Weltmächte wider Willen
Buchkritik
Münklers Meisterwerk feiert Amerika und Europa als Imperium
Als Clare Luce Boothe in den angsterfüllten Monaten des „Drôle de guerre“ durch Westeuropa reiste, kabelte sie ihrem Mann: „Bitte komm’ selbst her. Die Vorstellung kann jeden Augenblick beginnen.“ So flog Henry R. Luce in die alte Welt. Unter dem Eindruck deutscher Luftangriffe prägte der Time-Gründer im Februar 1941 das geflügelte Wort vom „amerikanischen Jahrhundert“: Während Amerika 1920 durch seinen Rückzug aus der Weltpolitik eine große Gelegenheit leichtfertig verspielt habe, müsse es sich künftig seiner politisch-moralischen Verantwortung stellen, damit amerikanische Werte überall auf der Welt verwirklicht würden.
Ein Dokument der Hybris, wie Kritiker meinten, waren diese Gedanken jedoch nicht. Vielmehr begann Luce seine Ausführungen in der für ihn typischen Art mit einem Ausdruck tiefen Zweifels: „Wir Amerikaner sind unglücklich. Wir sind nervös, düster gestimmt und apathisch.“ Die zukünftige Aufgabe der USA schilderte er nicht in naiv optimistischer Art, sondern als gefährliche und zugleich unentrinnbare Schicksalslast. Luce sollte Recht behalten: Mehr als jedes andere Land der Erde haben die Vereinigten Staaten das letzte Jahrhundert kulturhistorisch und machtpolitisch geprägt. Wird dies im neuen Jahrhundert so bleiben? Schon vor dem 11. September 2001 war Skepsis zu hören. Einige Urteile nehmen sich im Nachhinein geradezu prophetisch aus: „Nachlässigkeit und Kurzsichtigkeit“ machte zum Beispiel George H. W. Bush nach dem Ende des Kalten Krieges aus, und dafür werde Amerika „eines Tages noch einmal den höchsten Preis zahlen müssen“. Bush riet dringend, vor der „Verpflichtung gegenüber der Welt nicht gleichgültig zurückzuweichen“ – eine Mahnung, die sein Sohn George W. erst nach den Anschlägen von New York und Washington beherzigt hat.
Bush jun. sah sich zum Umdenken gezwungen. Sein Richtungswechsel vom Isolationismus zur präventiven Intervention wird seither von einer Debatte begleitet, die sich um den Begriff des Empires dreht. Ist Amerika dabei, ein Imperium zu werden, in einer Reihe mit dem römischen und dem britischen Weltreich? Hat seine globale Politik nicht schon längst imperiale Züge angenommen?
In dem verdienstvollen Band „Empire Amerika“ von 2003 stach ein Beitrag besonders hervor: Herfried Münkler beschrieb darin den Charakter imperialer Herrschaft anhand einer Reihe historischer Vergleiche und entwickelte dabei spezifische „Leistungsanforderungen“, die Imperien von Staaten unterscheiden. Dem Zerwürfnis zwischen einem Teil Europas und den USA gewann er dadurch einen bedenkenswerten Aspekt ab: Es resultiere nicht aus unterschiedlichen strategischen Kulturen, wie sie Robert Kagan beschrieben habe, sondern aus einem ordnungspolitischen Missverständnis. Nach Münkler war die an der Irak-Politik der Vereinigten Staaten geübte Kritik aus der Vorstellung erwachsen, hier handele es sich um die Konfrontation zwischen zwei gleichartigen und gleichberechtigten Staaten, „was es gemäß den Bestimmungen der UN-Charta ja auch war“. In amerikanischer Perspektive hingegen handele es sich um die Pazifizierung einer Peripheriezone des Imperiums.
Kam es da von ungefähr, wie Münkler zu Recht bemerkte, dass es sich bei Großbritannien und Spanien, den europäischen Staaten, die für die Politik der USA das größte Verständnis aufbrachten, um ehemalige Imperien handelte? Wie aktuell die Frage imperialer Strukturen auch für das heutige Europa ist, veranschaulicht der Berliner Politologe nun in einer luziden Darstellung der Logik von Weltherrschaft. Münkler zufolge ist die imperiale Herausforderung der EU eine doppelte, und sie ist ungleichartig. Auf der einen Seite müssen sich die Europäer zu Washington ins Verhältnis setzen und darauf achten, dass sie nicht für die Aktionen der Führungsmacht Ressourcen bereitstellen und mit der Nachsorge für deren Kriege betraut werden, aber keinen Einfluss mehr auf grundsätzliche politisch-militärische Entscheidungen ausüben. Hier hat sich Brüssel seiner politischen Marginalisierung zu widersetzen. Europa muss sich gegenüber den USA als ein Subzentrum des imperialen Raumes behaupten und Sorge tragen, dass sich zwischen der neuen und der alten Welt kein Zentrum-Peripherie-Gefälle herausbildet. Auf der anderen Seite müssen sich die Europäer um ihre eigene instabile Peripherie im Osten und Südosten kümmern, wo es gilt, staatliche Zusammenbrüche und Kriege zu verhindern, ohne dabei in eine Spirale der Expansion hineingezogen zu werden, die die EU in ihrer gegenwärtigen Gestalt überfordern würde. „Hier stehen die Europäer vor der – paradoxen – Gefahr, imperial überdehnt zu werden, ohne selbst ein Imperium zu sein.“
Weder als geographischer noch als politischer Raum verfügt Europa über klare Grenzen. Vor allem im Osten und Südosten weist die EU Grenzräume auf, wie sie für imperiale Großraumordnungen typisch sind. An den europäischen Außengrenzen sind scharfe Brüche entstanden, die sich in Exklusionsgrenzen verwandelt haben. Dies hat immer neue Beitrittswünsche provoziert und eine Erweiterungsrunde der nächsten folgen lassen. So erkennt Münkler in der europäischen Bündelung von nicht nur politischen und wirtschaftlichen, sondern auch von sprachlichen und kulturellen Grenzen eine Politik, „die – paradoxerweise – den Prozess einer permanenten EUAusdehnung in Gang gesetzt hat“.
Als eine Alternative hierzu sieht Münkler das imperiale Ordnungsmodell, das auf eine Diversifizierung der verschiedenen Grenzlinien hinausläuft, weswegen sich imperiale Ordnungen zumeist durch weiche Grenzen auszeichnen, an denen sich der Regelungsanspruch des Zentrums allmählich verliert. An die Stelle von Grenzen treten hier Grenzräume. Europa, so das Fazit von Münklers erhellender Analyse, wird, wenn es sich nicht überfordern und schließlich scheitern will, dieses imperiale Modell der Grenzziehung übernehmen müssen. Diese Ordnung ist bereits in der gegenwärtigen EU angelegt, verlaufen doch ihre Außengrenzen anders als die des Schengen-Raums und die wiederum anders als die der Eurozone.
Münkler empfiehlt daher zu Recht, dieses Modell weiterzuentwickeln, um die europäischen Außengrenzen stabil und elastisch zugleich zu halten. Dies schließt Einflussnahmen auf die Peripherie ein, die eher imperialen als zwischenstaatlichen Vorgaben ähneln. Münklers Prognose lautet: „Europas Zukunft wird ohne Anleihen beim Ordnungsmodell der Imperien nicht auskommen.“ Dieser Ausblick erscheint überaus realistisch, basierend auf dieser brillanten Untersuchung imperialer Macht von der Antike bis heute. Auch Henry R. Luce wäre ein begeisterter Leser gewesen.
Internationale Politik 11, November 2005, S. 134 - 135