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01. Apr. 2008

Was uns (nicht mehr) zusammenhält

Die politische Elite verliert an Bedeutung, die wirtschaftliche ihre Vorbildfunktion: Das fördert bedrohliche Desintegrationsprozesse

Ohne eine gewisse Verschlagenheit scheint die Politik nicht auszukommen. Doch das Ausmaß an Verlogenheit und Realitätsverdrängung, das derzeit in der SPD anzutreffen ist, geht weit über das Übliche hinaus.

So tönt der bayerische SPD-Vize Florian Pronold, der Orkan Emma habe „nicht nur ein paar Bäume ausgerissen, sondern auch die CSU“ – und verdrängt dabei, dass die bayerische SPD bei der Kommunalwahl im Vergleich zur letzten Kommunalwahl 175 000 und im Vergleich zur letzten Bundestagswahl sogar 560 000 Stimmen weniger erhalten hat. Und Kurt Beck glaubt allen Ernstes, die SPD habe mit Ausnahme von Niedersachsen keine Wahl seit 2005 verloren. Dabei verdrängt er, dass es der SPD bei keiner der neun Landtagswahlen gelungen ist, die wenigen ihr im September 2005 bei der Neuwahl des Bundestags verbliebenen Wähler wieder zum Gang zur Wahlurne zu bewegen. In der Summe der neun Landtagswahlen erhielt die SPD über 2,7 Millionen Stimmen weniger als 2005 – ein Wählerschwund von mehr als einem Drittel. Und wenn Andrea Ypsilanti ihren Anspruch auf das Amt des hessischen Ministerpräsidenten damit begründete, sie habe die hessische SPD wieder „zusammengeführt“, verdrängt sie, dass nur 23 von 100 Wahlberechtigten sie gewählt haben, also 77 Prozent aller Wahlberechtigten ihr die Stimme verweigerten. Die nordrhein-westfälische SPD-Vorsitzende Hannelore Kraft sieht kein „Glaubwürdigkeitsproblem“ bei Kurt Beck und verdrängt dabei, dass ihn nur noch 32 Prozent aller Bundesbürger (und sogar nur 43 Prozent der SPD-Anhänger) ernst nehmen und ihn die übergroße Mehrheit von 86 Prozent (sowie 76 Prozent der SPD-Anhänger) nicht für kanzlerfähig hält.

Nun könnte man das rapide schwindende Vertrauen zur SPD als deren internes Problem abtun, das keinerlei Auswirkungen auf die Gesellschaft an sich hat. Doch auch die CDU entwickelt keine Bindekraft mehr. In der Summe der neun Landtagswahlen haben die CDU nur noch 21 von 100 Wahlberechtigten gewählt. Zusammen haben sich bei den Wahlen seit 2005 nur noch 39 Prozent aller Wahlberechtigten für eine der beiden Volksparteien entschieden; 61 Prozent haben gar nicht oder eine der kleinen Parteien gewählt.

Der sich in diesen Zahlen manifestierende große Bedeutungsverlust der Politik könnte immer noch ohne Folgen für die Gesellschaft insgesamt bleiben, wenn die übrige Elite im Land intakt wäre. Doch auch da steht es nicht zum Besten, wie der Fall Zumwinkel drastisch offenbart hat. Es war nicht nur sein privates Fehlverhalten in Sachen Steuerehrlichkeit, das die Deutschen als skandalös empfinden. Ebenso entsetzt sind sie über die Art und Weise, wie Manager wie er ehedem öffentliche Dienstleistungen privatisiert haben. Da wurden die Menschen ihrer Briefkästen vor der Haustür und ihrer Postfiliale in der Nachbarschaft beraubt, und die Oma kann einen Nachsendeantrag nur noch per Internet oder gar nicht stellen. Diese Art von Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen, bei der nicht mehr die Versorgung der Bevölkerung, sondern die Profitmaximierung der Unternehmen und ihrer Manager im Vordergrund steht, hat die Menschen zutiefst enttäuscht.

Die geschwundene Bindekraft der Politik und ihrer Institutionen in Kombination mit dem Versagen weiter Teile der gesellschaftlichen Eliten führt bei der Bevölkerung zu dem Gefühl, dass sie von dort keinerlei Orientierung mehr erhält. Die Elite hat weitgehend jede Vorbildfunktion verloren; sie steht nicht mehr für die – für den Zusammenhalt einer Gesellschaft wichtigen und erforderlichen – öffentlichen Tugenden.

Die Deutschen fühlen sich nicht nur weitgehend allein gelassen, sie beginnen, ihr Verhalten an das ihrer politischen und wirtschaftlichen Eliten anzupassen. Die Folge sind soziale Desintegrationsprozesse in einem lange nicht mehr gekannten Ausmaß. Denn auch für die Bürger spielen öffentliche Werte im Alltag eine immer geringere Rolle. Normen, die für das Zusammenleben und den Zusammenhalt einer Gesellschaft wichtig sind, werden immer weniger beachtet. Gerade bei jungen Menschen treten Individualisierung und extreme Selbstverwirklichung an die Stelle von gesellschaftlichem Bewusstsein. Die „Ellbogengesellschaft“ ist für einen großen Teil der Bundesbürger Realität geworden.

Dass die Integrationskraft der Gesellschaft abnimmt, zeigt sich an vielen Indikatoren, etwa bei der Integration ausländischer Bevölkerungsgruppen. Im Sprachgebrauch ist zwar der Begriff „Ausländer“ getilgt und durch den beschönigenden Begriff „Personen mit Migrationshintergrund“ ersetzt worden; doch mit solchen Mätzchen ändert man nichts an der gesellschaftlichen Realität. Und die sieht so aus, dass die in der Vergangenheit bei den verschiedensten Einwanderergruppen (Italiener, Portugiesen, Griechen und zuletzt bei weiten Teilen der Türken) mit mehr oder weniger großer Zeitverzögerung letztlich gelungene Integration heute nicht mehr funktioniert. Im Gegenteil: Auch hier sind Desintegrationsprozesse zu beobachten. So sehen etwa bei jüngsten Umfragen 40 Prozent der in Deutschland geborenen jungen Türken mit deutscher Staatsbürgerschaft nicht Angela Merkel, sondern Recep Tayyib Erdogan als ihren Regierungschef an; bei den älteren Türken sind es nur 35 Prozent. Das ist ein weiteres von vielen beunruhigenden Warnzeichen.

MANFRED GÜLLNER, geb. 1941, ist Gründer und Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts forsa und Honorarprofessor an der FU Berlin.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, April 2008, S. 80 - 81

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