IP

01. Sep 2017

„Will man Italien damit alleine lassen?“

Romano Prodi über Europas Egoismus in der Flüchtlingskrise

Die Palette der europäischen Befindlichkeiten beim Thema Flüchtlinge reicht von der Erleichterung über sinkenden Migrationsdruck im Zuge des Türkei-Abkommens bis zur Weigerung, überhaupt Flüchtlinge aufzunehmen. Nur von Solidarität mit Grenzländern wie Italien ist wenig zu spüren. Ein Versäumnis mit Folgen? Der Ex-Regierungschef Italiens im IP-Gespräch.

Internationale Politik: Herr Prodi, in der Flüchtlingsfrage versucht Italien seit Jahren, die anderen Europäer zur Solidarität zu bewegen. Immerhin hat EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker jetzt zusätzliche 100 Millionen Euro und mehr Personal zur Beschleunigung der Rückführungsverfahren versprochen. Ein Anfang?

Romano Prodi: Ehrlich gesagt – da bin ich skeptisch. Ich finde es absolut nicht nachvollziehbar, dass tagtäglich Schiffe aus über zehn Staaten die Migranten ausschließlich nach Italien bringen; an manchen Tagen sind es an die 4000. Das sind oft Schiffe mit spanischer oder französischer Flagge! Etwas Solidarität wäre da sicher nicht fehl am Platz. Und was die 100 Millionen Euro betrifft – jedes Almosen ist willkommen. Denn um Almosen handelt es sich hier, um nichts Anderes. Von Politik kann wirklich nicht die Rede sein.

IP: In der Vergangenheit sind bereits rund 800 Millionen Euro aus EU-Töpfen geflossen, um Rom bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise finanziell beizustehen. Ist Italien wirklich nur das Opfer der Gefühlslosigkeit der anderen Mitgliedstaaten?

Prodi: Natürlich hat auch Italien Fehler gemacht. Es hat ziemlich lange gedauert, bis wir einen Plan hatten, wie wir die Asylbewerber aufnehmen, integrieren und über den ganzen Stiefel verteilen wollen. Nichtsdestotrotz haben die Italiener eine einmalige Solidarität bewiesen. In so einer Situation das Gefühl zu haben, von den anderen Ländern im Stich gelassen zu werden, birgt eine schwer zu überschätzende Gefahr. Das ist Wasser auf die Mühlen der Populisten.

IP: Was sollte Brüssel gegen die Länder unternehmen, die sich weigern, Flüchtlinge aufzunehmen, gegen Ungarn, Polen oder Tschechien?

Prodi: Das Problem sind doch nicht diese Länder, sondern eher Spanien, Frankreich und Deutschland – Länder, mit denen uns jahrzehntelange Beziehungen verbinden. Keiner dieser Staaten zeigt sich gewillt, seinen Teil zu leisten. Und das trotz der immer dramatischer werdenden Lage, in der Italien sich befindet. Will man das Land mit diesem Problem wirklich alleine lassen? Soll es daran kaputtgehen? Die Folgen zeigen sich doch jetzt schon, angefangen bei den gesellschaftlichen Spannungen.

IP: Warum ist Italien seinen historischen Verbündeten gegenüber so schwach?

Prodi: Weil jede Regierung nur die eigene Innenpolitik im Blick hat. Italien ist aufgrund seiner geografischen Lage alleine mit dem Migrantenproblem konfrontiert – von den anderen interessiert sich niemand so recht dafür. Nehmen Sie nur mal Österreichs Außenminister Sebastian Kurz. Da das Land im Wahlkampf ist, fabuliert der über eine Flüchtlingswelle über den Brenner, die es gar nicht gibt.

IP: Besonders enttäuscht ist man in Italien vom französischen Staatspräsidenten. Emmanuel Macron ließ nicht nur verlautbaren, Frankreich werde keine Wirtschaftsmigranten aufnehmen, er scheint sich gleichzeitig mit Italien ein Rennen um Libyen liefern zu wollen. Während Rom seit Längerem versucht, die Beziehungen zu Libyen wieder auf die Beine zu bringen, strebt Paris eine Sonderrolle in dem Land an …

Prodi: Trotz seiner Alleingänge würde ich auch weiterhin Hoffnungen auf Macron setzen. Immerhin hat er eingeräumt, dass der Krieg in Libyen ein Fehler war. Wollen wir hoffen, dass Paris über das nötige Fingerspitzengefühl verfügt, ohne das ein dauerhaftes Friedensabkommen nicht hinzubekommen ist. Natürlich ist es nachvollziehbar, dass Macron seinen Landsleuten immer wieder verspricht, sie vor Bedrohungen von außen zu schützen und das Land gleichzeitig wieder auf das internationale Parkett zu bringen. Und wenn das im Widerspruch zu dem steht, was er noch vor nicht allzu langer Zeit behauptet hat – dass Frankreich den Hilferufen Italiens zu wenig Gehör geschenkt habe –, dann scheint das für die meisten eben nur ein unwichtiges Detail zu sein.

IP: Ende Juli ist es Macron gelungen, den libyschen Regierungschef Fayez ­al-Sarraj und General Chalifa Haftar nach Paris einzuladen. Kein leichtes ­Unterfangen, da die zwei sich ja spinnefeind sind. Der Anfang eines libyschen Friedensprozesses?

Prodi: Ich hoffe es sehr. Denn Frieden ist das, was dieses Land am meisten braucht. Und natürlich europäische Solidarität. Im Moment sind wir von beiden Zielen noch weit entfernt. Der Bürgerkrieg in Libyen dauert jetzt schon länger an als der Zweite Weltkrieg. Noch immer ist keiner imstande, die verfeindeten Lager und die 15 wichtigsten Stammesführer an einen Tisch zu bringen. Bis es so weit ist, wird niemand den Schlepperbanden das Handwerk legen können – und damit wird uns auch das Flüchtlingsproblem noch lange erhalten bleiben. Denn anders als im Fall Syrien, wo man ein Abkommen mit der Türkei geschlossen hat, fehlt hier ein Übergangsland, mittels dessen sich der Migrantenstrom eindämmen ließe.

IP: Halten Sie es für möglich, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan angesichts der angespannten Beziehungen zwischen Ankara und Europa, insbesondere Berlin, das Flüchtlingsabkommen mit der EU kappen könnte?

Prodi: Natürlich kann immer viel passieren – ich glaube aber, das wird es nicht. Auch Libyens einstiger Herrscher Muammar al-Gaddafi hatte immer wieder damit gedroht, die Überwachung der Küste (zu der sich das Land im Zuge des 2008 unterzeichneten Freundschaftsabkommens mit Italien verpflichtet hatte, die Red.) einzustellen. Am Ende sind es politische und wirtschaftliche Interessen, die alle wieder zur Vernunft bringen. Der Türkei kann nicht daran gelegen sein, mit der EU dauerhaft im Clinch zu liegen. Europa ist ihr wichtigster Handelspartner und Deutschland spielt eine bedeutende Rolle, sowohl wirtschaftlich als auch politisch. Das wissen die türkischen Machthaber sehr gut.

IP: Bleiben noch die Fluchtursachen. Mit Ihrer Stiftung „Fondazione per la Collaborazione tra i Popoli“ engagieren Sie sich für eine nachhaltige Entwicklungspolitik in Afrika. Die deutsche Regierung arbeitet ihrerseits an einem Marshall-Plan für den Kontinent, und beim G-20-Gipfel nannte Bundeskanzlerin Angela Merkel Afrika als eine ihrer Prioritäten. Sehen Sie hier Möglichkeiten der Kooperation?

Prodi: Ich hatte in der Tat gedacht, die Stellungnahme der Bundeskanzlerin würde eine politische Debatte lostreten, wie man die vor Ort verfügbaren Ressourcen mobilisieren und die nötigen Strukturen aufbauen könnte. Vielleicht auch in Zusammenarbeit mit der chinesischen Regierung. Denn bei allen Mängeln sind die Chinesen im Moment die einzigen, deren Strategie den ganzen Kontinent im Blick hat. Doch bis jetzt ist da nicht viel passiert.

IP: Wie würden Ihre Pläne für Afrika aussehen?

Prodi: Zunächst einmal würde ich die Fördergelder der EU mit denen der Kooperationsstrukturen der einzelnen Staaten bündeln und für eine gemeinsame Strategie einsetzen. Nur so ließe sich ein Plan ausarbeiten, der dem Kontinent den Start in eine anhaltende Entwicklungsphase ermöglichen würde. Afrika mangelt es nicht an natürlichen Ressourcen, sondern an den technischen und politischen Fähigkeiten, diesen Entwicklungsprozess alleine zu meistern. Afrika besteht aus 54 Staaten. Ohne eine Koordinierung der unterschiedlichen politischen Strukturen dieser Staaten, ohne einen einheitlichen Wirtschaftsraum hat es überhaupt keinen Sinn, von Entwicklung zu sprechen. Der europäische Plan sollte vorrangig den Ausbau von Infrastrukturen fördern. Damit meine ich nicht nur Straßen und Eisenbahntrassen, sondern auch ein funktionierendes Telefon- und Energienetz und ein modernes Schul- und Gesundheitswesen. Dass dieser Ansatz der richtige ist, beweisen die Wachstumszahlen einiger afrikanischer Länder, in denen die Chinesen die Mobilfunknetze ausgebaut haben.

Das Interview führte Andrea Affaticati.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September-Oktober 2017, S. 18 - 21

Teilen

Themen und Regionen

Mehr von den Autoren