Essay

01. März 2017

Die Fahne am Haus meiner Mutter

Wer sind die Trump-Wähler? Auf Spurensuche im amerikanischen „Rostgürtel“

Elitenhass, Rassismus, Sexismus, Sensationalismus: Über die Ursachen für Donald Trumps Wahlerfolg ließen sich Dutzende von Essays schreiben. Doch wer mit dessen Wählern spricht, kommt an einem Faktor nicht vorbei, der bislang kaum beachtet wurde: dem amerikanischen Patriotismus – genauer: der US-Version des Verfassungspatriotismus.

Ich bin in einem US-Bundesstaat aufgewachsen, der Trump-Land geworden ist; in einem kleinen, nur von Feldern umgebenen Dorf, einer Gegend, deren einprägsamste Gebäude Scheunen und Windmühlen sind und in der die meisten Autounfälle nicht durch überhöhte Geschwindigkeit, sondern durch Weißwedelhirsche verursacht werden. Der Ort, in dem die Familie meiner Mutter seit Generationen lebt, gehört zu Amerikas nun weltbekanntem „Rust Belt“, dessen weiße Arbeiterschicht in den Vorwahlen für Bernie Sanders und Donald Trump, und im vergangenen November für Trump gestimmt hat.

Wie wohl die gesamte liberale „Elite“ (zu der ich heute allem Anschein nach gehöre) habe ich die Wochen nach der Wahl damit verbracht zu verstehen, was eigentlich passiert ist. Anders als viele Trump-Gegner meiner Generation hatte ich jedoch den Vorteil, sehr viele Trump-Wähler zu kennen und einige, weil es sich um Freunde und Familie handelt, zu lieben. Sie konnte ich nach ihren Gründen fragen. Und in diesen Gesprächen wurde mir klar, was ich bisher noch nicht bedacht hatte.

Natürlich: Viele waren einfach gegen Hillary Clinton oder gegen „das System“, nach dem Motto: „Die da oben können mich mal“ und „warum nicht Trump?“ Doch hinter dem bewussten, gezielten Protest versteckt sich noch etwas anderes als das „letzte Aufbäumen der wütenden weißen Männer“ (so der Journalist und Clinton-Aktivist David Brock) oder das Gefühl, in einer sich wirtschaftlich, technologisch und kulturell rasant verändernden Welt den Anschluss zu verlieren. In der andauernden Debatte um den Ausgang der Präsidentschaftswahlen wurde ein wesentlicher Punkt bislang eklatant vernachlässigt: wie wichtig das Thema amerikanischer Patriotismus ist und wie sehr das Gefühl vieler eine Rolle spielte, Nationalstolz sei angreifbar, rückständig oder negativ. Man könnte Dutzende Essays schreiben über die verschiedenen Faktoren, die zur Wahl Donald Trumps beigetragen haben: Fake News, Sensationalismus, Anti-Elitarismus, Sexismus. Dass auch Rassismus und Vorurteile eine Rolle spielten, hat der Journalist Ta-Nehisi Coates im Atlantic Magazine überzeugend beschrieben.1 Hinzu kam der Faktor Stammwähler: Mehrere Tausende, vielleicht Hunderttausende Republikaner haben für einen Mann gestimmt, den sie zwar für einen Schwindler halten, der aber Kandidat der „richtigen“, nämlich ihrer Partei war. Und wer könnte es diesen Wählern verübeln, hatte doch fast die gesamte republikanische Parteispitze ebenfalls Donald J. Trump unterstützt? Einzig Marco Rubio nannte Trump schon in den frühen Phasen des Wahlkampfs einen Hochstapler und blieb konsequent bei seiner Meinung. Seine Unterstützer forderte er allerdings nicht dazu auf, gegen Trump zu stimmen.

Von allen Faktoren jedoch, die Trump ins Weiße Haus gebracht haben, verdient der amerikanische Patriotismus – genauer: die US-Version des Verfassungspatriotismus – genauere Aufmerksamkeit, nicht zuletzt, weil schon in den ersten Wochen der Amtszeit Trumps eine heftige Debatte über das Wesen des amerikanischen Nationalstolzes ausgebrochen ist. Diese Auseinandersetzung wird die USA in den kommenden Monaten und Jahren prägen. Und sie wird vielleicht Einiges zutage bringen, was auch für Länder wie Deutschland, die weniger pessimistisch in die Zukunft blicken, von Bedeutung sein könnte.

Natürlich enthält Donald Trumps Leitspruch „Make America Great Again“ das Versprechen einer Rückkehr zu einem längst vergangenen Ideal und natürlich impliziert er die Verteidigung „unseres Amerikas“ gegen „die anderen“. Viel zu selten wird jedoch erkannt, dass Trump an den amerikanischen Nationalstolz appelliert und authentisch wirkt, wenn er Amerika „the greatest country in the world“ nennt und „America First“ als oberste Maxime ausgibt. Auch Hillary Clinton und Barack Obama betonen immer wieder die Großartigkeit der USA. Nur wirken sie nicht glaubwürdig. Das liegt in der Natur der Sache, denn engstirniger Chauvinismus und blinder Patriotismus à la Trump passen nicht zu den weltgewandten linken Eliten, die Clinton und Obama repräsentieren. Den Progressiven geht es ja darum, Amerikas Fehler und Mängel zu korrigieren anstatt sie unter den Teppich zu kehren. Das erfordert einen nuancierteren Patriotismus.

Politiker wie Hillary Clinton kennen die Zahlen, Daten, Fakten. Sie wissen, dass die Kluft zwischen Reich und Arm in anderen Ländern geringer und die soziale Mobilität höher ist. Dass es anderswo weniger Armut und weniger Gewalt gibt. Im Jahr 2012 wurde die Eröffnungsszene der Serie Newsroom in Windeseile verbreitet, in der die von Jeff Daniels gespielte Hauptfigur gebeten wird zu begründen, warum Amerika das beste Land der Welt sei. „Es gibt keinen einzigen Beweis, der diese Aussage stützen würde“, setzt der Protagonist an, „wir sind 7. bei der Alphabetisierung, 24. in Mathematik, 49. bei der Lebenserwartung …“ Die Szene traf einen Nerv, weil viele sie als Demontage eines lächerlichen und zuweilen auch beklemmenden Nationalstolzes verstanden. Außerhalb der USA, vor allem in Deutschland, empfindet man den geradezu exhibitionistisch zur Schau gestellten Nationalstolz der Amerikaner ohnehin als unreif oder gar bedrohlich. Dass hier ein Miss- oder Unverständnis vorliegt, hatte ich schon seit Längerem geahnt. Wie wertvoll der amerikanische Patriotismus aber sein kann, das habe ich erst im November verstanden.

Ein emotionaler Patriotismus ohne Gleichmacherei

Dolf Sternberger und später Jürgen Habermas argumentierten für ein alternatives „staatsbürgerschaftliches Konzept“ , das auf einem Verfassungspatriotismus beruht. Anstelle von Ethnizität und Nationalität sollte eine Identifikation mit der Verfassung einen Staatsbürger mit einem gesunden, wohlwollenden, positiven Patriotismus hervorbringen. Für Sternberger war das eine Antwort auf den Nationalsozialismus und die Teilung Deutschlands. Für Habermas bot der Verfassungspatriotismus die Chance auf eine „transnationale Erweiterung der staatsbürgerlichen Solidarität“ – ein Demos für die Europäische Union.

Nun fand und findet die theoretische Debatte in Europa weitgehend abgekoppelt von den Diskussionen und empirischen Entwicklungen auf der anderen Seite des Atlantik statt (was meines Erachtens auf große Teile der europäischen Wissenschaft zutraf, die sich gern auf die eigene Besonderheit konzentrierte, anstatt Lehren aus der Geschichte anderer Weltregionen zu ziehen). Und so ist es vielleicht zu erklären, wie Habermas übersehen konnte, dass er gar kein neues Konzept erdacht hatte. Der amerikanische Patriotismus war ja schon ein – wenn auch nicht perfektes – Beispiel für einen solchen republikanischen, auf demokratischen Werten basierenden Patriotismus. Zudem empfand Habermas wie viele seiner Landsleute Pathos, vor allem nationales Pathos, als befremdlich oder verstörend. Seine Idee des Verfassungspatriotismus ist ­deshalb rational, nicht emotional. Oder, wie seine Kritiker sagen: „zu formell, zu kühl, (…) zu blutleer“, so Peter Molt in seinem Aufsatz „Abschied vom ­Verfassungspatriotismus?“

Tatsächlich verschleiert das reiche Pathos des amerikanischen Patriotismus aber nur dessen Ähnlichkeit mit dem gelebten Verfassungspatriotismus nach Habermas. Wenn irgendwo eine Art „demokratischer Patriotismus“ – im Gegensatz zum „völkischen Patriotismus“ – existiert, dann in den Vereinigten Staaten von Amerika mit ihrer langen Tradition einer „staatsbürgerlichen Religion“, so der Philosoph Richard Rorty. Herbert Croly, einer der Vordenker der progressiven Bewegung, schrieb 1909: „Der Glaube der Amerikaner an ihr eigenes Land ist religiös; wenn nicht in seiner Intensität, dann zweifellos in seiner fast absoluten und universellen Autorität.“ In der Tat identifizieren sich Amerikaner mit ihrer Verfassung und streiten über sie wie andere über ihre „Leitkultur“. Der immerwährende Streit über die richtige Interpretation des Zweiten Verfassungszusatzes (das Recht der Bürger, Waffen zu tragen) ist eines der bedeutendsten Themen unserer politischen Kultur.

Amerikanisch sein bedeutet, Thanksgiving (einen nichtreligiösen Feiertag) mit einem Barbecue zu feiern und am 4. Juli das Feuerwerk zu bewundern – am Nationalfeiertag, an dem „das Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“, wie es in der Unabhängigkeitserklärung heißt, als Grundprinzip der amerikanischen Verfassung gefeiert wird. Amerikaner singen mit der Hand auf dem Herzen ihre Nationalhymne, in der es hauptsächlich um eine Flagge geht, und Schulkinder geloben Treue – und zwar nicht einem Volk, dessen Geschichte oder dessen Sprache, sondern dem Ideal einer demokratischen Republik, welches die „flag of the United States of America“ symbolisiert.

Es kann einen echten, emotionalen Patriotismus geben, der losgelöst ist von Ethnie und Sprache. Aber wenn diese offenere und abstraktere Form des Patriotismus Millionen von Nichtgleichen zusammenbringen soll, dann muss sie Raum für Stolz und Optimismus lassen. Sie muss gemeinschaftliche Ideale anbieten. Der weiße Klempner aus der Kleinstadt muss daran glauben können, dass er, der Arzt, der vielleicht kürzlich erst eingewandert ist, der New York Times-Kolumnist und der schwarze Prominente gleichermaßen zum amerikanischen Projekt gehören. Es gilt das Prinzip: Wir müssen nicht gleich aussehen, gleich sprechen, das Gleiche essen oder die gleiche Musik hören. Aber wir geloben der gleichen Fahne unsere Treue.

Eine progressive Form des Patriotismus

Bruchstellen in diesem gemeinsamen Treueschwur sind überall dort aufgetreten, wo die Vereinigten Staaten gefehlt oder versagt haben – und nicht, wie es eine sehr simplifizierte Erklärung glauben machen will, weil die Weißen aus den ländlichen Gebieten ihr gemeinsames Projekt nicht mit anderen teilen wollten. Die linken Eliten haben es versäumt, eine alternative, wirklich progressive patriotische Vision anzubieten, die für moderate Konservative und die weiße Landbevölkerung attraktiv wäre. Mangels Alternative wurden diese Kreise anfällig für die rückwärtsgewandte „America First“-Variante.

Gleichzeitig haben die einflussreichen konservativen Medien geschickt und erfolgreich die Idee verbreitet, dass die heutigen progressiven Bewegungen „unpatriotisch“ seien. Die Linke hat auf patriotische Symbole verzichtet, sie sogar lächerlich gemacht. So hat sie wenig Raum gelassen für einen demokratischen Patriotismus. Und nicht nur das: Sie hat zum Erstarken des konservativen, chauvinistischen Patriotismus à la Trump beigetragen.

Im Kampf um die Deutungshoheit über den amerikanischen Patriotismus geht es weder um die Nationalisten der extremen Rechten noch um linksliberale Idealisten. Es geht um die „besorgten Bürger“, die Unpolitischen oder nur etwas rechts von der Mitte stehenden Konservativen. Zu dieser Gruppe gehören die meisten Wähler in den Staaten Pennsylvania, Michigan, Wisconsin und dem restlichen „Rust Belt“, die den Ausschlag zugunsten Trumps gegeben haben. Die politischen Eliten mögen ungeduldig mit der „besorgten Mitte“ geworden sein und sie nach der Wahl Obamas und den erfolgreichen Kampagnen für Minderheitenrechte für ausreichend angepasst an progressive Ideale gehalten haben. Doch das war ein Irrtum. Die Mitte war und blieb besorgt. Allerdings – und das ist die gute Nachricht – ist sie auch zu gewinnen.

„Euer Amerika ist nicht unser Amerika“

Seit 1942 schwören amerikanische Schulkinder Treue „auf die Fahne der Vereinigten Staaten von Amerika und die Republik, für die sie steht, eine Nation (unter Gott),2 unteilbar, mit Freiheit und Gerechtigkeit für jeden“. Seit dem Jahr 2000 war die Pflicht zum morgendlichen Treueschwur Gegenstand einiger Gerichtsverfahren,3 was mir bislang gar nicht bewusst war und was mich vermutlich auch nicht sonderlich interessiert hätte. Die Trump-Wähler unter meinen Freunden und in meiner Familie interessierte das hingegen schon. Sie diskutieren leidenschaftlich über diese Urteile, und konservative Medien berichteten stundenlang darüber. Genauso wie über die „Black Lives Matter“-Bewegung oder den Protest des Profi-Footballspielers Colin Kaepernick, der sich während der Nationalhymne – anstatt mit der Hand auf der Brust stramm zu stehen – mit einem Bein auf die Seitenlinie kniete, um damit auf die Unterdrückung von Minderheiten aufmerksam zu machen.

Kaepernick traf damit einen wunden Punkt der „besorgten Mitte“, vor allem jener, deren Weltsicht durch konservative Medien geprägt wird. In diesen Kreisen werden derlei Proteste als Attacke auf den Patriotismus, als Angriff auf ganz Amerika wahrgenommen. Freilich sind dabei auch tiefsitzende rassistische Vorurteile im Spiel, aber dennoch wäre es zu einfach, die konservative Gegenreaktion auf die linken Proteste einfach als „rassistisch“ abzutun.

Eigentlich will die „besorgte Mitte“ (Weiße, aber auch einige Schwarze und Latinos) schon daran glauben, dass es fortschrittlich zugehen soll in der amerikanischen Gesellschaft und dass man sich, immer mehr vereint, auf ein gemeinsames Ziel verständigen könne. Aber in den Protesten der Linken hören die Konservativen etwas anderes, nämlich: „Euer Amerika ist nicht unser Amerika, euer Nationalstolz ist falsch.“

Umtriebige konservative Medienstars tragen ihren Teil dazu bei, diese Interpretationen noch zu verstärken. So veröffentlichte die Moderatorin Tomi Lahren einen vernichtenden Kommentar über Kaepernicks Protest, der auf Facebook über 66 Millionen Mal angeklickt wurde: „Dieses Land, das du so verachtest, erlaubt dir die freie Meinungsäußerung. Es schützt dein Recht, eine weinerliche, aufmerksamkeitsgeile Heulsuse zu sein. Es schützt auch mein Recht, dich dafür in der Luft zu zerfetzen. Hör zu: Die Nationalhymne und unsere Fahne symbolisieren weder das schwarze Amerika oder das weiße Amerika, noch das braune oder meinetwegen das lila Amerika. Patrioten aller Rassen haben für dieses Land gekämpft und sind dafür gestorben. Im Gedenken daran ehren wir unsere Fahne und singen die Hymne. Und Colin, wenn dieses Land dich so sehr anekelt, dann geh’ doch. Ich garantiere dir, dass Hunderttausende Menschen auf der Welt liebend gern deinen Platz einnehmen würden. Denn diejenigen, die nicht unter dieser Fahne leben, klopfen an die Tür, um hineinzukommen, nicht um zu gehen, vergiss das nicht.“

In Lahrens Kritik geht es nicht darum, ob sie recht hat, sondern dass sie, die ein explizit konservatives Publikum anspricht, sich auf „Patrioten aller Rassen“ bezieht. Für Lahren lehnt Kaepernick mit seinem Protest das amerikanische Projekt selbst ab – und in Konsequenz auch sie und ihre Anhänger. Wobei ich hier wiederum die unterliegenden Schichten des Rassismus ausblenden muss, um beim Thema Nationalstolz zu bleiben.

Interessant ist, dass Lahrens rechte Kritik an Kaepernicks linkem Protest dem Grundtenor der Rede des damaligen Senators Barack Obama vor dem Parteitag der Demokraten im Jahr 2004 ähnelt. Einer Rede, die ihn landesweit bekannt gemacht hat: „Es gibt kein liberales Amerika und kein konservatives Amerika; es gibt nur die Vereinigten Staaten von Amerika“, sagte Obama damals. Und weiter: „Es gibt kein schwarzes Amerika, kein weißes Amerika, kein Latino-Amerika und kein asiatisches Amerika; es gibt nur die Vereinigten Staaten von Amerika.“ Dieser starke, einende Patriotismus funktionierte. Er brachte einen schwarzen Mann mit einem ausländisch klingenden Namen ins Weiße Haus. Und nicht nur das: Seine Botschaft war kraftvoll genug, um der progressiven Politik in den USA neues Leben einzuhauchen. Die Republikaner erkannten diese Bedrohung sofort. Konzertierte Sabotage durch die republikanische Opposition, mächtige konservative Medien und die harte Realität von Rezession, Gewalt, Ungleichheit und globaler Unordnung haben dazu beigetragen, Obamas Botschaft des Optimismus zu zermürben.

Es gab und gibt aber auch prominente Stimmen links der Mitte, die mit dem Konzept eines optimistischen Patriotismus nichts anzufangen wissen. Ta-­Nahesi Coates bemerkte, Obama habe geradezu „insistiert“, dass die Amerikaner „stärker vereint seien, als man sie glauben machen wolle“. Für ihn selbst scheint das Konzept „Einigkeit“ nicht erstrebenswert zu sein. Und noch weniger, dass man darauf „insistieren“ solle. In seiner Rede 2004 hatte Obama auch über die gemeinsame Hoffnung gesprochen, die verschiedene Teile der amerikanischen Gesellschaft miteinander verbinden könnte: „Es ist die Hoffnung der Sklaven, die Freiheitslieder an ihren Lagerfeuern singen; die Hoffnung der Einwanderer, die sich zu fernen Ufern aufmachen; die Hoffnung eines jungen Marines, der tapfer im Mekong-Delta patrouilliert; die Hoffnung des Sohnes eines Stahlarbeiters, der allen Widrigkeiten trotzt; die Hoffnung eines mageren Kindes mit einem komischen Namen, dass Amerika auch für ihn einen Platz bereithält.“ Für Coates war das eine Rede, „die nichts mit der Lebenswirklichkeit der Leute zu tun hat, die sie ansprechen sollte“. Coates ist nicht der Einzige, der das so sieht. Aber er ist sicher der Eloquenteste.

Es gibt zwei Probleme mit der Kritik der Linken am amerikanischen Nationalstolz, vor denen der Philosoph Richard Rorty bereits 1998 in seinem Buch „Achieving our Country“4 warnte. Gebildete Progressive assoziieren den „amerikanischen Patriotismus mit der Unterstützung von Gräueltaten: der Sklaverei, dem Massenmord an den Ureinwohnern …“ Das ist es, was auch Coates meint, wenn er Obama vorhält, seine Rede „laufe der Historie zuwider“. Obama erzählt eine Geschichte, deren Optimismus die schmerzlichen Wahrheiten auszublenden scheint. Daraus schließen jene, die die Untiefen der amerikanischen Geschichte nicht kleinreden wollen, „dass Nationalstolz nur für Chauvinisten geeignet ist: Für die Sorte von Amerikanern, die sich freuen, [...] dass Amerika immer noch tödliche Macht ausüben kann, wo immer und wann immer es ihm beliebt“, so Richard Rorty.

Jene unter uns aber, die diese Untaten aufarbeiten und sich offen mit deren Auswirkungen auf den heutigen Tag auseinandersetzen wollen, haben eine komplexe Aufgabe zu erfüllen: Wir müssen den Gegensatz zwischen einer unvollkommenen Vergangenheit und der Verheißung einer besseren Zukunft überbrücken, Ablehnung wieder zu Hoffnung werden lassen und der Vision größere Kraft einräumen als der historischen Akkuratesse. Um noch einmal Rorty zu zitieren: „Geschichten darüber, was eine Nation war und versuchen sollte zu sein, sind keine exakte Abbildung der Wirklichkeit, sondern vielmehr Versuche, eine moralische Identität zu schaffen. In den Auseinandersetzungen zwischen Linken und Rechten, welcher Teil der Geschichte uns Amerikaner mit Stolz erfüllen sollte, kann es nicht darum gehen, welches die richtige oder falsche Darstellung ist. Besser wäre es, sie als Auseinandersetzung darüber zu beschreiben, welche Hoffnungen wir uns erlauben wollen und welche wir aufgeben müssen.“

Eine notwendige Bedingung zur Selbstverbesserung

Wie viele andere mit einem ähnlichen Lebensweg habe ich lange nicht begriffen, wie bedeutend Nationalstolz ist. Vielleicht brauchte ich ihn nicht, weil sich die Welt in eine von mir und meinesgleichen präferierte Richtung und zu meinen Gunsten entwickelte. Für andere aber sind die Komplexität, die Unsicherheit und der Wandel der heutigen Zeit jedoch beängstigend. Die verbindende Kraft eines idealistischen, optimistischen Patriotismus wäre eine notwendige Beruhigung.

In seiner Abschiedsrede bekräftigte Obama noch einmal die Vision, die ihn zwei Präsidentschaftswahlen gewinnen ließ: „Es ist das Beharren darauf, dass diese Rechte zwar selbstverständlich, aber kein Automatismus sind, dass wir, das Volk, durch das Instrument der Demokratie eine vollkommenere Union schaffen können. [...] Welch radikale Idee. Unsere Gründer haben uns ein großartiges Geschenk gemacht: Die Freiheit, mit Schweiß, schwerer Arbeit und Vorstellungskraft unseren persönlichen Traum zu verfolgen, und das Gebot, dies gemeinsam zu tun, um einer größeren Sache, dem Gemeinwohl zu dienen. [...] Das meinen wir also, wenn wir sagen, dass die Vereinigten Staaten außergewöhnlich sind – nicht, dass unsere Nation von Beginn an ohne Fehler war, sondern, dass wir die Fähigkeit bewiesen haben, uns zu ändern und nachfolgenden Generationen ein besseres Leben zu ermöglichen.“

Der amerikanische Nationalstolz ist nicht mit Nationalismus gleichzusetzen. Er kann vielmehr, so Rorty, „eine notwendige Bedingung zur Selbstverbesserung“ sein. Jene, die darauf „hoffen, ihre Nation nach vorne zu bringen, müssen ihr Land an das erinnern, worauf es stolz sein kann und wofür es sich schämen muss“. Patriotismus bedeutet nicht zwangsläufig eine Anpassung anderer Ethnien an eine „Hauptethnie“; er muss auch nicht zwangsläufig konservativ sein. Aber ein nach vorn gerichteter Patriotismus kann in manchen Fällen eine entscheidende Rolle spielen. In einem Land, das sich über einen gesamten Kontinent erstreckt und in dem Menschen leben, die keine homogene Geschichte und Kultur teilen, kann eine gemeinsame Flagge – als Symbol unseres gemeinsamen Projekts „Amerika“ – das Alte mit dem Neuen vereinen, das Ländliche mit dem Urbanen, die „Red States“ mit den „Blue States“. Was sonst könnte derartiges leisten? Aus dem gleichen Grund hat Habermas einen Verfassungspatriotismus für Europa vorgeschlagen, wenngleich er ihm zu rational und blutleer geriet. Ein widerstandsfähiger Nationalstolz auf demokratische Symbole kann progressiven Idealen dienen. Ob die Flagge mit den „Stars and Stripes“ in Zukunft für ein weltoffenes und wandelbares oder für ein konservatives und chauvinistisches Amerika steht, wird davon abhängen, wer die bessere Geschichte erzählen wird. Wenn wir keine Geschichte mehr erzählen können, die zu einem optimistischen, demokratischen Patriotismus beiträgt, dann wird, wie im November, das Narrativ eines spaltenden, rückwärtsgerichteten Patriotismus gewinnen.

Heute habe ich endlich verstanden, warum eine amerikanische Fahne am Vordach des Hauses meiner Mutter hängt. Und warum das nicht nur akzeptabel, sondern wichtig ist.

Rachel Tausendfreund ist Editorial Director des German Marshall Fund of the United States. Sie arbeitet in dessen Berliner Büro.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2017, S. 118-125

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