Weißer Westen
Dass Länder wie Russland und China den Westen herausfordern, hat man in Amerika und Europa zähneknirschend zur Kenntnis genommen. Doch zumindest moralisch wähnt man sich gern auf der überlegenen Seite. Mit Recht? In jüngster Zeit mehren sich auch hier die Selbstzweifel. Und das hat viel mit einem US-Präsidenten zu tun, dessen Amtszeit vor genau 100 Jahren zu Ende ging.
Ein bisschen glanzlos steht er zurzeit da, der Westen. Brexit und die Trump-Jahre haben ihm zugesetzt, die mäßige Performance in der Corona-Krise hat sein Selbstbewusstsein nicht gerade gestärkt. Hinzu kommt, dass der Westen sich seit einigen Jahren dazu gezwungen sieht, kritisch mit der eigenen Vergangenheit und Gegenwart ins Gericht zu gehen – Kolonialismus und Rassismus lauten die Stichworte.
Besonders in den Vereinigten Staaten wird die Debatte über die Geschichte des Rassismus derzeit intensiv geführt. Von dort aus haben sich die dadurch befeuerten politischen Bewegungen nach Europa und darüber hinaus ausgebreitet. Wissenschaftliche Konzepte und Erkenntnisse zu den Themen Gender und Rassismus, die vor zehn Jahren noch lediglich innerhalb der radikalen Linken und in akademischen Kreisen diskutiert wurden, sind mittlerweile im Mainstream angekommen. Tarana Burkes „Me Too“-Bewegung, begründet im Jahr 2006, sollte das Bewusstsein gegen sexualisierte Gewalt und Übergriffe gegen Frauen schärfen, erreichte dann Hollywood und wurde 2017 zum globalen Phänomen.
Und Kimberlé Crenshaws sogenannter Intersektionalitäts-Ansatz von sich überschneidenden oder miteinander interagierenden Diskriminierungsformen – ein obskures juristisches Konzept aus dem Jahr 1989 – verbreitete sich von den US-Universitäten aus über die Grenzen der USA und der akademischen Welt hinaus.
Man begann, sich ehrlicher mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen, nicht nur in linksliberalen Milieus, sondern auch in der politischen Mitte. Damit einher ging eine tiefergehende Reflexion über historische Untaten und Ungerechtigkeiten, die es unmöglich machte, diese weiter als Randnotizen der amerikanischen Geschichte abzutun. Die großen Figuren der US-Historie werden heute nicht mehr nur danach beurteilt, ob sie sich ein bleibendes Verdienst erworben haben, sondern auch nach ihrer Rechtschaffenheit befragt. Verunstaltete oder gestürzte Denkmäler und von Gebäuden entfernte Namen sind Zeugnisse dieses Trends.
Nicht anders erging es im Juni des vergangenen Jahres dem 28. Präsidenten der Vereinigten Staaten, Woodrow Wilson, als die Universität Princeton, die er einst leitete, seinen Namen von ihrem International Affairs College entfernte. Kein Wunder, ist Wilson doch sowohl in Sachen Rassismus als auch im Hinblick auf die Frage nach einer Neubewertung der liberalen internationalen Ordnung eine ausgesprochen diskussionswürdige Figur.
In der Außenpolitik sind wir noch nicht so weit. Hier wird der Diskurs noch kaum von der kritischen Linken beeinflusst. Natürlich, seit dem Brexit und der Wahl Donald Trumps ist der Westen in sich gegangen. Doch anders als in der Innenpolitik werden postkoloniale Perspektiven in den Außenbeziehungen weiter ausgeblendet.
Eine Mitschuld des Westens an seinen internen und externen Problemen räumt man mittlerweile wohl ein. Allerdings führt man diese Probleme auf naives oder überhebliches Handeln zurück; auf den Gedanken, dass das System ungerecht war, kommt man nicht. Anhänger der realistischen Schule wie Stephen Walt werfen den westlichen und namentlich den amerikanischen Eliten vor, sich eine „liberale Hegemonie“ – also die globale Verbreitung von freier Marktwirtschaft und Demokratie – auf ihre Fahnen geschrieben zu haben.
Europas Staats- und Regierungschefs mögen in dieser Hinsicht weniger anmaßend agiert haben – zumindest soweit es um militärische Interventionen um der Demokratie willen ging. Doch sie teilten den allzu selbstbewussten und nicht ganz uneigennützigen Glauben an die Macht der freien Märkte und ihr demokratisierendes Potenzial – „Wandel durch Handel“ –, und sie verdienten gern an dieser Art des globalen Fortschritts mit.
Progressivere außenpolitische Analysten argumentieren heute, dass der Neoliberalismus und der Neokonservatismus den Westen aus der Bahn geworfen hätten. In konservativeren Kreisen wird diese These jedoch gerne umgedreht. Dort heißt es nicht selten, dass die naive Fantasie des „liberalen Internationalismus“ und die allzu edelmütigen und dementsprechend unmöglichen Ansprüche der Schutzverantwortung direkt in die Sinnkrise geführt hätten. Andere Beobachter wie der Berliner Chef des German Marshall Fund, Thomas Kleine-Brockhoff, führen die beiden Perspektiven zusammen und gelangen zum Schluss, dass der Westen sich einerseits um weniger Einmischung bemühen, andererseits jedoch noch klarer für seine Werte einstehen sollte.
Ein gutes Beispiel für die Argumente der Realisten ist der kürzlich erschienene Essay „The End of the Wilsonian Era“ des amerikanischen Politikprofessors Walter Russell Mead. Für Mead war der westliche Idealismus von Anfang an zum Scheitern verurteilt – und damit auch das „noble Unterfangen“ einer Wilsonschen Weltordnung, in der „die internationalen Beziehungen von den in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte dargelegten Prinzipien und den von Institutionen wie den Vereinten Nationen, dem Internationalen Gerichtshof und der Welthandelsorganisation aufgestellten Regeln bestimmt werden“.
Mit dem Abgesang an die Wilsonschen Ideale geht bei dem konservativen Denker Mead eine unmissverständliche Verurteilung der Person Wilsons einher. Ob Mead sich vor zehn Jahren ähnlich deutlich geäußert hätte? Heute jedenfalls spricht er davon, dass die „cancellation“ Wilsons eine der „zweifelsohne verdientesten ist. Wilson war ein ungeheuerlicher Rassist, selbst nach den Maßstäben der damaligen Zeit.“ Trotzdem trennt Mead klar zwischen Wilsons „persönlichen Ansichten und seiner Innenpolitik“ und seinem Einfluss „als Staatsmann und Ideologe“, der ihn für den Autor zu „einem der einflussreichsten Gestalter der modernen Welt“ macht. War Wilson also rassistisch, die Welt, die er geschaffen hat, aber nicht?
Wie viele seiner Kollegen ist Mead im Grunde nicht sonderlich an dieser Frage interessiert. Stattdessen spricht er gerne von „bedauerlichen Notwendigkeiten“ und „unumgänglichen Kompromissen“ wie der „amerikanischen Unterstützung für skrupellose Diktatoren und Militärregimes“. Dass dies mitunter den westlichen Werten widerspricht und diese nur dann durchgesetzt wurden, wenn es politisch opportun schien, gibt Mead zu. Seine Einstellung steht sinnbildlich dafür, wie die transatlantische außenpolitische Debatte heutzutage geführt wird.
Vor einigen Jahren nahm ich an einer Konferenz mit außenpolitischen Analysten und Politikern aus Europa, den Vereinigten Staaten und China teil. Damals argumentierte ein chinesischer Experte, dass China auch Teil der globalen liberalen Ordnung sein könne, ohne in seiner Innenpolitik alle liberal-demokratischen Standards zu erfüllen. Seine amerikanische Diskussionspartnerin verspottete diese Position und erklärte, sie habe keine Ahnung, wie das jemals funktionieren solle.
Die US-Expertin war ein wirklich kluger Kopf und hätte auf Nachfrage sicher nie die rassistische Geschichte der USA geleugnet. Auch, dass es in den europäischen Kolonien eben die Europäer waren, denen die Segnungen der Staatsbürgerschaft zugute kamen, während die Kolonisierten zu Untertanen degradiert wurden, dürfte ihr bewusst gewesen sein. Doch Widerspruch erntete sie an diesem Tag nicht. Tatsächlich – so schien es mir – fiel ihre himmelschreiende Heuchelei den meisten Amerikanern und Europäern im Publikum gar nicht auf. Wie viel Scheinheiligkeit darin steckt, dass der Westen sich für moralisch überlegen hält und daraus einen globalen Führungsanspruch ableitet, darüber wird in der aktuellen Debatte nicht gesprochen.
Um die fatalen Fehler der Doktrin vom Gleichgewicht der Kräfte zu korrigieren, die den Krieg als legitimes Mittel einstufte und die Welt beinahe in einen ewigen Konflikt geführt hätte, wollte Woodrow Wilson laut Mead eine Ordnung schaffen, „unter der die Staaten durchsetzbare rechtliche Beschränkungen für ihr Verhalten im eigenen Land und ihr internationales Handeln akzeptieren würden“.
Dass diese Ordnung nur teilweise verwirklicht wurde, führt Mead richtigerweise darauf zurück, dass globale Wertvorstellungen und politische Systeme nicht in dem Maße miteinander konvergierten, wie Wilson es erwartet hatte. Der Umstand jedoch, dass der Westen an der Spitze der Weltordnung jahrzehntelang die eigenen Werte verraten und sich über die eigens eingeführten rechtlichen Beschränkungen des Systems hinweggesetzt hat, wird von Mead wie von vielen anderen geradezu mutwillig ignoriert. Der blinde Fleck der Lehre von der weißen Überlegenheit, die die Weltsicht Wilsons und vieler seiner Zeitgenossen prägte, wird bestenfalls wie eine Randnotiz behandelt, zumeist für völlig irrelevant erklärt.
Doch es gibt auch andere Sichtweisen; man muss sie nur suchen. Etwa bei Pankaj Mishra, dem postkolonialistischen Essayisten. In einem seiner jüngsten Beiträge widmet sich Mishra dem „angloamerikanischen Liberalismus“ und seiner Beziehung zum Kolonialismus. In einem anderen aktuellen Text nimmt er eine kritische Bewertung Wilsons und des liberalen Internationalismus vor. Dabei legt er sein Augenmerk darauf, wie Rassismus und Kolonialismus die Ursprünge der liberalen Ordnung beeinflusst haben.
Nach Mishras Analyse richtete sich Wilson mit seinen Gedanken über die Regulierung kolonialer Ansprüche und das Selbstbestimmungsprinzip ausschließlich an jene europäischen Völker, die Teil des Deutschen Reiches, Österreich-Ungarns oder des Osmanischen Reiches waren. Für die kolonialen Untertanen Frankreichs und Großbritanniens jenseits von Europa sollten sie nicht gelten. Darüber hinaus zeigt Mishra, dass Wilson nur „wenig Interesse daran hatte, Großbritannien und Frankreich davon zu überzeugen, ihre Kolonialbesitzungen aufzugeben.“ Zudem führte Wilsons rassistische Wahrnehmung nichtweißer Menschen bei ihm zu der Überzeugung, dass einige Völker zur Selbstbestimmung schlicht nicht fähig seien.
Und doch gehen viele Historiker insbesondere mit Wilsons Auftritt auf der Pariser Friedenskonferenz von 1919 nicht allzu hart ins Gericht. Zwar sei er nicht in der Lage gewesen, sich gegen die Imperialisten Lloyd George und Clemenceau durchzusetzen, aber er habe es immerhin versucht. Selbst Mao Zedong scheint relativ wohlwollend gegenüber Wilson gewesen zu sein; zumindest legt das ein Zitat nahe, das Mishra in seinem Buch anführt. So schrieb Mao, dass „Wilson in Paris wie eine Ameise in einer heißen Pfanne war ... umgeben von Dieben wie Clemenceau, Lloyd George, Makino und Orlando“ und dass er, nachdem er gelesen hatte, dass Wilson „sich schließlich mit Clemenceau einig war“, „lange Zeit Mitleid mit ihm hatte. Armer Wilson!“
Bei Mishra überwiegt trotz des Lobes für Wilsons „hehre Ziele“ am Ende die Kritik recht deutlich. Dabei kann sich der Autor einen Seitenhieb gegen die Ignoranz und Torheit liberaler Internationalisten wie Clemenceau nicht verkneifen, die beharrlich versuchten, „den Wilsonschen Moment gerade dort wiederzubeleben, wo der angloamerikanische Liberalismus als eine besonders aggressive Form der Scheinheiligkeit gilt“.
Während Mead jedem kritischen Gedanken ausweicht, weist Mishra allzu großzügige Interpretationen der Geschichte zurück. Denn für ihn sind die Fortschritte, die durch Wilson angestoßen wurden, im Vergleich zu den großen imperialistischen und ausbeuterischen Sünden des Westens nur Randnotizen. Scheiterte die Wilsonsche Ordnung für Mead daran, dass sie einen verqueren demokratischen Determinismus und eine Art Wertekonvergenz voraussetzte, so war sie für Mishra schlichtweg falsch, weil unaufrichtig.
Ist es aber vielleicht auch möglich, dass die Wilsonsche Ordnung so war wie der Mann selbst: unvollkommen, rassistisch und ungerecht – und dabei doch auf gewisse Weise erhaben? Könnte es sein, dass diese Ordnung, obwohl sie ihre Versprechen nicht einlöste, doch radikal fortschrittlich und gerechter war als alles, was ihr voranging und als es das reine Machtkalkül verlangt hätte?
Bereits 2008 diagnostizierte der singapurische Politikwissenschaftler und Diplomat Kishore Mahbubani in „The Case Against the West“ einen „fundamentalen Fehler im strategischen Denken des Westens“, der darin bestehe, dass „der Westen in all seinen Analysen globaler Herausforderungen davon ausgeht, dass er die Lösungen für die großen Probleme der Welt hat. Tatsächlich aber ist der Westen selbst auch der Ursprungsort dieser Probleme.“ Habe der Westen „jahrhundertelang die globale Vorherrschaft genossen“, schreibt Mahbubani, „so muss er nun lernen, Macht und Verantwortung für das Management globaler Fragen mit dem Rest der Welt zu teilen.“ In der Tat ist es kein Geheimnis, dass die mittlerweile 89 Prozent der Weltbevölkerung jenseits der G7, die inzwischen auch rund 69 Prozent der Weltwirtschaft repräsentieren, die Weltordnung mitgestalten wollen.
Das Versprechen des amerikanischen Treueschwurs –„Freiheit und Gerechtigkeit für alle“– war in Wirklichkeit nicht für alle gedacht. Im Grunde funktionierte die regelbasierte liberale Ordnung des Westens im Kontext ihrer Entstehungszeit gut – sie passte in eine Welt, die von Amerika, von Westeuropa und der Sowjetunion dominiert wurde. Die wirtschaftlichen Regeln schufen ein für damalige Verhältnisse geradezu sensationelles Maß an Gleichheit und schränkten die Mächtigen ein. Länder wie Thailand und Ecuador konnten wegen unfairer Handelspraktiken gegen die USA vorgehen – und das sogar mit Erfolg. Die gleichen Regeln ermöglichten es China, sich nach seiner kapitalistischen Wende rasch zu einer globalen Supermacht zu entwickeln.
Und doch blieben einige Länder stets gleichberechtigter als andere. Wir wissen heute, dass Europa und die Vereinigten Staaten ihre Kontrolle über das System nicht gelockert haben. Sie sitzen weiter an den Hebeln und bestimmen die Regeln. Und wir wissen auch, dass die Regeln, die der Westen den anderen auferlegte, mitunter großen Schaden anrichteten. Die ungerechte Verteilung der ständigen Sitze im UN-Sicherheitsrat ist nur ein besonders eklatantes Beispiel für das koloniale Erbe, das die globale Gemeinschaft mit sich herumschleppt, und für die mangelnde Bereitschaft des Westens, sich damit auseinanderzusetzen.
Übereinkünfte im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) etwa wurden im Wesentlichen zwischen den USA und Europa geschlossen. Erst als sich andere Länder zusammenschlossen, um vom Westen Zugeständnisse zu verlangen – etwa bei den Agrarsubventionen – gerieten die Verhandlungen ins Stocken. Und doch werden unbequeme Wahrheiten von Europäern und Amerikanern in ihrer Analyse der Herausforderungen für die Weltordnung oft schlichtweg ignoriert.
Schlussendlich geht es bei all den westlichen Diskussionen über die liberale Ordnung in Wirklichkeit meist um China. Denn mit China hat sich ein ernstzunehmender Konkurrent entwickelt – und zwar aus dem System heraus. Plötzlich stellen wir fest, dass die Regeln der internationalen Ordnung nicht mehr nur zu unserem Vorteil funktionieren. Im Gegenteil: In der aktuellen Krise treten die Schwächen unserer eigenen Demokratien und Volkswirtschaften einigermaßen klar zutage. Doch im Westen tun wir gern so, als ginge es in diesem Wettbewerb nur um Wertvorstellungen und nicht auch um Machtansprüche – vielleicht, weil zu viele Menschen in Europa und Nordamerika unbewusst davon ausgehen, dass die westliche Dominanz der Welt eine Art natürlicher Urzustand ist.
In einer Rede vor der Pariser Akademie für Moral- und Politikwissenschaften erklärte der ehemalige französische Diplomat Jean-David Levitte im Jahr 2019: „Während des triumphalen Jahrzehnts von 1991 bis 2001 waren wir Westler der Überzeugung oder hatten zumindest die Hoffnung, dass alle Schwellenländer nach und nach nicht nur die Regeln der Marktwirtschaft übernehmen würden, sondern auch die Werte, die ihr und der westlichen Ordnung zugrunde liegen. Heute ist diese Illusion passé.“ Ein Land wie China habe die westlichen Vorstellungen von einer Weltordnung nie geteilt: „Die Idee der Gleichheit der Staaten vor dem Gesetz ist China fremd. Seit Jahrtausenden sieht sich China als die Zivilisation, umgeben von barbarischen Königreichen, deren einzige Pflicht es ist, Abgesandte an den Hof des Kaisers zu schicken, die wiederum den Kotau vollziehen, ihren Tribut zahlen und, erleuchtet von der chinesischen Weisheit, wieder von dannen ziehen.“
Dazu wäre zweifellos einiges zu sagen. So erzwangen die europäischen Großmächte von China und dem Osmanischen Reich bis ins 20. Jahrhundert schmerzhafte Zugeständnisse, die nicht selten einen Souveränitätsverlust zur Folge hatten. Und was ist eigentlich mit Vietnam? Doch man sollte Levitte gegenüber fair bleiben, denn er ist alles, nur kein Einzelfall. Ich hätte an dieser Stelle genauso gut hundert andere Europäer oder Amerikaner zitieren können.
Der gegenwärtige Diskurs sollte uns im Westen lehren, kritische Perspektiven auf althergebrachte Narrative der globalen Politik aufzugreifen und in unsere Debatten miteinzubeziehen. In den 1950er Jahren schien die amerikanische Demokratie lebendig und stark, und die USA konnten sich globalen Herausforderungen mit einem gewissen Selbstbewusstsein widmen. Doch diese Stärke beruhte auf einem Konsens, dem Entmündigung zugrunde lag. Die völlige Abwesenheit kritischer Stimmen schuf die Illusion von Zusammenhalt und den Anschein eines stabilen Systems. Das änderte sich jedoch in den 1960er und 1970er Jahren, als Minderheiten grundlegende Rechte und Mitbestimmung einforderten und das System ins Wanken brachten.
Ein Teil der gegenwärtigen demokratischen Unordnung in den Vereinigten Staaten ist das direkte Resultat dieses bis heute andauernden Demokratisierungsprozesses. Minderheiten wollen nicht mehr nur Grundrechte oder „Toleranz“; sie streiten für echte Gleichheit und Repräsentanz, während auf der anderen Seite die Angst wächst, die eigene Kontrolle über das System und traditionelle Narrative könnten infrage gestellt werden. Natürlich schafft eine kritische Auseinandersetzung mit den herrschenden Mächten und Narrativen Unsicherheit und Angst – doch manchmal ist diese Debatte einfach notwendig.
Rachel Herp Tausendfreund ist Editorial Director beim German Marshall Fund of the United States in Berlin.
Aus dem Amerikanischen von Kai Schnier
Internationale Politik 2, März/April 2021, S. 98-103
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