Buchkritik

01. Juli 2014

Wenn der Elefant sein Gewicht einsetzt

Chinas Aufstieg und warum sich der Westen wappnen sollte

China schickt sich an, den Rest der Welt wirtschaftlich und militärisch hinter sich zu lassen – dieser Allgemeinplatz wird derzeit in Medien und Wissenschaft gebetsmühlenartig wiederholt. Doch was steckt hinter dem Gerede von der kommenden „Führungsmacht“? Wie verhält sich Macht zu Führung? Drei Neuerscheinungen suchen nach Antworten.

Geht steigende Wirtschaftskraft eines Landes automatisch einher mit einem Mehr an politischem Einfluss? Fragen wie diese sind es, die sich in der Diskussion um den viel beschworenen Aufstieg Chinas immer wieder stellen. Drei jüngst auf Deutsch erschienene Bücher nehmen sich der Problematik aus unterschiedlichen Perspektiven an und kommen zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen – von China als unentbehrlichem Partner bis hin zum unilateralen Giganten ohne Fesseln und normative Beschränkungen.

„Die Partei ist wie Gott“

Eine faszinierende, tief in das Zentrum der chinesischen Macht eindringende Perspektive bietet das Buch des preisgekrönten australischen Finan­cial Times-Journalisten Richard McGregor. Mitreißend schildert er die zum Teil nur schemenhaft wahrnehmbare Gestalt der kommunistischen Einheitspartei mit ihren unzähligen mäandrierenden Strukturen und Funktionen. Die Türen zu den Zentren der Macht stehen aufgrund der „pathologischen Geheimhaltungspraxis“ nur dem Eingeweihten offen. So wird die Recherche zu einem Risiko nicht nur für den Journalisten, sondern auch und noch stärker für die Funktionsträger, die sich der westlichen Neugier öffnen.
Am Ende steht ein Werk, das an Akribie, kritischem Blick und Einfühlungsvermögen in die immer noch fremd anmutende politische Kultur kaum zu überbieten ist. McGregor untersucht das Verhältnis von Partei und Staat ebenso wie das der politischen Elite zur Wirtschaft und zum Militär. Neben einer scharfsinnigen Analyse der Personalpolitik sowie der Auswahl der Kader steht eine schonungslose Abrechnung mit den korrupten Parteistrukturen. Der Blick auf die Wechselwirkungen zwischen kommunistischem Format und kapitalistischer Orientierung wirkt ebenso erhellend wie die ausführlich diskutierte Frage nach dem Verhältnis der Partei zu ihrer eigenen Geschichte.
Ein solches Buch lässt sich nur mit tiefer Sympathie für das Thema schreiben. McGregor gelingt das, ohne die kritische Distanz zu verlieren. Eine fesselnde Lektüre, in der man mehr über die unbeobachtbare Form von Macht erfährt, als sie die meisten so­ziologischen Theoriewerke liefern könnten. Eindringlich beschreibt dies ein Universitätsprofessor aus Peking, den McGregor anonym interviewt: „Die Partei ist wie Gott. Er ist überall. Man kann ihn nur nicht sehen.“

Autokratische Supermacht

Ein weiteres unbedingt lesenswertes Buch haben die beiden renommierten spanischen Journalisten Juan Pablo Cardenal und Heriberto Araújo vorgelegt. Zwei Jahre lang haben die Autoren 25 Länder bereist, 80 Flugzeuge bestiegen und sich durch zum Teil unwegsame Gebiete in Südostasien und Afrika gekämpft und dabei, wie sie selbst es nennen, in einem „Leben am Rande des Nervenzusammenbruchs“ geradezu obsessiv ihr Ziel verfolgt. Wie im Falle McGregors ist das Ergebnis grandios.
Der Innenperspektive auf den „roten Apparat“ McGregors wird mit dem „großen Beutezug“ eine Außenperspektive auf das aggressive und teilweise neokoloniale Züge annehmende Investitions- und Handelsgebaren in Afrika, Lateinamerika, Nahost und Asien zur Seite gestellt. Mit Schlagworten wie „dunkles Geschäft“, „Macht des Drachens“, „Jade, Heroin, Prostitution und Aids“, „unvermeidliche Korruption“, „Chinas Griff nach dem schwarzen Gold“, „Vorherrschaft über den Mekong“ sowie „chinesische Neo-Sklaverei im Herzen Afrikas“ zeichnen die Autoren ein düsteres Bild der globalen Expansionsgelüste des Reiches der Mitte.
Das Fazit der mitreißenden und zugleich beängstigenden Reise um den Planeten ist deutlich: China erscheint als „autokratische Supermacht“ – wobei Macht hier im klassischen Weberschen Sinne als Strategie verstanden wird, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Macht beruht. Damit erscheint Macht letztlich als kompromisslose Herrschaftsform.
Obwohl in beiden hier bisher besprochenen Büchern auch der Begriff der politischen Führung auftaucht, scheint dieser doch sowohl in der Analyse der Innen- wie der Außenpolitik verloren zu gehen. Bemerkenswert ist am Begriff der Führung ja eigentlich gerade das kompetitive Moment: Potenzielle Führungsmächte müssen die Motive der „Geführten“ in ihr politisches Kalkül einbeziehen. Politische Führung muss mithin als das absolute Gegenteil von reiner materieller Macht angesehen werden. Jede Theorie politischer Führung muss den Zusammenhang zwischen Macht und Legitimität thematisieren. Im Vordergrund steht dabei der Gedanke der Kollektivität, der politischen Gemeinschaft von Führern und Anhängern.
Nach der Lektüre des spannend wie ein Kriminalroman anmutenden Werkes von Cardenal und Araújo kommt man mehr denn je zu dem Schluss, dass man es im heutigen China weniger mit Führung als mit brutaler, mitunter im Gewande des Neo-Imperialismus daherkommender Herrschaft zu tun hat. Man muss daher gewappnet sein im Westen. Was passiert, „wenn der Elefant sein ganzes Gewicht einsetzt?“ – so wird am Ende des Buches mit einiger Besorgnis gefragt.

Zwischen Naivität und Alarmismus

Es obliegt schließlich dem nüchternen Wissenschaftler, angesichts des düsteren Bildes einer „unsichtbaren Macht“ im Innern und einer rücksichtslosen Herrschaftsstrategie nach außen zu fragen, welche Möglichkeiten der Kooperation und Kommunikation für den Westen bestehen. Der Bonner Politikwissenschaftler und angesehene China-Forscher Xuewu Gu legt einen im essayistischen Stil gehaltenen Beitrag zu den Auswirkungen der rapiden chinesischen Transformation auf den Rest der Welt vor.
Was bedeutet der Aufstieg Chinas für das Verhältnis zum Westen? Wie können beide Seiten voneinander lernen? Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang der interkulturelle Dialog? Das sind die Fragen, an denen sich Gus Analyse orientiert. Es ist weniger die tiefe, eigenständige und innovative Recherche wie in den Büchern von McGregor oder Cardenal und Araújo, die dem Werk seinen Charme verleiht – obwohl das herangezogene Datenmaterial und die tiefgründige historische Analyse insbesondere in Kapitel 2 beeindrucken. Ebenso wenig handelt es sich um eine konzeptionelle Analyse des chinesischen Aufstiegs. Vielmehr versteht sich das Buch als positiver Beitrag zu einer Diskussion zwischen „oberflächlichem Alarmismus“ und „grundlosem Optimismus“.
Die große Stärke des Essays liegt in der Nähe und gleichzeitigen Dis­tanz des Autors zu seinem Gegenstand. Eine natürliche Nähe entsteht durch die frühe Sozialisation des 1957 geborenen Autors im China unter kommunistischer Führung, im Buch erfahrbar durch zahlreiche originalsprachliche Referenzen (die sich allerdings auch dem versierten Sinologen nicht unmittelbar erschließen). Für die nötige Distanz steht die Tatsache, dass der Autor später als ­Student nach Deutschland kam und seither als Hochschullehrer hier lebt. „Je intensiver China marktwirtschaftlich agiert und boomt, desto stärker kann auch der Westen davon profi­tieren“ – so lautet die zentrale Nachricht Gus.
Ein neues Phänomen ist dabei auch machttheoretisch von höchster Relevanz: die in Bezug auf die Europäische Union in steigendem Maße zu beobachtende „Entkoppelung zwischen internationaler Durchsetzungsfähigkeit und verfügbaren Machtressourcen“. Der wirtschaftliche Austausch müsse in einen fruchtbaren interkulturellen Dialog überführt werden, solle die Balance hier künftig wiedergefunden werden. Das stimmt hoffnungsvoll, und das Ziel sollte keinesfalls aus den Augen verloren werden, auch wenn viele Stimmen – zumal Cardenals und Araújos Metapher des „großen chinesischen Beutezugs“ – zur Skepsis mahnen.

Richard McGregor: Der Rote Apparat: Chinas Kommunisten. Berlin: Matthes & Seitz, 2013, 397 Seiten, 29,90

Juan Pablo -Cardenal und -Heriberto 
Araújo: Der große Beutezug: Chinas stille Armee erobert den Westen. München: Carl Hanser Verlag, 2014, 390 Seiten, 24,90

Xuewu Gu:
Die große Mauer 
in den Köpfen: China, der Westen und die Suche nach Verständigung. Hamburg: edition Körber--Stiftung, 2014, 
214 Seiten, 17,00

Prof. Dr. Dirk Nabers 
lehrt Internationale Politik und Gesellschaft an der Christian-Albrechts-Universität Kiel.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2014, S. 130-132

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