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Kultur
Historikerstreit: Neue Vorstöße, alte Rückzüge
Mehr als 20 Jahre sind seit dem Historikerstreit vergangen. Brauchen wir immer noch geschichtspolitische Debatten? Ist nicht längst alles gesagt, gibt es nicht eine gewisse Ermüdung, ja einen Unwillen, sich den Fragen von damals noch einmal zu stellen? Dennoch: Es muss sein, es gibt Neues, auch hier. Um das Neue richtig sehen zu können, sollte man einen kurzen Blick zurückwerfen. Vor einigen Jahren schrieb Karl Heinz Bohrer in der Zeitschrift Merkur, der eigentliche Unterschied zwischen dem Stalinismus und dem Staat Hitlers sei es gewesen, dass im Nationalsozialismus die Vernichtung wahllos, nach ethnischen Kriterien ins Werk gesetzt wurde, in der Sowjetunion aber die Feinde individuell und politisch definiert waren. Die Qualität des Subjekts habe Stalin, bei aller Grausamkeit im Einzelnen, seinen Opfern nicht versagt. Bohrers Standpunkt war der eines Intellektuellen, der die Verfolgung von seinesgleichen als Modellfall nahm – die berüchtigten Prozesse gegen Männer wie den Parteitheoretiker Bucharin oder den geistvollen Radek. Von Männern also, bei denen noch die Geständnisse, die sie nach der Folter ablegten, ein psychologisches Rätsel bedeuten konnten.
Wie viele Theorien zum Vergleich – oder zum Vergleichsverbot! – zwischen den beiden großen Diktatursystemen, dem kommunistischen und dem nationalsozialistischen, haben wir schon gelesen? Die aktuellste ist die überraschendste, und sie versucht, die Fraktionslinien des Historikerstreits hinter sich zu lassen: Von Jörg Baberowski und Anselm Doering-Manteuffel erschien soeben unter dem Titel „Ordnung durch Terror“ ein knapper und bestechender Versuch über die Schreckensregime des 20. Jahrhunderts. Und nach der Lektüre dieses Buches bleibt von Bohrers These nicht viel übrig. Denn vor allem Baberowski kann zeigen, wie vor ihm schon Solschenizyn, wie summarisch die Deportationen nicht nur „feindlicher Klassen“, sondern ganzer Ethnien, der Tschetschenen, der Inguschenen oder der Wolgadeutschen abliefen. Was aber ist das Neue, das Besondere an diesem Buch, an dem ein Russland- und ein Deutschland-Experte zusammengearbeitet haben? Vor allem eines: Der ganze Umfang der Verfolgung im 20. Jahrhundert kommt in den Blick. Und dabei wird nicht das Handeln der einen Seite benutzt, um die andere reinzuwaschen, zu entschuldigen.
Der theoretische Ausgangspunkt der beiden Verfasser ist das „Imperium“. In Russland sahen sich die kommunistischen Herrscher mit einer Vielzahl von Völkern konfrontiert, deren Ethnizität sie definieren wollten, sie wurde im Pass eingetragen und diente später zur Erfassung der Feinde – wirklicher wie vermeintlicher. „Unzuverlässige“ Völker aus Grenzgebieten wurden weiter ins Landesinnere deportiert. Baberowski kann zudem nachweisen – und dies ist für den Streit um den „Armenier-Genozid“ durchaus von Belang – wie in den an die Türkei angrenzenden Gebieten ganz ähnliche Untaten mit umgekehrtem Vorzeichen begangen wurden, als es gegen Muslime ging und armenische Täter mitwirkten. Erst der Ordnungsversuch, so die These der beiden Autoren, habe die Erfassung und schließlich die Ermordung oder jedenfalls Verschleppung großer Gruppen möglich gemacht. Beide Regime, das deutsche und das sowjetische, hätten zwar voneinander gelernt, seien aber autonom, nicht in einem „kausalen Nexus“ aufeinander bezogen, der Nationalsozialismus also nicht, wie Ernst Nolte annimmt, als extremistische Antwort auf den bolschewistischen Terror zu verstehen.
Doering-Manteuffel geht der deutschen Imperiumsplanung nach, er untersucht das Bild vom Osten, das man sich schon während des Ersten Weltkriegs machte, weiter dann die Freikorps im Baltikum (nicht aber in Oberschlesien) und die akademische Sozialisation der jungen Männer, die dann die Pläne verwirklichen sollten. Und hier möchte man, so faszinierend die Darstellung ist, doch ein Fragezeichen setzen. Wären denn die Freikorps so brutalisiert gewesen, wenn nicht in Oberschlesien von polnischer Seite geradezu eine „ethnische Säuberung“ versucht worden wäre, gegen die dort ansässigen Deutschen? Hätte die „Ostraum“-Planung deutscher Kreise solche Überzeugungskraft gerade für jüngere Akademiker der Zwischenkriegszeit besessen, wenn nicht auch in Polen die extravagantesten Vorstellungen von den erstrebenswerten Grenzen der jungen, als Ergebnis des Ersten Weltkriegs neu erstandenen Republik verbreitet gewesen wären? So möchte man den Autoren entgegenhalten, dass ganz ohne eine gewisse Dosis jenes „kausalen Nexus“, von dem Ernst Nolte gesprochen hat, auch diese Episode doch nicht begriffen werden kann.
Und am Ende ist die größte Überraschung, dass das Buch im Dietz-Verlag erschienen ist, einem Haus mit ehrwürdiger sozialdemokratischer Tradition. Kehrt die Sozialdemokratie nun zu ihrer ursprünglichen Position zurück, die sie in den zwanziger Jahren einnahm, als sie sich gegen ultralinks zu rechtfertigen hatte? Wird, gegenüber der Position der „Linken“ im Historikerstreit, eine vorsichtige Revision versucht? Ja und nein. Bevorwortet wurde der Band von Hans Mommsen. Und dessen Einlassungen lesen sich nun doch so, als sei das ganze Argument von Baberowski und Doering-Manteuffel an ihm vorbeigegangen. Von einigen hunderttausend Opfern des russischen Kommunismus hört man da – dabei sind solche Zahlen schon fast für jede einzelne Repressionsaktion, für sich genommen, nachzuweisen. Ganz angekommen in der historischen Wirklichkeit des kommunistischen Terrorsystems sind die Sozialdemokratie und die linke Fraktion der Historiker immer noch nicht.
Dr. LORENZ JÄGER, geb. 1951, Diplom-Soziologe und Germanist, unterrichtet an japanischen und amerikanischen Universitäten und ist Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zuletzt erschien von ihm „Adorno. Eine politische Biographie“ (2003).
Internationale Politik 2, Februar 2007, S. 122 - 123.