Ausbruch aus der Krise
Neue Bücher suchen nach Antworten auf Flucht und Migration
Zwei Jahre nach der großen „Flüchtlingskrise“ stellt sich die europäische Politik langsam auf anhaltende Migrationsströme ein. Oder tut sie das nicht? Die drei hier besprochenen Bücher analysieren die Hintergründe der Wanderungsbewegung nach Europa und stellen die Lernfähigkeit der europäischen Einwanderungspolitik infrage.
Es waren alarmierende Worte, die der Präsident des Europäischen Parlaments, Antonio Tajani, im Juli wählte: Die Migration nach Europa werde bei weiterer Untätigkeit einiger Länder „biblische Ausmaße“ erreichen. Wenn die Probleme vor Ort in Afrika nicht angegangen würden, müsse Europa damit rechnen, „in Kürze mit Millionen Menschen“ konfrontiert zu werden, sagte er gegenüber der italienischen Tageszeitung Messaggero.
Viele europäische Länder unterschätzten, „was Afrika in fünf Jahren sein wird“, mahnte Tajani mit Blick auf Bevölkerungsentwicklung, Klimawandel, Wüstenausdehnung und Kriege: „Wir streiten darüber, ob wir Grenzen und Häfen schließen sollen, aber das wird nichts bringen, wenn wir nicht kapieren, dass es in fünf Jahren Millionen Menschen sein werden, die auf Einlass drängen.“ Millionen Menschen könnten auch durch Panzer vor dem Brenner nicht gestoppt werden, erklärte Tajani mit Blick auf entsprechende Ankündigungen aus Österreich und forderte einen „weltumfassenden Plan“ und wirtschaftliche Hilfen, um das „Problem der Einwanderung“ zu lösen.
Parallel rief Papst Franziskus die Europäer zu mehr Hilfe und zur Integration von Flüchtlingen auf. Nötig seien jetzt in den europäischen Gesellschaften neue Bemühungen für eine Kultur des „Willkommenheißens und der Solidarität“, schrieb er in einer Botschaft für ein neues Internet-Informationsportal zu Migration.
Allgegenwärtige Verunsicherung
Haben die Europäer aus der letzten großen Flüchtlingskrise 2015 nichts gelernt? Die Appelle zwei Jahre danach klingen wie die damaligen Warnungen. Was ist seitdem geschehen – oder eben nicht? Und warum nicht? Wer auf der Suche nach Antworten ist, wird bei Hans-Peter Schwarz fündig. Der im Juni verstorbene Politikwissenschaftler, Zeithistoriker und über viele Jahre Mitglied des Präsidiums und des wissenschaftlichen Direktoriums der DGAP hat in seinem letzten Werk, einem fulminanten Essay, herausgearbeitet, welche Gewissheiten die in seinen Augen „neue Völkerwanderung“ von Flüchtlingen aus Afrika und dem Nahen Osten nach Europa erschüttert hat – Gewissheiten, die bislang als felsenfest im politischen Mainstream verankert galten.
Zum ersten Opfer dieser neuen Völkerwanderung erklärt Schwarz den „naiven Glauben“ an die äußere Sicherheit Europas. Die neunziger Jahre bezeichnet er als Jahrzehnt des „frivolen Optimismus“. Nicht nur die Deutschen hätten sich in dem Irrglauben gewogen, sie seien nur noch von Freunden umgeben. Die in der Europäischen Union zusammengeschlossenen Staaten hätten sich stark genug geglaubt, die unruhigen Regionen jenseits ihrer Außengrenzen mit humanen Strategien der Konfliktprävention und Konfliktregulierung, mit Dialogpolitik, Entwicklungshilfe und Menschenrechtspolitik ruhigstellen und zur Kooperation verpflichten zu können: „Kaum ein Gedanke daran, dass weite Regionen an der Peripherie Europas im Chaos versinken könnten.“ Einen Kontrollverlust an den EU-Außengrenzen habe sich niemand so recht vorstellen können – und wollen.
Hinzu kommt nach der Analyse von Schwarz eine weitere beunruhigende Entdeckung, die in Europa alle Beteiligten machten – die Entscheidungsgremien der EU, die nationalen Regierungen und eine zusehends beunruhigte Öffentlichkeit: Die Institutionen der Europäischen Union sehen sich nicht in der Lage, mit dem Völkerwanderungsdruck fertig zu werden. Es zeigt sich, dass das System der offenen Grenzen im Schengenraum nur in Schönwetterzeiten einigermaßen funktioniert. Schwarz verknüpft damit die Frage, ob die Übertragung des Ausländerrechts und somit großer Teile des Asylrechts an die EU nicht voreilig gewesen sei.
Bei den Funktionskrisen des Grenzschutzes und im Asylrecht sieht Schwarz grundlegende Konstruktionsfehler der EU zutage treten: In halbwegs normalen Zeiten funktioniere die Europäische Union fast wie ein Bundesstaat; doch auf Gefahr von außen reagiere sie mit der Verworrenheit staatenbundlicher Gebilde. Dafür gibt es nach der Argumentation von Schwarz keinen „betrüblicheren“ Beweis als die widersprüchlichen Krisenstrategien der EU-Kommission, des Europäischen Rates und der nationalen Regierungen in der Flüchtlingsfrage. Die Verunsicherung sei allgegenwärtig. Vor allem auf die für Schwarz entscheidende Frage wissen die Beteiligten bislang so recht keine Antwort: Darf man hilflose Flüchtlinge einfach zurückweisen?
Damit gelangt Schwarz zum dritten Krisensymptom: Der immense Wanderungsdruck, der sich nach seiner Prognose noch steigern wird, erschüttert die sozial-moralischen Gewissheiten, auf denen die Europäische Union beruht. Da sich Millionen Menschen an den EU-Außengrenzen in der Hoffnung sammeln, über die Asylsysteme Einlass zu erhalten, ist für Schwarz eingetreten, was der skeptische Liberale Walter Lippmann „die Ermordung einer schönen Theorie durch eine Bande brutaler Fakten“ genannt hat.
Diese sind laut Schwarz: eine teils hohe Bevölkerungsdichte, eine Überalterung und eine generelle demografische Schwächung. Zugleich ist die Attraktivität der europäischen Wohlfahrtsstaaten weiterhin groß, der Zugang dorthin immer noch relativ leicht, aber die Aufnahmebereitschaft und auch die Aufnahmefähigkeit sind begrenzt.
Stipendien statt Subventionen
Was also ist zu tun? Einen Ausbruch aus der Krise suchen eben jene Menschen selbst, die seit der Schließung der Balkan-Route und dem Türkei-Deal verstärkt die zentrale Mittelmeer-Route von Libyen nach Italien wählen, um nach Europa zu gelangen. Sie versuchen, dem Leben auf einem Kontinent zu entfliehen, der bis heute den Großteil der ärmsten Länder der Welt umfasst.
Diesem Ausbruch hat Angus Deaton ein Opus Magnum gewidmet, das die Probleme Afrikas offen anspricht: „Der afrikanische Kontinent ist die Heimat des armen Landes, wenn auch nicht die Heimat des armen Menschen.“ Der Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Princeton University, der 2015 für seine Analysen von Konsum, Armut und Wohlfahrt mit dem Nobelpreis für Wirtschaft ausgezeichnet wurde, betont, die Länder Afrikas hätten sehr viel Hilfe erhalten. Diese hätte zweifellos genügt, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln, wäre sie für eben diesen Zweck verwendet worden.
Stattdessen hat diese Hilfe nach dem Urteil Deatons insbesondere in Subsahara-Afrika die Entwicklung erschwert: Der gewaltige Strom an Hilfsgeldern untergrabe in diesen Ländern die örtlichen Institutionen und verhindere auf lange Sicht den Aufbau von Wohlstand. Entwicklungshilfe, die ausbeuterische Politiker oder politische Systeme als Bollwerke gegen den Kommunismus oder Terrorismus am Leben erhält, bezeichnet Deaton als eine Subvention, die die Armut der Normalbürger dieser Länder in „unserem“ Interesse vertiefe. Ein Füllhorn von ausländischen Hilfsgeldern könne auch Politiker und politische Systeme korrumpieren, die an und für sich gut seien.
Zu Recht weist der Autor darauf hin, dass die armen und reichen Länder wirtschaftlich und politisch voneinander abhängen – sie sind durch Handel, Verträge und Institutionen wie die Welthandelsorganisation, den IWF und die Weltbank, die Weltgesundheitsorganisation und die Vereinten Nationen miteinander verflochten. Die Tätigkeit dieser Institutionen und die Regeln der internationalen Beziehungen wirken sich auf die Chancen armer Länder aus, Wohlstand zu schaffen.
Hier führt Deaton die viel kritisierten Handelsschranken reicher Länder an, die oft den Bauern in armen Ländern schaden. In Afrika sind fast drei Viertel der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft beschäftigt. Gleichzeitig geben die reichen Länder jedes Jahr Hunderte Milliarden von Dollar aus, um ihre eigenen Bauern zu unterstützen. So drücken die Subventionen für die Produzenten von Zucker und Baumwolle auf die Weltmarktpreise und beschränken die Möglichkeiten armer Bauern. Zugleich schaden sie den Konsumenten in den reichen Ländern. Daher plädiert Deaton für einen international koordinierten Vorstoß zur Beschränkung oder Beseitigung dieser schädlichen Unterstützung.
Einen noch viel größeren Beitrag zur Armutsverringerung als der Freihandel leistet nach seiner Beobachtung die Migration: Menschen, denen es gelingt, in reiche Länder auszuwandern, verbessern ihre wirtschaftliche Lage. Deren Rücküberweisungen helfen wiederum ihren Familien in der Heimat – zumal sich diese anders auswirken als Entwicklungshilfe. Sie versetzen die Empfänger in die Lage, mehr von ihrer Regierung zu verlangen – wodurch sie den politischen Prozess verbessern anstatt ihn auszuhöhlen.
Doch Deaton ist nicht naiv: Auch er räumt ein, dass die Öffnung für die Zuwanderung noch schwerer durchzusetzen sei als die Öffnung für den Freihandel, und dies sogar in Ländern, deren Öffentlichkeit besonders entschieden darauf dränge, Armut zu bekämpfen. Deshalb wirbt er für eine „nützliche Art der befristeten Migration“ in Form von Stipendien für Hochschulstudien im Westen: Mit ein wenig Glück würden diese Studenten ihren Weg losgelöst vom Einfluss der Hilfsagenturen oder ihrer Heimatregierungen machen. Selbst wenn sie nach dem Studium nicht sofort heimkehren sollten, liefere die afrikanische Diaspora eine ergiebige Quelle für Entwicklungsprojekte in der Heimat.
Mit Herz und Verstand
Einen Mittelweg empfehlen auch die Professoren Paul Collier und Alexander Betts von der Universität Oxford. Collier, Ökonom und Direktor des Zentrums für das Studium afrikanischer Volkswirtschaften, und Betts, Migrationsforscher und Leiter des Zentrums für Flüchtlingsstudien, halten eine Politik der offenen Tür für ebenso gefährlich wie Abschottung. Angesichts von mehr als 65 Millionen Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, bewerten sie die Instrumente und Institutionen, mit denen bislang auf diese humanitäre Herausforderung reagiert wird, als hoffnungslos veraltet, mit fatalen Folgen für Millionen Flüchtlinge.
Collier und Betts beklagen, seit Jahren werde die Flüchtlingspolitik von einer „Politik des herzlosen Kopfes“ bestimmt – bevor sie sich im Sommer 2015, mit der Grenzöffnung in Deutschland, plötzlich in eine „Politik des kopflosen Herzens“ verwandelt habe. Beides halten die ausgewiesenen Experten für Flüchtlingsfragen für gefährlich – für die Flüchtlinge, die aufnehmenden Länder und die Heimatländer der Fliehenden.
Anstatt wahllos Menschen ins Land zu lassen oder sie jahrzehntelang in Lagern zur Untätigkeit zu verdammen, werde ein anderer Umgang mit Flüchtlingen gebraucht: Sie müssten in die Lage versetzt werden, in der Nähe ihrer Heimatländer zu bleiben und dort rasch erneut für sich selbst zu sorgen – um letztlich wieder nach Hause zurückkehren zu können, wenn Frieden herrsche.
Zwei Jahre nach Beginn der Flüchtlingskrise fehlt es weder an schonungslosen Bilanzen noch an Vorschlägen für ein alternatives Vorgehen. Doch welche werden sich durchsetzen? Und wie schnell?
Dr. Thomas Speckmann ist Historiker, Politikwissenschaftler und Lehrbeauftragter am Historischen Institut der Universität Potsdam.
Internationale Politik 5, September-Oktober 2017, S. 134 - 137