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01. Mai 2006

Wieviel Altes im Neuen?

Zum Aufbau neuer Institutionen in Afghanistan

Afghanistan hat nun ein demokratisch gewähltes Parlament und eine rechtsstaatliche Verfassung. Justiz, Polizei und Armee werden neu aufgebaut. Doch in den neuen Strukturen wirken die alten Herrscher und Kriegsfürsten fort. Noch ist nicht entschieden, ob sie sich in die neue Ordnung einpassen oder ob diese zu einer Fassade verkommt, hinter der sich wieder Willkür, Gewalt und Korruption breit machen.

Der „Bonner Prozess“, die Errichtung neuer, demokratischer Institutionen, die im Dezember 2001 bei einer Konferenz auf dem Petersberg beschlossen worden war, hat die dort gesetzten Wegmarken erreicht:

Afghanistan hat eine demokratische Verfassung, seine Bürger haben – zum ersten Mal in der Geschichte des Landes – ihren Präsidenten und ein Parlament gewählt. Aber Afghanistan ist noch nicht am Ziel. Die neuen Institutionen müssen sich nun bewähren. Dazu gehört, dass die Kräfte, die sich während der Zeit des Widerstands gegen das kommunistische System und während der anschließenden inneren Kämpfe gebildet hatten, die neuen Strukturen und Verfahren anerkennen und in sie integriert sind, oder, wenn sie dazu nicht bereit sind, entmachtet werden.

Zu Beginn des Bonner Prozesses waren die Taliban militärisch bereits besiegt. Eine Versöhnungskommission bemüht sich weiterhin, die einsichtigen und maßvollen Mitglieder der Taliban in die demokratischen Institutionen zu integrieren. Die gewaltbereiten Reste aber versuchen zusammen mit Al-Qaida, aus dem schwer zugänglichen Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan heraus, durch Terrorakte – neuerdings auch durch Selbstmordattentate – Unsicherheit zu erzeugen. Sie haben auf längere Sicht keine Chance, wenn es den demokratischen Institutionen gelingt, die Unterstützung der Bevölkerung zu behalten.

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes waren wieder die Kräfte hervorgetreten, die den Widerstand gegen das von der Sowjetunion gestützte kommunistische System vor allem getragen hatten, die Gruppen der Mudschaheddin. Diese Gruppen hatten nach dem Zusammenbruch des Systems 1992 untereinander einen Kampf um die Macht begonnen, unter dem die Zivilbevölkerung schrecklich zu leiden hatte.

Je mehr die Macht der Zentralregierung verfiel, umso mehr Macht wuchs denen zu, die über Kämpfer und Waffen verfügten. Sie wurden zu Kriegsherren in ihren Gebieten. Einigen gelang es, sich selbst oder ihre Anhänger in quasi-offizielle Positionen zu bringen. Sie wurden Gouverneure oder Polizeichefs. Die Grenze zwischen ihnen und dem Staat wurde verwischt.  

Einige der Kriegsherren waren und sind heute wieder gleichzeitig Führer politischer Parteien. Dazu gehören Abdul al-Rasul Sayyaf und Burhanuddin Rabbani. Beide hatten schon in den sechziger Jahren bei ihren Studien in Kairo die Ideen der Muslimbrüder aufgenommen und dann in Afghanistan verbreitet. Im Widerstand gegen die Kommunisten gewannen sie mit Unterstützung aus Pakistan, den USA und Saudi-Arabien Macht und Bedeutung. Ihre Parteien sind in dem neugewählten Parlament vertreten. Gulbuddin Hekmatyar dagegen, der einen ähnlichen Werdegang hatte, lehnt die Mitarbeit in den neuen Institutionen ab. Abdul Raschid Dostum, der unter den Kommunisten eine militärische Karriere gemacht hatte, wechselte erst kurz vor deren Sturz zum Widerstand über. Er setzte auf die ethnische Karte und es gelang ihm, Führer der usbekischen Partei zu werden, die nun ebenfalls im Parlament sitzt.

Die neue Verfassung

Vielleicht sind die Chancen für die Demokratie in Afghanistan besser als anderswo, weil das Land mit anderen Regimen so ernüchternde Erfahrungen gemacht hat: mit einem kommunistischen System, mit der Herrschaft konservativ-islamischer Gruppen, die untereinander um die Macht kämpften, und schließlich mit den Taliban, die der Bevölkerung mit Gewalt ihre engstirnige Version eines Lebens unter islamischen Regeln aufzwangen.

Neue Legitimität konnte nur in einem demokratischen Verfahren begründet werden. Dazu kam die Einsicht, dass das Land nur mit internationaler Unterstützung wieder aufgebaut werden kann. Dies und das Wirken der USA im Hintergrund erlaubten eine Einigung in der verfassungsgebenden Loya-Jirga im Januar 2004.

Die Grundzüge der neuen Verfassung sind demokratisch und rechtsstaatlich. Sie enthält einen klar formulierten Abschnitt über die Grundrechte und -pflichten des Einzelnen (Art. 22 – 59), beginnend mit dem generellen Diskriminierungsverbot und der Garantie der Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Eine Unabhängige Menschenrechtskommission soll die Einhaltung dieser Rechte fördern.

Der Präsident wird vom Volk gewählt. Er ist als Staatsoberhaupt gleichzeitig Chef der Regierung und Oberkommandierender der Streitkräfte und damit sicher die zentrale Institution.

Aber er ist bei vielen wichtigen Entscheidungen an die Zustimmung der Volksvertretung gebunden:

  • bei der Bestimmung der Richtlinien der Politik des Landes,
  • bei der Ernennung der Minister, des Generalstaatsanwalts und anderer hoher Amtsträger der Exekutive,
  • bei der Ernennung des Präsidenten und der Mitglieder des Obersten Gerichtshofs.

Daraus ergibt sich im Spiegelbild die Stärke des Parlaments. Es besteht aus zwei Kammern, der direkt gewählten Volksvertretung und dem Ältestenrat, dessen Mitglieder teils indirekt gewählt, teils vom Präsidenten ernannt werden.

Bemerkenswert ist die starke Stellung der Frauen: In der Volksvertretung müssen laut Verfassung 68 Mitglieder – also ein Viertel – Frauen sein, im Ältestenrat die Hälfte der vom Präsidenten ernannten Mitglieder.

Gesetze sind grundsätzlich von beiden Kammern zu beschließen. Die Verfassung setzt also eine enge Zusammenarbeit zwischen Regierung und Parlament voraus. Welche Schwierigkeiten dabei auftreten können, wurde allerdings bei den Wahlen zum Parlament deutlich.

Die neue Verfassung weist dem Islam einen wichtigeren Platz zu, als es die Verfassung von 1964 tat. Er taucht schon im Staatsnamen auf: Afghanistan ist eine islamische Republik. Interessant ist die Zusammenschau der folgenden Bestimmungen der neuen Verfassung:

Nach Artikel 2 ist der Islam Staatsreligion. Anhängern anderer Religionen wird die Religionsfreiheit im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen eingeräumt. Weder die Verfassung noch das staatliche Strafrecht verbieten den Wechsel der Religion durch einen Muslim. Trotzdem wurde kürzlich ein Muslim, der zum Christentum übergetreten war, vor Gericht gebracht, und der zuständige Richter erklärte unter Berufung auf die Scharia, darauf stehe die Todesstrafe. Nach heftigen Protesten aus dem westlichen Ausland wurde ein Weg zur Freilassung des Angeklagten gefunden. Es gibt aber Drohungen von Seiten muslimischer Geistlicher, die Todesstrafe könne vom Volk vollstreckt werden. Dieser Fall hat in aller Deutlichkeit die Spannungen zwischen den von der Verfassung geschützten Rechten und Teilen der Scharia gezeigt.

Artikel 3 schreibt vor: „Kein Gesetz darf dem Glauben und den Bestimmungen der heiligen Religion des Islam widersprechen.“ Wer entscheidet über die Anwendung dieser sehr vagen Formulierung?

Laut Artikel 121 gehört zu den Befugnissen des Obersten Gerichtshofs „die Überprüfung der Gesetze, der internationalen Verträge und Konventionen auf Übereinstimmung mit der Verfassung“. In Verbindung mit Artikel 3 der Verfassung wird der Islam so zum Maßstab nicht nur der Gesetze, sondern auch der internationalen Verträge.

Was sagt nun die Verfassung über die Mitglieder des Obersten Gerichtshofs? Sie müssen gemäß Artikel 118 über höhere Bildung in der Rechtswissenschaft oder im islamischen Recht verfügen. Sie leisten ihren Amtseid „im Namen des erhabenen Gottes“ und schwören, „Recht und Gerechtigkeit gemäß den Bestimmungen der heiligen Religion des Islam, dem Geist dieser Verfassung (in dieser Reihenfolge! d.A.) und sonstiger Gesetze Afghanistans zu wahren“. Ernannt werden sie vom Präsidenten, aber mit Zustimmung der Volksvertretung.

Aus all dem ergibt sich eine komplizierte Gemengelage aus alten und neuen Elementen. Ob sich daraus eine haltbare Synthese entwickeln kann, muss sich erst zeigen.

Die Wahlen

Die Verfassung sieht vor, dass der Präsident vom Volk direkt gewählt wird. Man kann die ersten Präsidentenwahlen, die am 9. Oktober 2004 stattfanden, gleichzeitig als Plebiszit über die neue Verfassung begreifen. 76 Prozent der registrierten Wähler gaben durch ihre Teilnahme an den Wahlen zu erkennen, dass sie die Verfassung unterstützen und die Gelegenheit begrüßen, über die Besetzung des wichtigsten Amtes in ihrem Staat mitzuentscheiden.

Die Wahlen verliefen ohne schwerere Zwischenfälle. Ihr Ergebnis wurde auch von den unterlegenen Kandidaten akzeptiert. Hamid Karsai erhielt 55 Prozent der Stimmen, der erfolgreichste Gegenkandidat nur 16 Prozent der Stimmen. Karsai hatte sich als Mann des Ausgleichs präsentiert, der mit allen politischen Kräften Verbindung hielt. Er setzte sich auch dafür ein, den Taliban als Einzelpersonen die Teilhabe am politischen Leben zu erlauben, wenn sie die neuen Spielregeln akzeptierten. Seiner Herkunft nach Paschtune, konnte Karsai – wie das Wahlergebnis beweist – auch Stimmen aus anderen Ethnien auf sich vereinen. Vor den Wahlen hatte er gegenüber zwei mächtigen Kriegsherren seine Unabhängigkeit demonstriert. Er hatte entschieden, nicht mit Marschall Mohammad Qasim Fahim, der bisher als Vizepräsident und Verteidigungsminister an seiner Seite gestanden hatte, in die Wahlen zu gehen. An seiner Stelle wählte er einen Bruder Ahmad Schah Massouds, damals Botschafter in Moskau, und den Hazara Karim Chalili als seine Kandidaten für die Ämter der Vizepräsidenten. Einen anderen Kriegsherrn, Ismail Chan, entließ er im September 2004 als Gouverneur von Herat. Dieser hatte das Amt auch zur Festigung seiner eigenen Machtstellung genutzt. Nach den Wahlen nahm ihn Karsai als Energieminister in sein Kabinett auf: Er wollte ihn von seiner regionalen Machtbasis trennen und ihn doch an seiner Seite haben. Fahim berief er nach den Parlamentswahlen zum Mitglied des Ältestenrats.

 Die Wahlen zum Parlament waren weit komplizierter als die Präsidentenwahl. Sie konnten von daher nicht gleichzeitig, sondern erst ein Jahr später, am 18. September 2005, stattfinden. Direkt gewählt wurde dabei die Volksvertretung. Gleichzeitig mussten die Provinzräte gewählt werden, die wiederum an der Wahl des Ältestenrats beteiligt sind.

Wichtige Fragen waren vor den Wahlen zu entscheiden: Welche Kandidaten sollen zugelassen werden? Die Verfassung (Art. 85) bestimmt, dass Personen, die durch ein Gericht wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder andere Verbrechen verurteilt worden sind, nicht Abgeordnete werden sollen. Da die Justiz aber lange Zeit überhaupt nicht und auch jetzt nur in eingeschränktem Maße funktioniert, wurde u.a. von der unabhängigen Menschenrechtskommission gefordert, ein eigenes Überprüfungsverfahren einzurichten. Die damit verbundenen Schwierigkeiten waren der Wahlbehörde aber zu groß. Von der Kandidatur wurden nur diejenigen ausgeschlossen, die nach wie vor Verbindungen zu illegalen bewaffneten Gruppen unterhielten. Dies geschah in 34 Fällen.

Noch wichtiger war die Frage, nach welchem System gewählt werden sollte. Karsai widersetzte sich den Empfehlungen der internationalen Gemeinschaft, ein Wahlsystem anzuwenden, das die Bildung weniger starker politischer Parteien fördern würde. Er folgte auch nicht dem Rat, eine Partei gründen zu lassen, die ihn im Parlament unterstützen würde. Vielmehr vertrat er die Meinung, dass ein System politischer Parteien für Afghanistan nicht passt. Er entschied sich für ein reines Persönlichkeitswahlrecht. Auf den Stimmzetteln sollten nur die Namen der Kandidaten erscheinen, ihre Zugehörigkeit zu einer Partei sollte nicht erwähnt werden.

Insgesamt stellten sich 5800 Kandidaten zur Wahl, davon 2500 für die Volksvertretung, unter ihnen 582 Frauen. Wie sollten sich die Wähler für einen Kandidaten entscheiden? Selbst wenn sich die Kandidaten zu einer Partei bekannten, half das nicht viel, denn ihre Zahl war hoch (über 70), ihre politische Linie oft unklar.

Das Wahlsystem und die damit verbundene Schwierigkeit, sich eine Meinung über die Kandidaten zu bilden, hat vermutlich dazu beigetragen, viele Afghanen von den Wahlen fernzuhalten. Die Beteiligung war mit 51,5 Prozent viel geringer als bei den Präsidentenwahlen.

Die Zusammensetzung der Volksvertretung ist zersplittert und unübersichtlich: 33 Parteien sind dort vertreten. Es wurde auch eine Reihe von unabhängigen Kandidaten gewählt, die schwer zuzuordnen sind. Erfreulich ist, dass 68 Frauen zu ihren Mitgliedern gehören. Ein Drittel von ihnen wäre auch ohne die von der Verfassung vorgeschriebene Quote gewählt worden. Es zeigte sich, dass die oft beschworenen Traditionen Afghanistans keineswegs unveränderlich sind. Die Frauen können ein starkes Element der Veränderung werden, denn gerade sie profitieren davon.

Es gab viel mehr Klagen über Regelverstöße beim Wahlvorgang als bei der Präsidentenwahl. Vor allem wurde über Versuche der Einschüchterung durch Machthaber in den Provinzen berichtet. Aber wo verläuft die Grenze zwischen den tatsächlichen Vorteilen eines bekannten Machthabers und unzulässigem Druck? Die regionalen Machthaber konnten im Wahlkampf sicher mit größerer Überzeugungskraft behaupten, sie würden ihren Einfluss im Parlament benutzen, um die Interessen des Wahlkreises durchzusetzen. Und das ist es, was viele Wähler von ihnen erwarten.

Die meisten Parteien in der Volksvertretung sind islamisch geprägt. Es ist nicht leicht, zwischen islamistisch-fundamentalistischen und moderat-konservativen Parteien zu unterscheiden, wie es manche Analytiker tun. Neben den islamisch geprägten Parteien gibt es solche mit eindeutiger ethnischer Basis, wie die von Dostum geführte Jumbesch, die wohl die meisten Stimmen der usbekischen Wähler erhalten hat. Die Stimmen der anderen Ethnien verteilen sich auf mehrere Parteien. Man kann also nicht sagen, dass die Volkskammer ethnisch strukturiert ist. Enttäuschend war das Ergebnis für die Parteien, die sich zu einem demokratischen Bündnis zusammengeschlossen hatten: Sie erhielten zusammen sieben Sitze. Sechs gingen an Linksparteien.

Wie die Parteien und die unabhängigen Abgeordneten im Parlament agieren werden, wird sich zeigen. Welche für und welche gegen die Regierung sind, lässt sich generell sagen. Die Volksvertretung hat aber schon gezeigt, dass sie auf die Bildung der neuen Regierung Einfluss nehmen will. Sie hat den Vorschlag Präsident Karsais abgelehnt, die von ihm gebildete Regierung als ganze zu bestätigen. Vielmehr will sie über jeden einzelnen Minister gesondert abstimmen, was nicht nur viel Zeit kosten, sondern ihr auch die Möglichkeit geben wird, Bedingungen zu stellen. In der laufenden Arbeit wird Karsai versuchen müssen, Ad-hoc-Koalitionen zu bilden – ein schwieriger, vor allem langwieriger Prozess. Männer wie Sayyaf werden weiterhin eine Rolle spielen, obwohl seine Partei nur sieben Sitze erringen konnte. Gerade er hat aber auch Einfluss auf den Obersten Gerichtshof, der – wie schon ausgeführt – Gesetze als verfassungswidrig erklären kann, die gegen den Islam verstoßen. Es ist noch nicht zu erkennen, wie sich Parlament und Gerichtshof darauf einstellen werden.

Aufarbeitung der Vergangenheit

Die Erinnerung an die Gewalttaten, unter denen zwischen 1978 und 2001 vor allem die Zivilbevölkerung zu leiden hatte, besteht weiter und ist für viele Afghaninnen und Afghanen eine bleibende seelische Wunde.

Es war die unabhängige Menschenrechtskommission, die auch dieses Problem anpackte. Im Jahr 2004 befragte sie über 4000 Menschen nach ihren Erfahrungen in den schrecklichen 23 Kriegsjahren und nach ihren Vorstellungen über die Verarbeitung dieser Erfahrungen. Außerdem wurden Fokus-Gruppen zur Diskussion dieser Fragen eingerichtet.

69 Prozent der Befragten bezeichneten sich selbst oder ihre nächsten Angehörigen als Opfer von Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen. 40 Prozent verlangten die Verfolgung der Täter, 90 Prozent ihre Entfernung aus öffentlichen Ämtern.

Besonderes Aufsehen erregte ein Bericht der Human Rights Watch, der im Juli 2005 unter dem Titel „Blood-Stained Hands“ veröffentlicht wurde. Er konzentrierte sich auf die Zeit der Kämpfe zwischen den Mudschaheddin von 1992 bis 1996 und nannte auch die Namen der Männer, unter deren Verantwortung die Verbrechen begangen worden sein sollen und die jetzt wieder in Amt und Würden sind: Es waren Sayyaf und Dostum, beide Mitglieder der Volksvertretung, sowie Fahim, der vom Präsidenten zum Mitglied des Ältestenrats ernannt worden war, und Chalili, jetzt Vizepräsident.

Karsai verteidigte vor den Wahlen ausdrücklich die Kandidatur der Mudschaheddinführer, auch wenn sie der Verletzung von Menschenrechten beschuldigt würden. Ihre Kandidatur sei im Interesse der nationalen Versöhnung. Die Wähler sollten entscheiden. Wenn sie jemanden für einen Kriminellen hielten, würden sie nicht für ihn stimmen.

Tatsächlich aber sind Sayyaf und Dostum in die Volksvertretung gewählt worden. Wie soll man das erklären? Die Dostum-Partei hat natürlich vor allem die Stimmen der Usbeken bekommen, die nicht zu den Opfern zählten. Diejenigen, die für Sayyafs Partei gestimmt haben, mögen es auch heute noch für richtig halten, dass dieser mit Gewalt für die Macht seiner Gruppe gekämpft hat. Andere mögen bezweifeln, was über die Taten berichtet wird, die unter der Verantwortung dieser Männer begangen worden sein sollen.

Der Versuch, die Vergangenheit zu verarbeiten, ist keineswegs endgültig fehlgeschlagen. Dass viele Afghanen, und besonders Frauen, darauf bestehen, hat sich bei einer Konferenz in Kabul über „Wahrheitssuche und Versöhnung“ in Kabul im Dezember 2005 erneut gezeigt. Demgegenüber wurde von Regierungsseite betont, dass die Versöhnung nicht aufs Spiel gesetzt werden dürfe. Als gemeinsame Basis für das weitere Vorgehen zeichnet sich ab, dass die Verbrechen jedenfalls aufgeklärt werden müssen und dass die Ergebnisse künftig bei der Übertragung öffentlicher Ämter zu berücksichtigen sind. Eine strafrechtliche Verfolgung war bisher angesichts des Zustands der Justiz kaum möglich. Wann und in welchen Fällen sie durchgeführt werden kann, hängt von den Fortschritten bei der Justiz ab.

Präsident Karsai hat nun einen Aktionsplan unter dem Titel „Peace, Justice and Reconciliation in Afghanistan“ gebilligt, der mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft durchgeführt werden soll.

Alte Machtstrukturen und die Reform des Sicherheitssektors

Die Reform des Sicherheitssektors, die bei einer Konferenz auf dem Petersberg im Dezember 2002 in ihren Grundzügen festgelegt wurde, war eine Ergänzung des ein Jahr zuvor beschlossenen „Bonner Prozesses“. Die neue afghanische Regierung musste die Mittel erhalten, um ihre Macht auf das gesamte Staatsgebiet ausdehnen zu können. Die Reform war auf die Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration irregulärer Verbände ausgerichtet. An ihrer Stelle sollten die neuen Streitkräfte errichtet und die Polizei wieder aufgebaut werden, beides in engem Zusammenhang mit dem Wiederaufbau der Justiz. Diese Institutionen sollten auch in die Lage versetzt werden, die Bekämpfung der Drogenwirtschaft zu übernehmen.

Die Demobilisierung der Milizen ist offenbar ein wichtiger Schritt zur Beseitigung von Machtzentren außerhalb der staatlichen Strukturen. Die schweren Waffen sind einigermaßen vollständig beseitigt worden. Bei der Demobilisierung der Kämpfer wusste man von Anfang an nicht genau, wie viele von ihnen es überhaupt gab. Es war auch unmöglich, ihre kleineren Waffen vollständig einzuziehen. Die beste Vorkehrung gegen eine Remobilisierung der Kämpfer war die Reintegration in das Zivilleben. Dieses Programm ist nun abgeschlossen. Aber die noch bestehenden illegalen bewaffneten Gruppen aufzulösen bleibt eine schwierige Aufgabe. Auf der Londoner Konferenz, die Ende Januar 2006 über den weiteren Weg beraten hat, den Afghanistan mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft gehen soll, wurde entschieden, die Auflösung dieser Gruppen bis Ende 2007 abzuschließen.

Die neuen Streitkräfte sollen mit Unterstützung der USA bis 2010 von jetzt 35 000 zu ihrer Zielstärke von 72 000 Mann anwachsen.

 Die Polizei soll ebenfalls 2010 mit bis zu 62 000 Beamtinnen und Beamten voll einsatzfähig sein. Ihre Erneuerung von innen heraus bleibt eine schwierige Aufgabe. Eine neue Generation von Offizieren und Unteroffizieren wird an der Polizeiakademie ausgebildet, die mit deutscher Unterstützung wieder aufgebaut worden ist. Gleichzeitig sollen im Zuge einer Rang- und Gehaltsreform besser qualifizierte Kräfte in die leitenden Positionen gebracht werden. Die Offiziere, die vor 2001 ohne professionelle Qualifika-tion in leitende Positionen gelangt waren, sollen entweder degradiert oder ganz aus der Polizei entfernt werden, so dass die Regierung künftig auf die Loyalität und professionelle Qualität der Offiziere vertrauen kann.

Gleiches gilt für die Justiz. Die Fortbildung der vorhandenen Richter und Staatsanwälte ist im Gange. Dringlich ist eine Verbesserung der Gefängnisse. Sie müssen sicher genug sein, um auch Drogenkriminelle verwahren zu können, müssen aber den Insassen andererseits auch menschenwürdige Lebensbedingungen garantieren.

Ein ebenso dringendes wie komplexes Problem ist die Bekämpfung der Produktion von und des Handels mit Opium und Heroin – Drogen, die zum größten Teil exportiert werden. Sie sind eine große Gefahr, besonders für die Nachbarländer, aber auch für Europa. Sie gelangen entweder über die nördlichen Nachbarn, vor allem Tadschikistan, nach Osteuropa oder über die südliche Grenze nach Pakistan, über die östliche nach Iran und von dort über die Türkei nach Mittel- und Westeuropa. Gefährlich für die Stabilität Afghanistans ist, dass die Drogeneinkünfte in die Hände von Gegnern der neuen Institutionen geraten. Kriegsherren finden hier riesige Einnahmequellen, die ihnen erlauben, illegale bewaffnete Gruppen zu bezahlen und besser auszurüsten, wozu sie sonst auf längere Sicht kaum in der Lage wären. Gleichzeitig können mit den Drogeneinkünften Regierung und Verwaltung, Polizei und Justiz korrumpiert und von innen ausgehöhlt werden. Es sind ungeheure Summen im Spiel: 2004 betrug der Erlös aus Drogenexporten 2,8 Milliarden Dollar, das entspricht 61 Prozent des legalen BSP. 2005 lagen die Erlöse immer noch bei 2,7 Milliarden Dollar, was 52 Prozent des inzwischen gewachsenen BSP entspricht.

Das Problem ist nicht kurzfristig lösbar. Die Bekämpfung wird an mehreren Punkten ansetzen müssen. Für die Verwaltung, die Polizei und die Justiz sind die Unterbindung des Mohnanbaus und die Verfolgung der Produzenten und Händler eine gewaltige Herausforderung. Ohne Unterstützung von außen können sie diese noch nicht bewältigen.

Langfristig müssen nicht nur die Produktion und der Handel mit Drogen unterbunden werden. Den Mohnanbauern müssen gleichzeitig durch ein umfassendes Programm ländlicher Entwicklung alternative Einkommensquellen erschlossen werden.

Mögliche Gefahren

Afghanistan hat auf dem Weg zu innerer Stabilität und wirtschaftlicher Entwicklung, den es Ende 2001 eingeschlagen hat, bemerkenswerte Fortschritte gemacht. Es lauert aber eine Reihe von Gefahren, von denen nur eine eintreten muss, um Stabilisierung und Entwicklung zu verzögern oder gar zu verhindern. Die Drogenwirtschaft ist wohl die größte Gefahr. Das Spannungsverhältnis zwischen neuen Strukturen und alten Mächten ist damit verbunden. Es zeichnen sich zwei Grundszenarien ab:

  • Das Alte – nämlich vor allem die Machtstrukturen der Kriegsherren und die mit ihnen verbundenen islamistischen Parteien – wird in die neuen staatlichen Institutionen integriert und arbeitet dort im Rahmen der neuen Verfassung mit. Die Formen und Verfahren wären dann demokratisch, die Inhalte durch den Islam wesentlich mitbestimmt. Dies ist das Wunschszenario von Karsai. Damit wären auch Rechtsstaatlichkeit und Berechenbarkeit als Bedingungen für die wirtschaftliche Entwicklung gesichert. Gelingt es, dieses Szenario Realität werden zu lassen, so dürfte der Widerstand der Taliban auf mittlere und längere Sicht immer weniger Unterstützung finden und schließlich erlahmen.
  • Die alten Kräfte benutzen die neuen Institutionen für ihre eigenen Zwecke, höhlen sie aus, machen sie unglaubwürdig und verwandeln sie schließlich in eine Fassade, die nur noch dazu dient, die alten Machtstrukturen dahinter zu verschleiern. So könnte die Mitgliedschaft im Parlament benutzt werden, um sich durch die Immunität gegen die Verfolgung wegen alter und neuer Verbrechen abzuschirmen. Sie kann auch dazu dienen, Posten und Pfründe für die Anhänger zu erhalten. Schließlich kann die Präsenz in den neuen Institutionen dazu missbraucht werden, die illegale Drogenwirtschaft zu decken.

Es bestehen gute Chancen, das erste Szenario Wirklichkeit werden zu lassen. Aber ohne weitere Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft wird Afghanistan seine Ziele nicht erreichen können. Mit Recht wird im Schlussdokument der Londoner Konferenz gesagt, dass Sicherheit nicht allein mit militärischen Mitteln hergestellt werden kann. Entscheidend ist vielmehr, dass unter dem Dach militärischer Sicherheit, das ISAF und „Enduring Freedom“ bereitstellen, die neuen Institutionen Afghanistans erstarken und immer mehr Verantwortung übernehmen können, gerade bei der Drogenbekämpfung. Dabei sind Polizei und Justiz als Garanten der inneren Sicherheit und des Rechtsstaats von entscheidender Bedeutung.

Deutschland sollte die Unterstützung, die es beim Aufbau der Polizei leistet, bis zu dem nun auf 2010 festgelegten Zieldatum fortführen.

Auch die Erschließung alternativer Einkommensquellen für die Mohnanbauer wird Afghanistan noch nicht allein leisten können. Angesichts der Gefahren, die vom Drogenexport ausgehen – auch für uns selbst – sollte die ländliche Entwicklung zu einem Schwerpunkt deutscher Entwicklungszusammenarbeit gemacht werden.

Afghanistan braucht unsere Hilfe auf der schwierigen Wegstrecke, die noch vor ihm liegt.

Dr. RUDOLF SCHMIDT, Botschafter a.D., geb. 1938, war von Juli 2004 bis Oktober 2005 als Sonderbeauftragter für die internationale Koordinierung des Polizeiaufbaus in Afghanistan tätig. Er stellt in dem Artikel seine persönliche Auffassung dar.