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23. Aug. 2013

Welcome to a Whole New World

Der NSA-Skandal zerstört die Illusionen der Deutschen

Der NSA-Skandal bringt einen Paradigmenwechsel in die Debatte über das digitale Zeitalter. Politik und breite Öffentlichkeit ent-decken, wie wenig sie über die Folgen der neuen Cyberwelt nachgedacht haben. Alles muss neu diskutiert und verhandelt werden, vor allem die künftige Rolle von Staaten, Militärs und Unternehmen.

Als Bundeskanzlerin Angela Merkel vor einigen Wochen die Bemerkung machte, dass das Internet für sie „Neuland“ sei, erntete sie vor allem Hohn und Spott. Auch Leute, die einen Server nicht von einem Router unterscheiden können, machten sich lustig. Denn eine gewisse Netzaffinität, der Umgang mit schicken Tablets und Smartphones gehören heute für die meisten zum Alltag. Aber plötzlich zeigt die NSA-Debatte mit brutaler Deutlichkeit, wie neu die Diskus­sion über das digitale Zeitalter für die allermeisten in Wahrheit ist.

Wenige Monate nach den ersten Enthüllungen des ehemaligen NSA-Mitarbeiters Edward Snowden herrscht parteiübergreifende Einigkeit, dass sich die Welt seither verändert hat. Dabei offenbaren die vorgelegten Dokumente nichts wirklich Neues: Sie zeigen im Grunde nur, dass Geheimdienste das tun, was sie eigentlich immer getan haben – sie nutzen die neuesten technologischen Möglichkeiten, um an Informationen zu gelangen. Das eigentlich Neue ist die Nutzung von „Big Data“, also die Analyse sehr großer Datenmengen. „Es ist, als ob ein Vorhang zur Seite gezogen wurde und wir nun bestimmte Entwicklungen offener diskutieren können“, sagt die IT-Expertin der SPD, Gesche Joost. Statt klarer Antworten deshalb hier ein kleiner Überblick über das, was hinter diesem Vorhang sichtbar wird.

Die Vor- und die Nachdenker

Schon früher galt die Erkenntnis, dass viele Trends aus den USA irgendwann über den Atlantik schwappen. Die zeitliche Kluft bei der IT-Anwendung liegt vor allem an der technologischen Innovationskraft, die die USA zum Zentrum für die Digitalisierung der Welt gemacht hat. Das Internet und die sozialen Netzwerke sind dort entstanden. Aus Profitgier, Machtstreben und Idealismus wurde systema­tischer und früher als anderswo ausgelotet, wie man „Big Data“ für die eigenen Interessen möglichst effektiv nutzen kann.

Deutschland dagegen hinkt beim Nachdenken über „Big Data“ hinterher. Ein wenig ähnelt dies der außen- und sicherheitspolitischen Debatte nach dem Zweiten Weltkrieg. Wer Akteur auf der Weltbühne ist wie die USA, muss sich eben schneller mit einer sich verändernden Realität auseinandersetzen als ein Zuschauer. Das ist weniger eine Wertung als eine Feststellung. In der NSA-Debatte bleibt nämlich auch die Frage offen, ob dieses Hinterherhinken nur Nachteile hat oder manchmal auch Vorteile, wie etwa die Debatte über den geforderten höheren Schutzstandard für Daten in Deutschland zeigt. Möglicherweise müssen auch die USA die Balance zwischen Sicherheit und Privatsphäre neu justieren – zumal die Fälle Manning und Snowden demonstriert haben, wie selbstzerstörerisch groß die Löcher bei der Datensicherheit in den USA sind.  

Die neue Naivität

Besonders eklatant ist die transatlantische Kluft in der Debatte über die Aktivitäten der Geheimdienste. Selbst germanophile US-Experten wie Dan Hamilton oder Jack Janes verzweifeln derzeit an der moralingetränkten deutschen Diskussion. „Seit Ende des Kalten Krieges ist die Naivität in Deutschland offenbar wieder weiter verbreitet“, urteilt Hamilton. Denn im Systemkampf mit der kommunistischen Sowjetunion, in Zeiten eines geteilten Landes konnten die Deutschen gerade noch akzeptieren, dass die nach dem Naziterror neu einstudierten Grundwerte mit dem Hinweis auf ein „gutes“ Ziel doch wieder verletzt wurden. Spionage, auch Töten, galt damals als nötiges Übel. Seit der Wiedervereinigung und dem Zusammenbruch der Sowjetunion, also dem Ende einer unmittelbaren Bedrohung, aber sinkt die Akzeptanz dafür.  

Man kann das Ausmaß der NSA-Aktivitäten und den Umgang mit den neuen technologischen Möglichkeiten sehr wohl hinterfragen. Aber die Art der deutschen Debatte zeigt, dass zwei Punkte offenbar lange verdrängt wurden: Spionage ist in und auch durch Deutschland nichts Neues – der BND wertet schließlich ganz offiziell Kommunikation in für uns wichtigen Regionen aus, etwa in Nordafrika, Nahost und Afghanistan. Und viele Deutsche verweigern sich der Tatsache, dass unser Land sich zwar zu Recht als liberale Gesellschaft feiert – aber die Bundesrepublik seit Jahrzehnten gleichzeitig eine Brutstätte für Gewalttäter und Terroristen ist, die in anderen Ländern zuschlagen. Erinnert sei nur an die hierzulande über Jahre beherbergten islamistischen Terroristen der FIS in Algerien, die PKK-Kämpfer aus der Türkei, die Attentäter des 11. September 2001 in den USA oder den Selbstmordattentäter vor der US-Botschaft in Ankara.

Wenn ausländische Dienste deshalb auch in Deutschland Kommunikation überwachen sollten, dann geschieht dies weniger aus Interesse für den Chat von Lieschen Müller. Es geht auch nur zum Teil darum, mit den Erkenntnissen Anschläge in Deutschland zu verhindern. Nein, es geht vor allem darum, blutige Attentate in anderen Ländern zu unterbinden.

Das militärische Denken

Besonders frappierend ist die Ungleichzeitigkeit des Denkens in Deutschland und weiten Teilen der Welt auch in militärischen Dimen­sionen. Nichts gegen deutsche ato­mare Abrüstungsbemühungen. Aber während das Auswärtige Amt diese fleißig vorantreiben will, haben die Weltmächte ihre zentrale Auseinandersetzung längst auf andere Bereiche ver­lagert: den Weltraum und das ­Internet.

Es klingt paradox: Die geforderte atomare Abrüstung ist sogar im Interesse von Mächten wie den USA oder China, weil sie dringend benötigte Ressourcen für das Wettrüsten auf ­anderen Gebieten verfügbar macht. Das erschüttert deutsche Vorstellungen offenbar ebenso wie der Umstand, dass die gesamte Militäreinsatzplanung durch Cyberausein­andersetzungen neu durchdacht werden muss – mit möglicherweise un­angenehmen Ergebnissen. Plötzlich wird wieder über Erstschlagskapazitäten diskutiert, weil die Militärs noch nicht abschätzen können, ob Angriffe bei Cyberauseinandersetzungen möglicherweise die beste – und einzige – Verteidigung sein können.

Die Unternehmen als Gefahr und Opfer

Völlig in den Hintergrund getreten ist die Warnung, dass das Recht auf Selbstbestimmung unserer Daten vor allem durch private, oft global agierende Unternehmen gefährdet sein könnte. Es sind Unternehmen wie Google oder Facebook, die eine massenhafte Sammlung von Daten ihrer Nutzer anlegen und versuchen, aus kommerziellen Gründen immer komplexere Psychogramme ihrer Nutzer zu erstellen. Die Staaten mit einem hohen Datenschutzstandard reagieren darauf deshalb so hilflos, weil sie erkennen müssen, dass globale Unternehmen eben nicht mit nationalen Regeln zu packen sind. Die Debatten in Deutschland zeigen aber, dass das politische Denken bisher im analogen Zeitalter steckengeblieben ist.

Großes neues Thema auf der dies­jährigen Hannover-Messe war die „Industrie 4.0“, die wachsende Verschränkung der Produktion mit der IT. Was die deutsche Politik als Chance für den Standort Deutschland mit seinem großen Know-how beim Maschinenbau sieht, ist gleichzeitig die größte neue Bedrohung. Denn eine internetverbundene Steuerung von Produktionsprozessen schafft völlig neue Einfallstore für Hacker. Schon heute sind gerade Mittelständler ungenügend gegen Cyberangriffe auf ihre Netzwerke geschützt, warnen ­Sicherheitsbehörden immer wieder. Wenn nun alle Unternehmensbereiche miteinander verschränkt werden, wächst diese Gefahr erheblich.

Die Debatte um eine Meldepflicht der Firmen für Cyberattacken zeigt, wie mangelhaft das Bewusstsein in der Wirtschaft in Wahrheit noch ist. Die ersten schweren Angriffe auf die kritische Infrastruktur wie Energie, Wasser oder Gesundheitsversorgung werden möglicherweise zeigen, dass – gewollt oder ungewollt – in der neuen digitalen Zeit ein sehr viel engeres Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft notwendig sein wird.

Dazu gehört auch die gerade erst begonnene Debatte über die nötige digitale Flankierung der Energiewende. Denn dafür wird ein Smart Grid, also ein intelligentes Energienetz, mit hunderttausenden kleiner Energie­erzeuger benötigt. Die Notwendigkeit zur permanenten Kontrolle und Regulierung des Energiebedarfs und der -produktion in Haushalten, Stadtteilen und Kommunen erfordert aber ein stabiles, unangreifbares Netz – und bringt eine neue Debatte über den Datenschutz.   

Die Staaten als Gefahr

Die NSA-Debatte und die erwähnte Diskussion über eine Meldepflicht für Unternehmen bei Cyberattacken zeigen die neuen Probleme auch für ­Demokratien. Wer soll geschützt werden? Wie muss das Verhältnis zwischen Sicherheit und Privatsphäre sein? Wie lassen sich Big-Data-Progamme – nichts anderes ist das dämonisierte Analyseprogramm namens „XKeyscore“ nämlich – so einsetzen, dass sie in Einklang mit dem Grundgesetz sind? Was heißt noch Datenselbstbestimmung in einer Zeit sozialer Netzwerke und Interneteinkäufe? Wie müssen Gesetze und Kontroll­behörden oder die internationale Zusammenarbeit gestaltet werden?

Niemand hat darauf klare Antworten. In allen Demokratien finden Debatten statt, bei denen aber die Antworten je nach nationalen Erfahrungen und Bedrohungen etwas anders ausfallen. Weil in Deutschland der Kern der Diskussion, nämlich die Ableitung neuer Antworten aus den neuen technologischen Möglichkeiten, nicht verstanden wird, entsteht ein fataler Eindruck: Wer etwa bei der Abwägung von Datenschutz gegen ­Sicherheitsbedürfnisse zu einem anderen Ergebnis kommt, ge­rät hier schnell in den Verdacht, keine funktionierende Demokratie mehr zu sein.

Schon im analogen Zeitalter war es schwierig, ein wirksames internationales Rechts- und Friedenssystem zu errichten. Im digitalen Zeitalter und mit einem weltweiten Netz wird dies noch schwieriger. Denn die Interessen der Digitalmächte USA und China sind nun einmal andere als die von anderen Staaten. Erneut versuchen vor allem die Schwächeren, die Großmächte in ein Korsett rechtlicher Selbstbeschränkungen zu zwingen. Und wieder wird das nur schwer zu schaffen sein, weil sich die neue und die alte Supermacht miteinander im Rüstungswettlauf befinden und sich keine Blöße geben wollen. Dennoch lohnt der Versuch, neue internationale Datenschutzvereinbarungen zu erarbeiten, um zumindest Grundregeln für das digitale Zeitalter aufzustellen.

Völlig unter geht in der Debatte, dass die Antworten auf die Fragen des digitalen Zeitalters auch in Deutschland von den verschiedenen Generationen jeweils ganz anders beantwortet werden. Die Jüngeren, die „digital natives“, haben erkennbar ein anderes Verständnis von Öffentlichkeit. Die Debatte in den etablierten Medien wird aber von Journalisten und Politikern bestimmt, die anders geprägt wurden. Mag sein, dass sich auch bei den Jugendlichen die Balance zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit mit fortschreitendem Alter wieder verschieben wird. Es sollte sich aber niemand wundern, wenn sich die deutsche Position in den kommenden Jahren radikal ändern sollte.

Wer sind unsere Freunde?

Eine der erbittertsten Diskussionen über die Folgen der weltweiten Digitalisierung wird sein, ob sich nicht auch die Abgrenzung zwischen Freunden und Feinden verschiebt. Auch befreundete Nationen wie die USA, Großbritannien oder Frankreich spähen aus. In der deutschen Debatte schwingt eine gewisse Enttäuschung mit, dass das Ende des Kalten Krieges und der Besatzungszeit dies nicht beendet hat. Aber Ursache der Enttäuschung ist die erwähnte, tief verwurzelte naive Vorstellung, dass nicht Interessen das Verhalten von Völkern und Staaten bestimmen, sondern Altruismus. Aber der spielte seit 1945 nicht einmal in der Bundesrepublik die entscheidende Rolle.

Der Drang, die Welt dennoch idealisiert zu sehen, sorgt für eine intellektuelle Verwirrung. Eben noch waren die ­Cyberangreifer aus China oder Russland die Bösen, die versuchen, uns die Grundlage unseres Wohlstands, nämlich das Know-how der Firmen, zu stehlen. Nun werden die USA und Großbritannien dämonisiert. Denn es wird vor allem das Phänomen wahr­genommen, der „Datenangriff“ an sich, statt auf unterschiedliche Motive und Ziele bei der Verwendung der gesammelten Daten zu achten.

Die Debatte über Freunde trifft die Deutschen besonders hart, weil sie sich nach der Wiedervereinigung und dem Aufstieg zur unangefochtenen Nummer eins in der Europäischen Union in einer Phase ihrer Geschichte befinden, in der gerade sie „Normalität“ einfordern, also auch nationale Souveränität. Dummerweise kommen sie damit zu spät: Die Vorstellung nationaler Souveränität ist im digitalen Zeitalter unrealistisch geworden. Bundeskanzlerin Angela Merkel und SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück bedienen deshalb vor allem eine weit verbreitete und liebgewonnene Illusion, wenn sie betonen, dass in Deutschland deutsche Gesetz gelten und wir „Herr im eigenen Haus“ sein sollten.

Die Freund-Feind-Debatte trifft gerade die EU-integrationsfreudigen Deutschen noch aus einem anderen Grund hart. Sie werden erkennen müssen, dass es nicht funktionieren wird, die gegenwärtige EU zum Gegenpol zu den USA aufzubauen – der „Feind“ liegt im eigenen Bett. Großbritannien hat sich sicherheitspolitisch längst dafür entschieden, im digitalen Zeitalter ein abhängiger Satellit der Supermacht USA zu sein. Deshalb wird sich die britische Regierung beim EU-Datenschutz wohl nicht so fesseln lassen, dass sie keine sensiblen Daten mehr mit amerikanischen Geheimdiensten austauschen kann. Vielleicht wird eher der langsame Ausstieg des Landes aus der Europäischen Union beschleunigt.

Aber vielleicht sind die Briten sogar realistischer. Denn am Ende werden wohl nur noch zwei Mächte, die USA und China, die beiden Hauptantagonisten in diesem neuen digitalen Zeitalter sein. Nur sie haben sowohl die Ressourcen als auch den politischen Willen, Cybersupermächte zu werden. Mit wenigen Ausnahmen befinden sich die entscheidenden IT-Unternehmen und Chip-Produktionen bereits heute in diesen ­beiden Staaten. Nicht ohne Grund kontrollieren Firmen aus diesen beiden Ländern die weltweite Router-Produktion.

Deshalb müssen sich die Europäer entscheiden, von wem sie Schutz erhalten möchten. Nur hier scheint die Antwort schon festzustehen – es werden trotz aller Kritik wohl eher die USA sein.

Dr. Andreas Rinke ist politischer Chefkorrespondent der Nachrichtenagentur Reuters in Berlin.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2013, S. 52-57

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