchtern analysiert, wo sich Deutschland dabei realistischerweise positionieren könnte. Weil es daran mangelt, dominiert in deutschen außenpolitischen Debatten meist die Frage nach der Definition des Wünschbaren statt des Machbaren. Es hat sich in Deutschland die Erkenntnis noch nicht ausreichend durchgesetzt, dass – spätestens seit dem 11. September – die Trennlinie zwischen internationalen Konflikt-herden und der eigenen nationalen (auch inneren) Sicherheit und Prosperität durchlässig geworden ist. Zwar wurde dies vor allem von Joschka Fischer theoretisch immer wieder betont, etwa in seinem jüngsten Buch „Die Rückkehr der Geschichte. Die Welt nach dem 11. September 2001 und die Erneuerung des Westens“. Doch faktisch ist daraus zumeist nur Symbolpolitik gefolgt. In der deutschen Öffentlichkeit wie unter den kommentierenden Intellektuellen herrscht die Tendenz, etwa einen flammenden Appell für die friedliche Beilegung des Nahost-Konflikts oder für die Integration der Türkei in den Westen bereits mit einem faktischen Schritt in diese Richtung zu verwechseln.

Die Ausblendung der Außenpolitik aus dem Bundestagswahlkampf spiegelt ein öffentliches Bewusstsein wider, das Weltpolitik noch immer als etwas weit Entferntes betrachtet, auf das wir zwar moralischen Einfluss nehmen wollen, das unsere Zukunft aber nicht unmittelbar betrifft. Es fehlt ein Bewusstsein für die Folgewirkungen, die das Handeln Deutschlands als politischem Subjekt auf der Weltbühne verursacht. Wir selbst sehen uns noch immer primär als Objekt der Machtspiele anderer – vor allem Amerikas, auf dessen Tun und Unterlassen die Betrachtung der weltpolitischen Lage hierzulande mit einem gewissen obsessiven Misstrauen fixiert ist.

Diese Haltung entspricht der eigenartig passiven Attitüde, mit der in der deutschen Debatte über die Globalisierung gesprochen wird. Sie erscheint im deutschen politischen Diskurs stets als eine äußerliche, abstrakte Kraft, die von irgendwoher an unsere Grenzen dringt und gegen die wir uns zum eigenen Schutz und Überleben zu wappnen oder – positiv gewendet – an die wir uns freudig anzupassen hätten. Zu wenig begriffen wird aber die Tatsache, dass wir selbst Mitverursacher und aktive Teilnehmer dieser Globalisierung sind. Die Rede vom Exportweltmeister Deutschland geht deutschen Wahlkämpfern jederzeit leicht von den Lippen und ist dazu angetan, das Publikum mit Stolz zu erfüllen. Doch Exportweltmeister kann man nur werden, wenn man selbst über Jahrzehnte hinweg die weltweite Ausweitung und Öffnung von Märkten betrieben hat. Die Kräfte der Globalisierung, die uns jetzt in Form gestiegener Konkurrenz durch Schwellenländer wie China begegnen, sind von den westlichen Industrieländern selbst freigesetzt worden, und wir gehörten zu den ersten, die davon profitierten. Jetzt, da auch die anderen ihre Vorteile nutzen wollen, möchten wir am liebsten nicht mehr mitspielen und uns in das Schneckenhaus unserer Errungenschaften in der Vergangenheit zurückziehen.

Wie man aber nicht von ungefähr Exportweltmeister wird, so muss man sich auch den Titel „Friedensmacht“, wenn man ihn denn anstrebt, erst einmal durch mühsame Realpolitik verdienen. Das setzt aber zuallererst eine unverstellte Benennung der eigenen Interessen, Möglichkeiten und Begrenzungen voraus.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 10, Oktober 2005, S. 14 - 20

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