Wie die Deutschen die Welt sehen
Ergebnisse einer neuen Studie des German Marshall Fund
Überraschende Umfragen: Nachbarn und Freunde erwarten immer noch etwas von uns
Diese Wahl war eine „Richtungswahl“ für Deutschland. Aber nicht nur für Deutschland. So wenig die Außenpolitik Wahlkampfthema war, Deutschland ist ein Dreh- und Angelpunkt für fast alle Zukunftsfragen westlicher Außenpolitik. Neubelebung des trans-atlantischen Bündnisses, Erweiterung und Vertiefung der EU, Protektorate auf dem Balkan und in Afghanistan, Integration der Türkei, Eindämmung des Irans, strategische Beziehungen zu Russland, China und Indien, Demokratieförderung in Osteuropa sowie im Nahen und Mittleren Osten, nicht zuletzt die Reform der Vereinten Nationen und der NATO: Bei all diesen Fragen kommt Deutschland eine Schlüsselrolle zu – und sei es, weil ein transatlantischer oder europäischer Ansatz unmöglich wird, wenn Berlin bremst oder fehlt.
Was ist das für ein Deutschland, auf das sich so viele Erwartungen richten? Wie wird es von der Welt gesehen – und wie sieht es sich selbst? Antworten gibt die Umfrage „Transatlantic Trends 2005“, die am 7. September veröffentlicht wurde. Sie wird seit 2002 jährlich vom German Marshall Fund of the United States und der Compagnia di San Paolo veranstaltet.1 Dabei wurden zwischen dem 31. Mai und dem 17. Juni 11 000 Menschen in neun EU-Staaten, der Türkei und den USA interviewt, je 1000 pro Land. Die deutschen Zahlen überbringen eine klare Botschaft: Falls es eine CDU-Kanzlerin gibt, brächte sie allein noch keinen transatlan-tischen Frühling; gerade beim Thema USA rücken konservative und linke Wähler immer enger zusammen. Viel schärfere Differenzen werden dagegen zwischen Regierungspolitik und öffentlicher Meinung sowie zwischen den Generationen erkennbar. Im europäisch-transatlantischen Kontext schließlich gleichen sich die Deutschen ihren Nachbarn tendenziell an, werden „normaler“ – mit überraschenden Ausnahmen.
Schröderreich oder Merkelland?
Welchen Auftrag, wieviel Gestaltungsfreiheit hat Deutschlands neuer Regierungschef in der Außenpolitik? Im Wahlkampf warb das rot-grüne Schröderreich für sich als „selbstbewusste mittlere Friedensmacht“, die an der Spitze der UN das Weltgeschehen mitbestimmen will, Distanz zu Amerika wahrt, Frankreich und Russland umarmt und Ja zur EU-Mitgliedschaft der Türkei sagt. Ein schwarzgelbes Merkelland dagegen würde, so seine Apologeten, wieder die traditionelle Mittlerrolle suchen zwischen Paris und Washington, zwischen Europas Großen und Kleinen, zwischen Old und New Europe – aber der Türkei höchstens eine „privilegierte Partnerschaft“ mit der EU anbieten.
Aus den Transatlantic Trends-Daten dagegen geht klar hervor, wie künstlich diese Polarisierung ist – und wie eng umschrieben der außenpolitische Spielraum für das neue Regierungsoberhaupt bleibt. Ein markantes Beispiel sind die Antworten auf die Frage, ob militärische Stärke die beste Friedensgarantie sei. 77 Prozent der Befragten lehnten diese These ab. Eine überwältigende, lagerübergreifende Mehrheit der Deutschen hegt also nach einem Jahrzehnt von Bundeswehreinsätzen „out of area“ nach wie vor Skepsis gegenüber dem Einsatz von „hard power“ (dem militärischen Ende der außenpolitischen Instrumentenskala). Das erklärt – wenn es dessen noch bedurfte –, warum auch eine unionsgeführte Regierung keine Soldaten in den Irak schicken würde. Doch auch Aufforderungen aus Übersee, die Bundeswehr noch kampftauglicher zu machen oder gar in gefährliche Einsätze zu schicken, dürften bei konservativen Wählern mit gemischten Gefühlen aufgenommen werden.
Gewiss, mehr Konservative als Linke wollen die USA als starke globale Führungsmacht sehen (51 gegen 30 Prozent) – aber 60 Prozent der deutschen Befragten lehnen eine amerikanische Führungsrolle in der Welt ab. Nur 15 Prozent mehr Rechte als Linke verteidigen die Außenpolitik George W. Bushs; kein Trost angesichts einer Gesamt-Ablehnungsrate von 83 Prozent. Auf dem Stimmungsbarometer2 schließlich erreichen die USA aus deutscher Sicht lauwarme 51 Grad (links: 47, rechts: 55 Grad) – gerade einen Grad über Russland mit 50 Grad. Im transatlantischen Verhältnis könnte sich unter einer neuen deutschen Regierung der Ton verbessern, doch in der Sache würde sich – das folgt aus diesen Zahlen – wenig ändern.
Bei der türkischen EU-Bewerbung sind die Meinungsunterschiede zwischen den Lagern ähnlich stark ausgeprägt – aber ebenfalls zu Ungunsten Amerikas, das seit Jahren für den Kandidaten aus Ankara trommelt. 40 Prozent der Deutschen wollen die Türkei nicht in der Union sehen (bei 43 Prozent Unentschlossenen): darunter nur 33 Prozent der Linken, aber eine klare Mehrheit (53 Prozent) der Konservativen. Mehr Konservative (50 Prozent) als Linke (34 Prozent) begründen ihre Ablehnung mit dem islamischen Glauben der türkischen Bevölkerung. Nicht einmal für das klassisch realpolitische Argument, ein EU-Mitglied Türkei könne die Südost-Flanke der Union stabilisieren, mögen sich die Konservativen mehr erwärmen als die Linken (40 zu 55 Prozent).
Friedliche Eintracht herrscht dagegen hierzulande bei Grundsatzfragen, die anderswo in Europa oder in Amerika die Lager spalten. Vier Fünftel aller Befragten haben von den UN eine positive bis sehr positive Meinung (alle: 81 Prozent; Konservative 78, Linke 85 Prozent). Ähnlich große Mehrheiten wollen eine starke EU (alle: 86 Prozent; Konservative 83, Linke 89 Prozent). Mehr als die Hälfte der Deutschen wollen, dass Europa künftig unabhängiger von den USA agiert (57 Prozent). Wenn Präsident Bush in der Frage nicht erwähnt wird, plädieren 48 Prozent der Konservativen für diesen Kurs; wird dagegen die diplomatische Europa-Offensive des US-Präsidenten zu Jahresbeginn erwähnt, steigt der Zuspruch des konservativen Lagers für eine unabhängigere EU auf 52 Prozent (Linke: 64 bzw. 71 Prozent). Knappe Zweidrittelmehrheiten (60 Prozent) halten militärische Interventionen für legitimer, wenn sie durch einen UN-Beschluss gedeckt sind, wobei die Konservativen strenger auf Einhaltung des Völkerrechts pochen als die Linken (63 zu 59 Prozent). Und 66 Prozent der Deutschen meinen, dass die Nato zu sehr von den USA dominiert werde, weshalb Europa eine eigene, separate Verteidigungspolitik betreiben solle (Linke 71, Konservative 68 Prozent).
Wie ist diese Harmonie zu erklären? Nicht mit Gleichgültigkeit, denn weniger als drei Prozent der Befragten antworteten mit „Weiß nicht“ oder verweigerten eine Aussage. Die Zahlen dokumentieren vielmehr zweierlei: die spätestens 1989 einsetzende Entideologisierung der Außenpolitik und das Verschwinden der transatlantischen Generation, für die die Partnerschaft mit den USA zum festen Kernbestand der deutschen Außenpolitik gehörte. Auch eine christdemokratische Kanzlerin müsste demnach viel Überzeugungskraft und Energie aufwenden, um den Deutschen Amerika wieder näher zu bringen. Womöglich liegt aber auch gerade in der – gegenseitigen – Ernüchterung eine Chance für eine pragmatischere, weniger emotions- und geschichtsbelastete Zusammenarbeit.
Zimmer frei auf der Venus
Die Schützengräben zwischen Konservativen und Linken mögen zugeschüttet sein. Doch nun verlaufen sie augenscheinlich zwischen Regierenden und Regierten, Vor-89ern und Nach-89ern. Zu gleich zwei Chefsachen rot-grüner Außenpolitik sagen die Wähler parteiübergreifend: „We are not convinced.“ Bei der EU-Kandidatur der Türkei war Gerhard Schröder Ankaras wichtigster Verbündeter in Europa. Doch die Zahl der Neins stieg von 28 Prozent 2004 in diesem Jahr auf 40 Prozent. Der drastische Anstieg mag mit dem Schock der gescheiterten Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden zusammenhängen -– eine Warnung an überhebliche Eliten, auch bei uns? Zwei Drittel der Nein-Sager allerdings bestreiten, dass ihre Antipathie auf der Religion, der Armut oder dem Bevölkerungsreichtum der Türkei beruhe (gegen diese Thesen stimmen jeweils 60, 71 und 61 Prozent). Wovor Europa wirklich Angst hat – sagen 66 Prozent –, sind die wirtschaftlichen Folgen eines Beitritts für die Union. Die Befürworter der türkischen Kandidatur (die es ja auch in der Union gibt) sollte das aufhorchen lassen: Womöglich ließe ein Aufschwung die Sorgen der Gegner verebben.
Ausgerechnet das größte aller Schröderschen Großprojekte, die weltweite Kampagne für einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat für Deutschland, stößt auf die entschiedenste Ablehnung bei den Wählern. Für zwei Drittel (64 Prozent) der Befragten reicht ein EU-Sitz im Sicherheitsrat aus, um deutsche Interessen in den Vereinten Nationen zu vertreten. Vielleicht zweifeln einige daran, dass ein eigener Sitz so viel Aufwand rechtfertigte. Andere mögen sich fragen, ob Deutschland wirklich gewillt ist, eine mit dem Aufstieg in den exklusivsten politischen Klub der Welt kommensurable Außenpolitik zu finanzieren. Und wer wollte ausschließen, dass der Reiz eines EU-Sitzes für manche der Befragten vor allem darin läge, dass Frankreich und Großbritannien dann auf ihre Sitze verzichten müssten?
Die markantesten Zäsuren dieser Umfrage verlaufen zwischen den Generationen. Lehnen 60 Prozent aller befragten Deutschen eine starke amerikanische Führungsrolle in der Welt ab, sind es bei den 25- bis 34-Jährigen schon 65 Prozent und bei den 18- bis 24-Jährigen 68 Prozent. Gegen Bushs Außenpolitik sind in der jüngsten Wählergruppe 91 Prozent (alle: 83 Prozent), und für eine starke globale Rolle der EU 90 Prozent (alle: 86 Prozent). Auch der NATO steht diese Generation erheblich distanzierter gegenüber als die Älteren. Persönlich bedroht fühlen sich die 18- bis 24-Jährigen von: Aids (41 Prozent; alle: 20 Prozent), dem internationalen Terrorismus (47 Prozent; alle: 39 Prozent), großen Flüchtlings- und Migrantenwellen (61 Prozent; alle: 50 Prozent), der Klimaerwärmung (73 Prozent; alle: 71 Prozent). Mehr als alles andere fürchten sie jedoch eine internationale Wirtschaftskrise (alle: 72 Prozent, 18- bis 24-Jährige: 80 Prozent; 25- bis 34-Jährige: 85 Prozent).
Auf dem Stimmungsbarometer erreichen die USA bei den Jüngsten und Jüngeren nur noch 45,2 und 45,5 Grad (alle: 51,5 Grad). Auch andere traditionelle Freunde und Verbündete wie Israel (39 bzw. 36 Grad; alle: 43,8 Grad) und Frankreich (63,8 bzw. 64,1 Grad; alle: 67,9 Grad) sind für die Nach-1989er sichtlich weniger wichtig als früher. Nur ein einziges Land in der Liste ist für diese Altersgruppe interessanter als für alle anderen: China (53,9 bzw. 48,2 Grad; alle: 46,2 Grad). Die 25- bis 34-Jährigen finden sich noch eher bereit, um der Menschenrechte willen auf Geschäfte zu verzichten (53 Prozent; alle: 45 Prozent); bei den 18- bis 24-Jährigen dagegen sind dies nur noch 47 Prozent, während 52 Prozent den Wirtschaftsinteressen unbedingten Vorrang geben.
Die Gefühlsdistanz der Jüngeren gegenüber Amerika schließt indes Annäherungen an die Supermacht und ihre Denkweise keineswegs aus. 53 Prozent der Jüngsten lehnen das traditionelle völkerrechtliche Verbot der Einmischung in innere Angelegenheiten anderer Staaten ab (alle: 43 Prozent). 89 Prozent sind dafür, dass die EU anderswo zum Zweck der Demokratieförderung unabhängige Gruppen wie Gewerkschaften oder Menschenrechtsgruppen unterstützt (alle: 78 Prozent) – hier dürften die Bilder der serbischen, georgischen und ukrainischen Bürgerrechtsbewegungen ihre Spur hinterlassen haben. Bemerkenswerte 44 Prozent sind sogar bereit, eine militärische Intervention der EU zum Zweck des „regime change“ zu unterstützen (alle: 28 Prozent). Mag sein, dass zu Zeiten des Irak-Einmarschs sämtliche Deutsche, nach einem reichlich überstrapazierten Diktum von Robert Kagan, auf dem friedensseligen Planeten Venus lebten – die Jüngsten müssen inzwischen umgezogen sein.
Terror? Doch nicht bei uns!
Bei allen Vorbehalten hierzulande gegen eine EU, die im Osten an den Irak und den Iran grenzt – die Daten von „Transatlantic Trends 2005“ widerlegen die populäre These von den zunehmend mit Nabelschau beschäftigten Deutschen. Drei Viertel aller Befragten meinen, Deutschland sollte eine aktive Rolle in der Weltpolitik spielen. Vier Fünftel wollen (trotz der gescheiterten Verfassungsreferenden) eine stärkere, verantwortungsbewusstere EU, die gemeinsam mit Amerika globale Probleme anpackt. Demokratieförderung durch die EU befürworten 78 Prozent der Deutschen: etwas mehr als der europäische Durchschnitt, und ganze 24 Prozent mehr als die befragten Amerikaner. Ja, die Deutschen übertreffen in ihrem Enthusiasmus für die Demokratieförderung sogar noch die Republikaner (76 Prozent).
Umso auffälliger ist der Pragmatismus der Deutschen, wenn Geschäfte im Spiel sind. In acht der elf befragten Länder meinen klare oder überragende Mehrheiten, Handelsbeziehungen mit China dürften nicht auf Kosten der Menschenrechte gepflegt werden; Deutschland befindet sich dagegen mit Großbritannien, der Slowakei und der Türkei im Lager jener, die auch mal ein Auge zudrücken. Auch angesichts der drohenden Atombewaffnung des Irans setzen Europäer wie Amerikaner mehrheitlich auf diplomatischen Druck und Wirtschaftssanktionen. Von den Deutschen hingegen plädiert die weitaus größte Gruppe (40 Prozent) für ökonomische Anreize – sprich: für kaufen und sich kaufen lassen.
Im transatlantischen und europäischen Kontext nähern sich die Umfragewerte ansonsten einander an, auch bei ehemaligen Reizthemen. Selbst bei der Frage der Bedrohungswahrnehmungen – die Kagan einst zu der Diagnose veranlasste, Amerikaner und Europäer lebten auf unterschiedlichen Planeten – herrscht inzwischen eine gewisse Harmonie.
Eine Frage nur gibt es, bei der die Deutschen weithin allein stehen. 71 Prozent der befragten Amerikaner glauben, dass der internationale Terrorismus sie im Verlauf des kommenden Jahrzehnts persönlich treffen könnte. 51 Prozent der befragten EU-Bürger teilen diese Sorge – aber nur 39 Prozent der Deutschen. Mit anderen Worten: Knapp zwei Drittel leben in einer Art Paralleluniversum, in dem sie sich immun gegen diese Bedrohung fühlen. Möglicherweise zeigt Gerhard Schröders diskrete Werbung für ein Nein zum Irak-Krieg als (auch) Versicherungspolice gegen Fundamentalisten aller Couleur hier späte Wirkung. Sollte dieses – in Europa einzigartige – Vertrauen der Deutschen einmal gewaltsam zerstört werden, wie in Madrid 2004, so wäre wohl auch die Schockwirkung größer als irgendwo anders in Europa. Eine persönliche und politische Zäsur wäre es für jeden Regierungschef.
Internationale Politik 10, Oktober 2005, S. 64 - 68