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29. Aug. 2019

Vier mal Neunundachtzig

1989, das Jahr der Wende in Osteuropa? Nicht nur. Das Jahr hat viele Geschichten geschrieben. Wer die Gegenwart verstehen will, muss sie alle kennen

Wenn wir im Westen in diesen Tagen der Ereignisse von 1989 gedenken, dann stoßen wir auf ein Problem: Die Geschichte, an die wir uns erinnern, stimmt nicht. Oder ist doch zumindest unvollständig. In dieser Geschichte gab es nur ein einziges 1989, eines, in dem die Demokratie über den Kommunismus siegte, die Mauer fiel und der Weg frei wurde für ein „ungeteiltes, freies Europa, in Frieden mit sich selbst“ (George W. Bush) und eine „neue Ära für die Demokratie“ (Charta von Paris).

Die polnische Revolution

Und doch leben wir heute nicht in einer Welt, in der wir das Ende der Geschichte erreicht haben. Das liegt mindestens teilweise daran, dass unser Blick auf 1989 zu einfach ist. Es gab nicht ein einziges „1989“, es gab vier. Und alle vier wirken bis heute nach – in einer Welt, in der das Schicksal der liberalen Demokratie sehr viel unsicherer erscheint als damals. „Unsere“ Sichtweise ist in vielerlei Hinsicht falsch, sogar in Bezug auf das „1989“, das für uns in Europa und den USA im Mittelpunkt steht.

Das fängt damit an, dass dieses 1989, der Zusammenbruch der sowjetischen Herrschaft über Europa, für uns eine deutsche Geschichte ist, wo es doch in Wahrheit eine polnische war. Timothy Snyder schrieb zum 20. Jahrestag von 1989 in der New York Review of Books, man solle nicht des Mauerfalls gedenken, wenn es um den Sieg der Demokratie über den Kommunismus gehe, sondern der polnischen Revolution. „Was in Polen vor der Öffnung der deutsch-deutschen Grenze geschah, war nicht das Vorspiel zu einer Revolution, sondern ihr erster und entscheidender Akt.“

Die Regierung, die nach dem überwältigenden Sieg von Solidarnosc im Juni 1989 gebildet wurde, gab „das Beispiel vor, dem man zunächst in Ungarn, dann in Ostdeutschland und dann in der Tschechoslowakei folgte“. Bei den Ereignissen in Osteuropa 1989/90 ging es nicht um den Fall einer Mauer, sondern um eine friedliche, politische Revolution im großen Maßstab. Eine Revolution, die die autoritäre kommunistische Herrschaft durch nationale Demokratien ersetzte. In unserer verkürzten Version wurde der wichtigste Akt der Geschichte allein durch das Finale ersetzt.

1989 – und damit kommen wir zum zweiten großen Fehler bei unserem Blick auf die Geschichte – war auch nicht der „entscheidende Sieg“, als der er etwa in der Nationalen Sicherheitsstrategie der USA von 2002 dargestellt wird. Der Westen hat den Kommunismus nicht besiegt. Er hat ihm standgehalten, ihn überstrahlt, ihn überdauert. Der Kommunismus wurde nicht von einem Präsidenten in Washington besiegt; er zerfiel, weil er gescheitert war. Daran gescheitert, Frieden und Wohlstand für seine Bürger zu schaffen. In dem Maße, wie unsere westlichen Gesellschaften mit wachsender Ungleichheit und sozialer Unzufriedenheit ringen und außerstande sind, die dringendsten Probleme unserer Zeit zu lösen, tun wir gut daran, unsere Erinnerung daran, wie der Kalte Krieg „gewonnen“ wurde, zu korrigieren.

Panzer gegen Studenten

1989 gab es weitere demokratische Proteste, die allerdings nicht friedlich endeten. Wenige Stunden vor dem Beginn der ersten freien Wahlen in Polen rollten chinesische Panzer auf den Platz des Himmlischen Friedens und schlugen die Studentendemonstrationen brutal nieder. Es war das Ende der letzten und größten Protestaktionen, die über Monate vielerorts in China die Legitimität der Kommunistischen Partei infrage gestellt hatten. Die Welt sah zu, wie an diesem 4. Juni Hunderte von Menschen getötet und Tausende verletzt wurden. Die Bilder der Studenten, die sich gegen die Panzer stellten, waren symbolisch nicht weniger bedeutsam als die späteren Bilder der Feiernden auf der Berliner Mauer. Erst in den Jahren danach setzte sich die optimistischere Version von „1989“ durch und prägte die Erwartungen des Westens gegenüber China.

Die politischen Entscheidungsträger im Westen waren mit dem sicher geglaubten Vormarsch der Demokratie, den das polnische 1989 anzukündigen schien, so intensiv beschäftigt, dass sie übersahen, dass Pekings 1989 andere und ausgesprochen tiefe Spuren hinterließ. Gideon Rachman schreibt dazu, es sei „Tiananmen“ gewesen, „das den Machterhalt der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) sicherte und so dafür sorgte, dass die aufsteigende Macht des 21. Jahrhunderts eine Autokratie blieb und keine Demokratie wurde.“ Auch prägt der „Tiananmen-Schock“ die Art, wie die KPCh seither ihre Macht sichert – indem sie für wirtschaftlichen Wohlstand sorgt und öffentlichen Widerspruch streng verbietet.

Das 1989 Pekings ist für unsere heutige Welt deswegen so wichtig, weil China Erfolg hatte, wo es hätte scheitern sollen, und weil dieser Erfolg so außergewöhnlich war. Wirtschaftliche Reformen ohne politische Reformen galten als unmöglich. Die Regierenden im Westen waren zutiefst davon überzeugt, dass eine offene Wirtschaft notwendigerweise zu einer offenen Gesellschaft führen würde. So erklärte George W. Bush im Jahr 2000, als es um Chinas Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation WTO ging: „Der Handel mit China wird die Freiheit voranbringen. (…) Wenn erst ein gewisses Maß an wirtschaftlicher Freiheit gewährt wurde, wird auch ein gewisses Maß an politischer Freiheit folgen.“

In Wirklichkeit folgte in China keine politische Freiheit. Selbst das Informationszeitalter änderte daran nichts. Stattdessen rühmt sich Peking heute eines erfolgreichen Überwachungsstaats, der dank Künstlicher Intelligenz noch besser funktioniert.

Zu allem Überfluss blieben dann auch noch die Wirtschaftsreformen aus. 19 Jahre nach Bushs Rede hat Chinas Mitgliedschaft in der WTO weder der Wirtschaft noch der Gesellschaft Chinas deutlich mehr Offenheit gebracht. Stattdessen ist die von der Partei dominierte Wirtschaft Chinas aufgeblüht, wie sich das niemand hätte vorstellen können. Die chinesische Wirtschaft ist heute so groß und so erfolgreich, dass sie das System eher zerstören würde als von ihm reformiert zu werden.

So hat sich die Tiananmen-Version von 1989 als dauerhaft und erfolgreich erwiesen. In dem Maße, wie Chinas Einfluss in der Welt wächst, wächst auch die Bedeutung dieser alternativen Lesart der Proteste.

Schöne neue Netzwelt

Bei der dritten Version von 1989 treffen das berauschende Hochgefühl der europäischen Ereignisse von 1989 und seine repressive chinesische Alternative in einer neuen Welt zusammen, der Online-Welt. Vielen ist das heute gar nicht mehr so recht bewusst, aber die Geburt des modernen Internets geht auf das Jahr 1989 zurück. Und in den Anfangsjahren dessen, was später als das World Wide Web bekannt werden sollte, war die Techno-Utopie (Karen Kornbluh), die sich auf die neue Technologie stützte, mit dem Optimismus der „neuen Ära“ der Demokratie durchaus vergleichbar.

Begonnen hatte das Internet in den 1960er Jahren als Projekt des US-Militärs, um die Kommunikation im Falle eines atomaren Blackouts zu sichern. Um das Jahr 1989 herum entstanden die ersten kommerziellen Einwahlverbindungen, die Nutzer mit dem Internet verbanden. Damit endete die Frühphase des Internets, die sich nach der Gestalt eines militärischen als wissenschaftliches Netzwerk entfaltet hatte. 30 Jahre später sind Internet und soziale Medien ein wichtiger Bestandteil nicht nur unseres Lebens geworden, sondern, wie wir feststellen mussten, auch unserer Wahlen und Demokratien.

Aufgrund seiner dezentralen Struktur galt das Internet lange als offene, demokratische Kraft, die imstande wäre, Machtgefälle auszuhebeln. Die Menschen knüpften direkte Kontakte über E-Mail und schufen ihre eigenen Webseiten und Blogs.

Doch heute wird das Online-Leben der Menschen von einigen wenigen, sehr großen Unternehmen bestimmt, die die Erfahrungen der Nutzer kontrollieren. Algorithmen bestimmen, was wir in unseren Search Feeds und Timelines sehen. Immer häufiger versorgen diese Plattformen uns sogar mit den von ihnen gefilterten Nachrichten; zugleich zerstört das Internet das Erlösmodell der Medien und damit der vierten Säule unserer Demokratie.

Hatte man sich vom Internet ursprünglich eine Ergänzung der etablierten Medien versprochen, die durch die Bürger bestimmt und von unten nach oben funktionieren würde, so haben wir es heute mit weit unerfreulicheren Entwicklungen zu tun. Die US-Datenexpertin Karen Korn­bluh skizziert sie so: „Propagandisten und Extremisten, die ihre Identitäten verbergen wollen, finanzieren zielgerichtete Werbung und schaffen Armeen von Bots für die sozialen Medien, um irreführende oder komplett falsche Inhalte zu verbreiten.“

Nicht nur für die Bürger demokratischer Staaten hat sich das Internet als eine Macht herausgestellt, die nicht unbedingt als Motor der Freiheit wirkt. 2011 feierten wir den Arabischen Frühling noch als Revolution der sozialen Medien, als ein gutes Zeichen für die Macht der Technologie, Diktatoren zu schwächen. Nur wenige Jahre später sehen wir, dass die autoritären Machthaber gelernt haben, sich die Technologie zur Kontrolle und Manipulation zunutze zu machen.

Vor allem in China ist es der Regierung gelungen, ein Internet zu schaffen, das der nationalen Zensur unterworfen ist. Hinzu kommen Apps, die es der Partei ermöglichen, die Online-Aktivitäten von Nutzern zu verfolgen – und ihnen dank der auf KI beruhenden Überwachungssysteme sogar offline nachzuspüren. Mittlerweile exportiert Peking seine Überwachungssysteme auch in andere Länder.

So kommt es, dass 30 Jahre, nachdem das moderne Internet Gestalt anzunehmen begonnen hatte, ein heftiger Konflikt über seine Ausrichtung herrscht. Dass wir nicht automatisch auf eine rosige Zukunft hinsteuern, wissen wir. Das Internet und andere Technologien werden nur so demokratiefreundlich sein, wie wir sie machen.

Zurück zur Nation

Mit dem vierten „1989“ kehren wir nach Europa zurück, wo auf die neuen Freiheiten Krieg folgte. In Jugoslawien brachten die Nachwehen der ­Revolution gegen die sow­jetkom­mu­nistische Herrschaft, anders als in den Nachbarländern im Norden, nicht auf Anhieb fundamentale Veränderungen. Aber sie sollten bald folgen.

Im Unterschied zu Mitteleuropa lastete auf Jugoslawien nicht das sowjetische Joch. Titos Version des Kommunismus hatte weit größere Freiheiten ermöglicht, einschließlich politischer Reformen. Jedoch machten sich in dem Vielvöl­kerstaat mittlerweile andere Kräfte bemerkbar. Im Mai 1989 wurde Slobodan Milosevic zum Präsidenten Serbiens gewählt. Wenig später hielt er seine berüchtigte ethno-nationalistische Rede am Gazimestan-Denkmal im Kosovo.

Milosevic war in dieser Hinsicht nicht allein. Wie der Journalist Paul Hockenos schreibt, „hießen die meisten Jugoslawen die neuen Möglichkeiten und Ideen willkommen, die aus der bröckelnden Fassade des Sozialismus hervorwuchsen, einschließlich der Freiheit, sich offener mit seiner Ethnizität zu identifizieren, sei es als Serbe, Kroate, Muslim, Slowene, Montenegriner, Mazedonier oder Kosovo-Albaner“.

Slowenien und Kroatien stellten sich Milosevics zentralistischer Politik entgegen und erklärten 1991 ihre Unabhängigkeit. Damit begann der erste einer Reihe von Territorialkriegen und ethnischen Konflikten, die ein Jahrzehnt dauerten, Jugoslawien zerstörten und 130 000 Menschenleben kosteten.

Der Ethno-Nationalismus war ein wichtiger Aspekt von 1989 – wichtiger, als in westlichen Darstellungen oft eingeräumt wird. Der serbisch-amerikanische Ökonom Branko Milanovic schreibt, die Revolutionen von 1989 sollten „als Revolutionen der nationalen Emanzipation“ angesehen werden, als „jüngste Manifestationen eines schon Jahrhunderte währenden Kampfes für Freiheit und nicht als demokratische Revolutionen per se“. In den Revolutionen in Polen, Deutschland und der Tschechoslowakei war es leicht, Nationalismus und Demokratie zu vereinen. „Selbst hartgesottene Nationalisten bedienten sich gerne der Sprache der Demokratie, da es ihnen international größere Glaubwürdigkeit gab, weil sie für ein Ideal zu kämpfen schienen statt für engstirnige ethnische Interessen.“

In Jugoslawien erstickte der Ethno-Nationalismus jeden Ansatz von Demokratie; die Ereignisse entwickelten sich ganz anders als in Mitteleuropa. Das Ergebnis ist, dass im westlichen Narrativ von 1989 Jugoslawien als Anomalie erscheint, als nationalistische Randnote. Heute ist es unmöglich geworden, den Klang dieser Randnote zu überhören, von Viktor Orbáns Ungarn über die Brexiteers mit ihrem Ruf nach Selbstbestimmung bis hin zu Trumps Forderung, „das Land zurückzuerobern“.

Geschichte voller Widersprüche

Die vollständige Geschichte von 1989 enthält mehrere widersprüchliche Elemente. Bevölkerungen können sich erheben und Selbstbestimmung und Freiheit fordern. Dies kann zu einem Dominoeffekt friedlicher politischer Revolutionen führen, die demokratische Regierungen an die Macht bringen. Es ist aber auch möglich, dass Aufstände von einer autoritären Regierung brutal unterdrückt werden. Und es ist weiter möglich, dass dieselbe Regierung trotz ihres rücksichtslosen Vorgehens bei ihrer Bevölkerung auf Jahrzehnte hinaus ein hohes Maß an Legitimität genießt, weil sie Stabilität und Erfolg verbuchen kann. Zuweilen können Forderungen nach Selbstbestimmung auch ins Hässliche drehen und den ethnischen Nationalismus wecken, der dann in die Gewalt führt. All dies wäre in einer vollständigen Geschichte von 1989 enthalten.

Die fraglos inspirierende Geschichte der polnischen Revolution und des Mauerfalls, des friedlichen Zusammenbruchs der sowjetischen Herrschaft in Europa sollte an ihrem 30. Jahrestag gefeiert werden, gewiss. Dieses Narrativ ist laut American Interest-Chefredakteur Damir Murasic eines, das „wichtige Wahrheiten über die Zeit enthält, die es versucht zu beschreiben“. Aber „wie alle guten Geschichten, die gut erzählt werden, hebt es einige Aspekte hervor und blendet andere aus“ Diejenigen Aspekte, die im ursprünglichen westlichen Narrativ von 1989 ignoriert wurden, bergen wichtige Wahrheiten. Sie können uns helfen, die vor uns liegenden Herausforderungen besser zu verstehen. Sie lehren uns Bescheidenheit, bewahren uns aber auch davor, die Hoffnung aufzugeben.

Der Sieg von Demokratie und Freiheit im Jahr 1989 war weniger eindeutig als unser ursprüngliches Narrativ uns glauben machen wollte, und auch die Zukunft war nicht so klar bestimmt. Aber heute, wo wir uns in einer schwierigeren Zukunft wiederfinden, dürfen wir auch nicht der Verführungskraft des Kulturpessimismus erliegen. Den „prognostischen Immer-Schlimmerismus“, den Thomas Kleine-Brockhoff in seinem in Kürze erscheinenden Buch „Die Welt braucht den Westen“ beschreibt, sollten wir uns nicht zu eigen machen.

Es hat sich lediglich herausgestellt, dass die Welt nicht zwangsläufig in Richtung Demokratie strebt – und dass auch das Internet kein automatischer Treiber für eine solche Entwicklung ist. Das Stammesdenken bleibt eine mächtige Kraft, auch in wohlhabenden Demokratien. Freiere Märkte müssen nicht zu freieren Völkern führen; Kapitalismus und Technologie vertragen sich ebenso gut mit autoritärer Herrschaft wie mit Demokratie. Und doch bleibt die Demokratie eine mächtige Idee, die auch heute und selbst in China Hunderttausende Menschen auf die Straße treibt.

Ja, auch Demokratien können scheitern, wenn sie ihre Versprechen nicht hinreichend erfüllen. Aber es muss nicht so kommen. Wenn wir wollen, dass Freiheit und Demokratie eine Zukunft haben, müssen wir daran arbeiten, sicherzustellen, dass die neuen Technologien diese Werte reflektieren und unterstützen. Und wir müssen daran arbeiten, Freiheit und Demokratie in unseren eigenen Gesellschaften zu stärken. Vom Polen des Jahres 1989 sollten wir gelernt haben, dass eine bessere Zukunft möglich ist. Nur geht das eben nicht ohne Mühe. Garantien gibt es nicht.

Rachel Tausendfreund ist Editorial Director beim German Marshall Fund of the United States (GMF).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2019, S. 58-63

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